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Peter Stuiber, 11.1.2024

Kafka in Kierling

Vom Verstummen

Am 3. Juni 2024 jährt sich der Todestag von Franz Kafka zum 100. Mal. Das heurige Jahr lenkt den Blick einmal mehr auf den kleinen Ort Kierling bei Klosterneuburg, wo der Schriftsteller die letzten Wochen bis zu seinem Tod in einem Privatsanatorium verbrachte. Das Haus blieb nahezu unverändert und beherbergt eine kleine Gedenkstätte.

Wie kam Kafka ausgerechnet nach Kierling? Der Schriftsteller litt seit 1917 an Tuberkulose, deren Folgen er mit mäßigem Erfolg auch bei diversen Kuraufenthalten zu lindern suchte, wobei er schulmedizinischen Ansätzen lange Zeit sehr skeptisch bis ablehnend gegenüberstand. Im Herbst 1923 verschlechterte sich sein Zustand zunehmend. Dabei hatte er gerade kürzlich – mit vierzig Jahren – einen radikalen Neuanfang gewagt: Er war zu Dora Diamant, die er erst im Sommer kennengelernt hatte, nach Berlin gezogen und damit erstmals dem Elternhaus in Prag entkommen. Und er führte die von ihm so lange ersehnte Existenz als „freier Schriftsteller“ (und war zugleich krankheitsbedingt pensionierter Versicherungsbeamter). So ging es einige Monate, eher der körperliche Verfall nicht weiter vor der Familie und den Freunden verheimlicht werden konnte. Man holte den Schwerkranken zunächst heim nach Prag und schickte ihn dann in das berühmte Sanatorium Wienerwald bei Pernitz (NÖ), eine luxuriöse Heilstätte, deren Vorbilder im Schweizerischen Davos zu finden waren (und die in der NS-Zeit als „Lebensborn“-Heim fungierte). Dort wurde Kehlkopftuberkulose diagnostiziert, gleichsam ein Todesurteil.

Es folgte ein neuntägiger Aufenthalt im Allgemeinen Krankenhaus, und zwar an der Laryngologischen Klinik des Spezialisten Prof. Markus Hajek. Operieren konnte man Kafka aufgrund seines schlechten Zustandes nicht, die Behandlungen waren qualvoll, die Atmosphäre für den Schriftsteller ebenso – und Wien war ihm ohnehin ein Graus. Gegen ärztlichen Rat verließ der Schriftsteller am 19. April das Krankenhaus und nahm mithilfe von Dora Diamant noch einen letzten strapaziösen Transport auf sich: nach Kierling.

Doch warum ausgerechnet ins dortige „Sanatorium Dr. Hoffmann“? Das Leben des Prager Dichters wurde zwar bis in die kleinsten, intimsten Details ausgeleuchtet, doch diese Frage blieb bislang unbeantwortet. Möglicherweise lagen im Allgemeinen Krankenhaus einfach Prospekte der Einrichtung auf, mutmaßt Manfred Müller, Leiter der Österreichischen Gesellschaft für Literatur und Präsident der Österreichischen Franz Kafka Gesellschaft. Jedenfalls habe es mit Sicherheit keine medizinischen Gründe dafür gegeben, denn das kleine Sanatorium war nichts anderes als das erweiterte Wohnhaus des praktischen Arztes Hugo Hoffmann. Aber genau das wollte der Todkranke offenbar: Privatsphäre, Ruhe, Rückzug, Sonne, frische Luft. Sein kleines Einzelzimmer inklusive Balkon mit Blick auf eine waldige Anhöhe muss im Vergleich zum Sechsbettzimmer im AKH eine enorme Erleichterung gewesen sein. Außerdem konnte auch Dora Diamant ein kleines Zimmer im Haus beziehen und Kafka fortan rund um die Uhr betreuen (und bekochen), bald kam auch Kafkas „letzter Freund“ hinzu, der Medizinstudent Robert Klopstock, der dem Schriftsteller ebenfalls bis zu seinem Tod nicht von der Seite wich (und selbst an Tuberkulose litt, aber Kafka um fast fünfzig Jahre überlebte).

