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Michaela Lindinger, 25.6.2020

Tätowierungen im 19. Jahrhundert

Ein Anker für die Ewigkeit

Im Mittelwert sind gegenwärtig in Europa 2500 von 10.000 Personen tätowiert – Tendenz stark steigend, vor allem bei Frauen. Vor 150 Jahren grassierte es auch schon: das Tattoofieber. Es stieg zum Symbol der Revolutionäre auf, die gegen Könige und Tyrannen für die Freiheit kämpften – und erreichte schließlich auch den Hochadel selbst. 

„Der moderne mensch, der sich tätowiert, ist ein verbrecher oder ein degenerierter. Es gibt gefängnisse, in denen achtzig prozent der häftlinge tätowierungen aufweisen. Die tätowierten, die nicht in haft sind, sind latente verbrecher oder degenerierte aristokraten. Wenn ein tätowierter in freiheit stirbt, so ist er eben einige jahre, bevor er einen mord verübt hat, gestorben.“

 

Das schrieb Adolf Loos im Jahr 1908. Der Architekt und Designer war absolut kein Freund einer ganz besonderen Modeerscheinung seiner Zeit. Die Leute ließen sich in großem Stil tätowieren, weltweit, auch einige Frauen waren darunter. Es war allerdings bereits im Jahr 1774, als der britische Weltumsegler James Cook einen tätowierten Mann aus der Südsee in Europa zur Schau stellte. Im Einklang mit den damals viel beschworenen „edlen Wilden“, der – ähnlich wie heute – Sehnsucht nach dem „Ursprünglichen“ und der Vision von „Utopia“ wurde das „Tattaw“ ein Symbol des Exotismus: Es gehörte zum archaischen – nun positiv besetzten – Urbild des Menschen, vorgeführt als pures Gegenteil des vom Absolutismus geknechteten Bürgers. Und es stieg zum Symbol der Revolutionäre auf, die gegen Könige und Tyrannen für die Freiheit kämpften.

Gelegentlich hielten die Tattooträger ihre Leidenschaft geheim. Jean-Baptiste Bernadotte wurde 1818 als Karl XIV. Johann König von Schweden. Er ist der Stammvater des bis heute regierenden schwedischen Königshauses der Bernadotte und trug als Tätowierung die Worte „Tod dem König“. In seinem früheren Leben war er nämlich französischer Revolutionsgeneral gewesen; und danach Kriegsminister unter Napoleon. Neben diesem für sein späteres Amt etwas unpassenden Tattoo trug er auch noch – wie viele Soldaten - sein Geburtsdatum, seine Initialen und einen Totenkopf als Körperzeichen. Sämtliche Tätowierungen wurden erst nach seinem Tod entdeckt, da er sie zeit seines Lebens gut zu verbergen gewusst hatte. Auch den Ärzten hatte er stets verboten, seinen Oberkörper zu untersuchen.

Seemänner als Vorreiter

Als die 18jährige Queen Victoria im Jahr 1837 ihr Amt antrat hieß es: „Es wird jedem Seemann ans Herz gehen, für eine so junge Königin zu kämpfen. Sie werden sich ihr Gesicht auf die Arme tätowieren lassen.“ Seemänner waren ohnedies schon seit dem 18. Jahrhundert Vorreiter der Tattoowelle. Sie ließen sich die Zeichen auf ihren Reisen stechen, entweder von Künstlern in der Südsee selbst oder in den Hafenkneipen sämtlicher Kontinente. Die Museen großer Hafenstädte wie Hamburg oder Rotterdam zeigen Fotos von Matrosen um 1880/90, alle mit volltätowierten Armen und/oder Oberkörpern.