Ab dem 19. April 1924 wohnte Kafka also in dem unauffälligen Haus in Kierling – liebevoll umsorgt, aber von Schmerzen geplagt und zuletzt mit Morphium vollgepumpt. Hier starb er am 3. Juni 1924. Danach wurde sein Leichnam per Zug nach Prag gebracht, wo er am Neuen jüdischen Friedhof bestattet wurde. „Kierling bei Klosterneuburg ist durch ihn in die Literaturgeschichte gekommen“, schrieb Anton Kuh in einem Nachruf in „Die Stunde“. Kafka war zum Zeitpunkt seines Todes keineswegs ein Unbekannter, aber die Würdigungen hielten sich dennoch in Grenzen. In Wien wie in Kierling. Als dann nach dem Zweiten Weltkrieg die erste weltweite Rezeption von Kafkas Werken einsetzte, begann man sich auch in der kleinen Ortschaft an den berühmten Gast zu erinnern, erzählt Manfred Müller.

Es war ein gewisser Hans Gruber, ein Bezirksschulinspektor in Klosterneuburg, der sich dafür einsetzte, dass Kafka vor Ort entsprechend gewürdigt wird. Zunächst mit mäßigem Erfolg. Doch 1979 wurde schließlich die Österreichische Franz Kafka Gesellschaft gegründet, mit einem zugkräftigen Promotor an der Spitze: Wolfgang Kraus, Gründer und Leiter der Österreichischen Gesellschaft für Literatur. In der Folge wurden ein Kafka-Preis initiiert, ein Denkmal in Kierling errichtet, Symposien abgehalten, ein Gedenkraum für Veranstaltungen und kleine Ausstellungen eingerichtet und schließlich auch das einstige Sanatoriumsgebäude unter Denkmalschutz gestellt.

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Dass nach 1989 Kafka in Prag eine gewaltige Renaissance erlebte und seine Geburtsstadt ihn für sich reklamierte, machte die Arbeit in Kierling nicht einfacher. Kafka – ein Österreicher? Was für Wolfgang Kraus noch selbstverständlich erschien, war nur noch schwer zu argumentieren – spätestens als dem Dichter in seiner Heimatstadt ein eigenes Museum eingerichtet wurde. Die Unterstützung für die kleine Gedenkstätte schwand jedenfalls ab den 2000er Jahren zunehmend, die finanzielle Lage wurde immer prekärer, eine Kündigung der angemieteten Räumlichkeiten war schon eingeleitet, ehe schließlich doch noch die Rettung gelang.

Dass die Gedenkstätte fast zusperren musste, erscheint rückblickend absurd. Nicht nur weil der weltberühmte Schriftsteller in Kierling seine letzte Zeit verbrachte und hier starb. Sondern weil es sich bei dem Haus um den einzig original erhaltenen Kafka-Erinnerungsort handelt, wie Manfred Müller erklärt. „Die wichtigen Kafka-Orte in Prag sind ja stark verändert oder nicht zugänglich. Insofern ist das hier schon etwas Besonderes. Auch weil von den vielen Sanatorien, die es damals hier in der Gegend gab, fast alle verschwunden sind.“

Womit wir auch schon beim ersten Grund sind, den Studien- und Gedenkraum zu besuchen: die Atmosphäre des Hauses. Man betritt diese Zeitkapsel wie Kafka vor hundert Jahren: Fassade, Stiegenhaus, Böden und Wände sind nicht modernisiert worden.

Der Blick Richtung Garten und Wald ist nahezu derselbe, auch die Nachbarschaft hat sich kaum verändert (statt einer Lagerhalle rechts ist nun zum Beispiel eine „Hofer“-Filiale, aber immerhin nur in etwa gleicher Größenordnung). „Hinten im Garten gibt´s ein Tor mit einer Beschriftung Sanatorium. Durch dieses Tor sind Dora Diamant und Robert Klopstock mehrmals täglich gegangen, über die Brücke über den Bach und dann runter ins Dorf, etwa zur Post oder um Besucher abholen", so Müller. Welches Zimmer Kafka bewohnt hat, ist heute nicht mehr zu eruieren – die historischen Quellen geben hier widersprüchliche Hinweise. Sicher ist, dass er im 2. Stock wohnte, wo sich auch die Gedenkräume befinden; der Rest ist nach wie vor Wohnhaus.

Von der einstigen Sanatoriumseinrichtung ist freilich nichts mehr übriggeblieben, sie wurde mit dem Rückbau in ein Wohnhaus 1928 (nach dem Tod von Dr. Hoffmann) entsorgt – vermutlich auch aus hygienischen Gründen, so Manfred Müller. „Es gibt auch keine Akten, kein Krankenarchiv.“ Einzig eine mutmaßlich zeitgenössische Badewanne ist bis heute in einem kleinen Kammerl verräumt geblieben. Der einstige Aufzug – ohne den Kafka das Haus aufgrund seiner Schwäche nicht hätte verlassen können – wurde zurückgebaut.

Die Dauerausstellung in ehemaligen Behandlungsräumen des Sanatoriums ist ebenso den Besuch wert. Sie wurde 2014 zum 90. Todestag des Dichters eingerichtet. Man hat bewusst darauf verzichtet, hier Historisches nachzustellen. Als Originalobjekte sind nur ein zeittypisches Krankenbett aus den 1920er Jahren sowie ein Kehlkopfspiegel und eine Pinselspritze, die der Kafka-Gesellschaft vom AKH geschenkt wurden, ausgestellt. „Mit der Pinselspritze wurde Kafka zur Schmerzlinderung zuerst Menthol, dann Silberoxidlösungen sowie in immer größeren Dosen auch Kokain in den Kehlkopf injiziert“, schildert Müller die Behandlung des Patienten, dem außerdem eine Schweigekur verordnet wurde: Daher verständigte er sich mittels jener Gesprächszettel, die (zusammen mit Briefen und anderen Dokumenten) einen sehr genauen Einblick in die letzten Lebenswochen des Dichters geben, die im Mittelpunkt der kleinen Präsentation stehen.

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Blick in den ersten Raum der Gedenkstätte, Foto: Klaus Pichler

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Raumansicht mit zeitgenössischen Aufnahmen von Kierling, Foto: Klaus Pichler

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Krankenbett aus den 1920er Jahren mit dem Verlauf von Kafkas Fieberkurve von seinem Aufenthalt im Allgemeinen Krankenhaus von 10. bis 19. April 1924, Foto: Klaus Pichler

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Blick in Richtung des zweiten Raumes mit einem Teil der Fachbibliothek, Foto: Klaus Pichler

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Lampe mit stilisierten Gesprächszetteln Kafkas aus seinen letzten Lebenswochen, Foto: Klaus Pichler

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Als Faksimile zu sehen ist jene Fieberkurve, die aus der vorhergehenden Behandlung im Allgemeinen Krankenhaus stammt und gemeinsam mit fachärztlichen Befunden den aussichtslosen Zustand des Patienten vor Augen führt. Historische Fotos von Kierling und dem Sanatorium sowie Zitate, etwa aus Briefen von Kafka und Dora Diamant, vermitteln einen Eindruck der Situation, deren Tragweite der Schriftsteller gegenüber seiner Familie so lange wie möglich verheimlichen wollte. Etliche Wiener Fachärzte reisten nach Kierling, ohne etwas ausrichten zu können. Schon bald war Kafka so schwach, dass er nicht mehr in der Lage war, sein Zimmer verlassen. Die Nahrungsaufnahme fiel ihm schwer, die verzweifelte letzte Hoffnung auf Besserung schwand. „Noch bis zum vorletzten Tag seines Lebens hat Kafka die Fahnen zu einem Erzählband korrigiert, der dann zwei Monate nach seinem Tod erschienen ist“, erzählt Müller. Wer sich in die biografischen Details oder in die Wirkungsgeschichte des Schriftstellers vertiefen will, dem steht in Kierling eine mehrere hundert Bände umfassende Fachbibliothek zur Verfügung.