Im amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) standen die Tätowierungen der Soldaten für Stolz und Patriotismus; sie hatten aber auch einen ganz praktischen Wert. Martin Hildebrandt war ein Einwanderer aus Deutschland, der zu den ersten gehörte, die in New York einen „Tattoo Parlour“ eröffneten. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Tattoos in den USA in erster Linie noch mit Geheimpraktiken assoziiert, bestenfalls noch zusätzlich mit Zirkus, fernen „Primitivkulturen“, einfachem Schiffsvolk und den American Natives. Doch Hildebrandt erzählte einem Journalisten, dass er beobachte, wie sich die Einstellung der „normalen“ Bürger zu den Tattoos allmählich verändere. Manche würden sich sogar regelrecht dafür begeistern. Mitglieder der Freimaurer und anderer „Geheimgesellschaften“ seien mit speziellen Zeichen tätowiert, so Hildebrandt. Er selber habe hoch- und niedrigrangige Menschen tätowiert, von Mechanikern bis zu „real ladies“, wie er sich ausdrückte. Als Soldat im Bürgerkrieg konnte er seine Kameraden mit dem Tätowieren vertraut machten. „Übungsobjekte“ gab es mehr als genug. Tausende Soldaten und Seeleute habe er tätowiert, berichtete er: „Im Krieg habe ich keine freie Minute gehabt.“

So offen äußerte sich kaum ein Tätowierer aus den Jahren des Bürgerkriegs, doch muss es mehrere Vertreter dieses Berufsstandes gegeben haben. Denn Tattoos wurden in diesen Jahren „Mainstream“ in der US-Geschichte. Während Hautzeichen davor hauptsächlich unter Seeleuten üblich waren, brachten im Bürgerkrieg viele ihre politische Einstellung auch direkt am Körper zum Ausdruck. Uniformen und Auszeichnungen konnten entfernt werden, doch die Zeichen überdauerten. Daher wurde Hildebrandt oft gebeten, Namen und Geburtsdatum seiner Klienten zu tätowieren. Viele Soldaten konnten so identifiziert werden, nachdem sie verwundet oder gar getötet worden waren. Es war, als schreibe man sein eigenes Epitaph, so ein Forscher. Das Tätowieren war damals eine relativ langwierige und eher schmerzhafte Prozedur, für einen Namen auf dem Arm etwa brauchte der Tätowierer eine Stunde. Die Farbe bestand hauptsächlich aus nassem Schießpulver. Oft schwoll der Arm in der Folge stark an und die Wunden entzündeten sich. Zur Vorbeugung wurde die tätowierte Hautpartie mit Wasser, Urin und Rum gereinigt.

Die lange Geschichte der Tattoos im militärischen Bereich reicht bis ins antike Rom zurück. Dort wurden Soldaten mit einer Mixtur aus Akazienrinde, Bronze und Schwefelsäure tätowiert. In erster Linie diente dies der Identifizierung von Deserteuren. Der angelsächsische König Harald II. war zwar kein Deserteur, doch wurde er in der Schlacht bei Hastings 1066 so stark verstümmelt, dass ihn seine Lebensgefährtin nur anhand seiner Tätowierung „Eadgyth and England“ erkennen konnte.

Obwohl also Tattoos in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits verbreitet waren: Man sah sie meist nicht, da ihre Trägerinnen und Träger sie unter ihrer Kleidung verbargen. Sichtbare Tätowierungen waren die große Ausnahme und galten als „seltsam“. So tourte etwa die Tochter des Tätowierers Hildebrandt mit einem Zirkus durch die Lande und stellte ihre geschmückte Haut gegen Geld zur Schau. Die meist tätowierte Frau um 1900 war ebenso Amerikanerin und mit einem Zirkustrupp unterwegs. Sie hieß Maud Stevens, lernte Gus Wagner, wieder einen aus Deutschland eingewanderten Artisten, kennen und schließlich verdienten sich die beiden ihren Lebensunterhalt als fahrende Tätowierer. Sie sind zusammen in Kansas beigesetzt. Während die tätowierten Männer hauptsächlich unter Vaganten, Handwerkern und Seefahrenden zu finden waren, tauchten die tätowierten Frauen vor allem im Umfeld der Wanderzirkusse und Vergnügungsshows auf. Das erotische Moment spielte hier eine Hauptrolle. Die japanische Tradition kennt den Zusammenhang zwischen Lust und Schmerz (beim Stechen), wie es beispielsweise im Film „Die tätowierte Frau“ (1982) zu sehen ist. Es geht darum, dass eine Frau während des zeremonienhaften Vorgangs des Tätowierens zu einem neuen Körper- und Selbstbewusstsein findet. Das Stechen steht für eine „Wandlung“, eine Initiation im Sinn des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan: Er spricht vom Einschneiden der Haut als vom „Anderen“.

„Degenerierte Aristokraten“

Die bekanntesten Tattoo-Träger unter den von Loos als „degenerierte Aristokraten“ verspotteten Habsburgern waren Kronprinz Rudolf, die Erzherzöge Otto und Franz Ferdinand sowie Rudolfs Mutter Kaiserin Elisabeth. Wo sie sich ihr Tattoo stechen ließ wissen wir nicht, vermutlich auf einer ihrer zahlreichen Seereisen in einer Hafenkaschemme in Südfrankreich oder Griechenland. Auf jeden Fall war sie schon über 50 Jahre alt, als sie sich für das klassische Motiv eines Ankers auf der Schulter entschied. Ihre Untertanen ahnten nichts vom Körperschmuck ihrer Monarchin. Elisabeths Tochter Marie Valerie und Kaiser Franz Joseph reagierten entsetzt und „weinten“ wegen der „Verstümmelung“, wie Marie Valerie in ihrem Tagebuch festhielt. Für die depressive Elisabeth stand das Motiv vor allem für die letzte Reise und den „ewigen Anker“, den Tod.

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Noch 1976 konnte man in einer juridischen Dissertation lesen, dass „Tätowierungen in der Regel ein Indiz für kriminelles Verhalten sind.“ Mittlerweile sind sogar im Polizeiberuf Tattoos erlaubt. Dass der dauerhafte Körperschmuck in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, beweisen auch die zahlreichen Tattoo-Shows im TV. Oft geht es darum, wie man unerwünschte Motive wieder los wird.

Gut überlegen sollte man es sich also schon.
Aber sonst kann man sich ruhig trauen. Es tut auch kaum weh.

Michaela Lindinger, Kuratorin, Autorin. Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Politikwissenschaft, Ägyptologie und Ur- und Frühgeschichte an der Universität Wien. Seit 1995 kuratorische Assistentin, seit 2004 Kuratorin im Wien Museum. Ausstellungen und Publikationen zu biografischen und gesellschaftlichen Themen, Frauen- und Gender-Geschichte, Porträts, Wien-Geschichte, Tod und Memoria, Mode.
 

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Kommentare

Redaktionsteam Wien Museum Magazin

Sehr geehrte Petra, danke für Ihren freundlichen Hinweis und dass Sie unser Magazin lesen!

Petra

Ich empfehle Frau Lindinger das Tagebuch von Erzherzogin Marie Valérie richtig zu lesen.
3.12.1888
...als Papa eintrat und mich fragte, ob ic wohl schon über die furchtbare Überraschung geweint habe, dass sich nämlich Mama einen Anker auf der Schulter einbrennen ließ, was ich sehr originell und gar nicht entsetzlich finde.
Martha Schad, Hrsg. Tagebuch Erzherzogin Marie Valérie

Ich komme daher zu dem Schluss, dass die Tochter das Tattoo durchaus originell fand Außerdem war es nicht gestochen, sondern gebrannt. Ein Unterschied.

Michael Martischnig

Zur Korrektur über japanische Tätowierung möchte ich Frau Lindinger empfehlen: M. Martischnig: Tätowierung ostasiatischer Art. (Österr. Akad. d. Wissenschaften, phil.hist. Kl., Sitzungsber. 495) Wien 1987 samt gleichnamigen Filmdokument.
Allgemein: M. Martischnig: Jung samma, fesch samma..." Kleidung und Verkleidung heutiger Jugendlicher als Paradimen für ihr Kulturverhalten. In: Herbert Janig, Peter C. Hexel, Kurt Luger, Bernhard Rathmayr ed., Schöner Vogel Jugend. Analysen zur Lebenssituation Jugendlicher. Linz 1988, 284-311.
MfG MM