Die Kafka-Gesellschaft arbeite, so Müller, mit unterschiedlichen Kooperationspartnern an einigen Projekten für das Gedenkjahr, etwa an einer Podcast-Serie, an einem Symposion in Krems, an Vermittlungsprogrammen für Schulgruppen aus der Umgebung und an einer Ausstellung in Venedig mit künstlerischen Arbeiten, die sich auf die Gesprächszettel Kafkas beziehen. „Außerdem wird der renommierte Kafka-Preis erstmals seit 2001 wieder vergeben“, freut sich Müller. Ob er fürchte, dass der kleine Gedenk- und Studienraum, der jeweils samstags für ein paar Stunden geöffnet ist, im heurigen Kafka-Jahr überrannt wird? „Natürlich besteht ein bisschen die `Gefahr`“, so Müller. „Wir haben zwar auch in regulären Jahren immer wieder Reisegruppen, aber die sind normalerweise die Ausnahme.“ Sollte sich die Nachfrage erheblich steigern, werde man weitere Öffnungen anbieten.

Ein spezielles Jahr also für eine kleine museale Einrichtung, die zwar regional noch immer wenig Beachtung findet, dafür aber Fans aus aller Welt anzieht. Manfred Müller erinnert sich ebenso an einen Kafka-Verehrer aus dem pazifischen Inselstatt Tuvalu wie an einen Zahnarzt aus Japan, der eine zehntätige Europareise unternahm. Er reiste von Budapest nach Kierling, um Kafkas Sterbeort zu sehen. Ein anderer Ort in Österreich stand nicht auf seinem Programm.

Links und Literaturhinweise

Die Franz Kafka-Gedenk- und Studienraum in Kierling ist derzeit jeden Samstag von 10 bis 13.30 bzw. 14 Uhr geöffnet. Nähere Informationen hier

Die Literatur zu Frank Kafka ist überbordernd. Unbedingt zu nennen sind die dreibändige Biografie von Reiner Stach sowie die Publikationen von Hartmut Binder, der u.a. ein umfangreiches Buch zu Kafka und Wien publiziert hat. Ein Standardwerk zu Kafkas letzten Jahren, der Band „Das Leben, das mich stört“ von Rotraut Hackermüller, ist 1984 im Medusa Verlag erschienen und nur noch über Bibliotheken oder antiquarisch greifbar.  Dora Diamant war seit Sommer 1923 die Frau an der Seite Kafkas und begleitete ihn bis zu dessen Tod. Kürzlich ist ein kompakter Band zu dieser Beziehung im Verlag ebersbach & simon erschienen: „Anders leben. Franz Kafka und Dora Diamant“ von Dieter Lamping. Eine umfangreichere Darstellung bietet die Publikation „Kafkas letzte Liebe“ von Kathi Diamant, erschienen im Verlag Onamoto.

In den letzten Lebenswochen war auch der Medizinstudent Robert Klopstock an Kafkas Seite. Der kommentierte Nachlass Klopstocks ist unter dem Titel „Kafkas letzter Freund“ (bearbeitet von Christopher Frey und Martin Peche, Hg.: Hugo Wetscherek) vom Antiquariat Inlibris publiziert worden. Manfred Müller, der Präsident der Österreichischen Franz Kafka-Gesellschaft, veröffentlicht im März den Band „Kafka träumt“ bei Jung und Jung. Mit den Briefen aus den Jahren 1921–1924 (Hg.: Hans-Gerd Koch) schließt der S. Fischer Verlag im Herbst 2024 seine kritische Gesamtausgabe der Werke Franz Kafkas ab. Die Fotos von Klaus Pichler, die für diesen Beitrag verwendet wurden, entstanden für den Band „Hier ist Literatur! Reisen zu literarischen Erinnerungsorten in Niederösterreich“ (Hg.: Helmut Neundlinger, Julia Stattin, Katharina Strasser und Fermin Suter), erschienen in der Literaturedition Niederösterreich.

Peter Stuiber studierte Geschichte und Germanistik, leitet die Abteilung Publikationen und Digitales Museum im Wien Museum und ist redaktionsverantwortlich für das Wien Museum Magazin.

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