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Peter Stephan Jungk, 30.4.2024

Wiener Zeitfenster – Erinnerungen an Helmut Qualtinger

Der Quasi und sein Hilfssheriff

Der Schriftsteller und Filmemacher Peter Stephan Jungk hat zweimal längere Zeit in Wien gelebt: Als Kind und Jugendlicher in den 1950/60er Jahren, dann wieder in den 1980er Jahren. In einer losen Serie von Beiträgen erinnert er sich an diese biografisch-historischen Zeitfenster. Dieses Mal geht´s um Helmut Qualtinger.

Wien und der „Quasi“: das gehört zusammen, wie München und Karl Valentin, wie Hollywood und Billy Wilder. Meine Kindheitserinnerungen an Helmut Qualtinger sind schemenhaft, sie spielen vor allem in Gastgärten, in Grinzing. Große Runden sitzen beisammen, aber wer diese Damen und Herren waren, die mich da umringten, habe ich erst Jahre später erfahren: der Bildhauer Fritz Wotruba, der Dichter Erich Fried, der Schriftsteller Elias Canetti, die Schriftstellerin Dorothea Zeeman, Geliebte Heimito von Doderers. Alle lachten, ich verstand nicht, warum. Der dicke Mann in ihrer Mitte brachte sie alle zum Lachen; aber warum? Der Psychiater Friedrich Hacker – zu Besuch in seiner Heimatstadt – lachte auch. Seine Lebensgefährtin, die Stasi, flüsterte mir zu: Der Quasi ahmt Leute nach, die wir alle kennen. Jetzt gerade kopiert er eine berühmte Schauspielerin, die Paula Wessely.

Ich kannte ihn also, solange ich mich zurückerinnern kann, er war als Freund meiner Eltern Teil meines Aufwachsens in Wien. Als ich Mitte der 1970er Jahre in Los Angeles studierte, kam Qualtinger an das German Department der University of Southern California, um aus eigenen und den Werken anderer österreichischer Autoren zu lesen, blieb zwei Wochen in der Stadt. Ich begleitete ihn nahezu täglich, chauffierte ihn in meinem verbeulten Rambler, Baujahr 1965, durch Endlos-Angeles. Er fühlte sich wohl, sagte er, wie selten zuvor in seinem Leben.

Am Vorabend seiner Rückkehr nach Wien lud einer der Seminarleiter, Doktorand zum Thema „E.T.A. Hoffmann und das Element des Spukhaften“, zu einer Abschiedsparty bei sich zuhause ein. Er lebte nahe dem Flughafen, seine Frau war Stewardess. Der Landelärm, das Startheulen der Flugzeuge war zu jeder Zeit überdeutlich zu hören. Das Einfamilienhaus brechend voll, man umtanzte, umzingelte uns. Freunde, Fremde, Studienkollegen und -kolleginnen des Gastgebers, sie alle feierten zu Ehren des prominenten Besuchers. Quasi begann sofort zu trinken, erstaunlicherweise gab es österreichisches Bier, Gösser oder Ottakringer.

Wir standen nach einer Weile etwas abseits vom Getümmel, in einem Korridor, entdeckten dort eine prächtige Urkunde an der Wand, die bestätigte, der Hausherr sei erst eine Woche zuvor zum Hilfssheriff seines Stadtteils Inglewood ernannt worden. Qualtinger konnte es kaum glauben, verwandelte Zeigefinger und Mittelfinger beider Hände zu imaginären Pistolenläufen, fuchtelte wild mit ihnen in der Luft: „A Hilfssheriff! I man i tram!“, rief er. Seit jenem Party-Abend im Kreise braungebrannter amerikanischer Studenten und greiser österreichischer Emigranten, bezeichnete sich Qualtinger in meinem Beisein nicht selten als Sheriff, mich aber begrüßte er bis an sein Lebensende stets nur noch mit: „Mein Hilfssheriff!“

Ein typischer Wiener Abend, repräsentativ für so viele Nächte zu Beginn der 1980er Jahre: Es ist schon spät, im Oswald & Kalb in der Bäckerstraße, am Stammtisch im hinteren Raum hielt Quasi, bereits recht angeheitert, Hof. Er war fast immer von Leuten begleitet, umgeben, Mittrinker, auch sie deutlich berauscht, die wenigsten von ihnen wahre Freunde. Als er mich sah, unterbrach er einen Monolog über die amerikanische Horrorkomödie ‚Angriff der Killertomaten‘ und rief mich zu sich: „Come on, mein Hilfssheriff, setz‘ dich her da!“ Dann erzählte er der Runde, lallend-lachend, von unseren Erlebnissen in L.A., Jahre zuvor. Ich bot dem Freund an, ihn nach Hause zu begleiten, zum nahen Heiligenkreuzerhof. Dieser schwere, dicke Mann! Unsicher auf den Beinen. Er wollte noch etwas trinken, im nikotinvergifteten Café Alt Wien, doch der Wirt winkte ab: „Nix bekommst du zu trinken! Ich will dich vor dem Tod bewahren!“ Wir zogen weiter, zwei schiefe Gestalten. Knapp vor seinem Zuhause entschied er, Widerrede zwecklos, noch ein winziges Lokal aufzusuchen, in dem uns drei junge Damen auf das Herzlichste begrüßten. Qualtinger orderte sofort eine Flasche Champagner für sich und die „Girls“, stellte mich ihnen als seinen Hilfssheriff vor, erzählte von unseren mutigen Einsätzen im nächtlichen Hollywood. Ich denke nicht, dass man ihm Glauben schenkte, aber eine der Damen hielt bereits Quasis Hand fest umschlossen. Ich überließ Helmut Qualtinger seinem Schicksal und wankte um 3h morgens nach Hause.

Das letzte Mal, als ich ihn sah, saß er mit der Schauspielerin Vera Borek, seiner wunderbaren, übermenschlich geduldigen Frau, im Gastgarten des ‚Schweizerhauses‘, seinem Stammlokal, im Herzen des Wurstelpraters. Nur Monate später kam der viel zu frühe Tod: Qualtinger starb an einer Leberzirrhose - kurz nach Ende der Dreharbeiten zu dem Spielfilm ‚Der Name der Rose‘, an der Seite Sean Connerys. Es war ein milder Abend unter blühenden Kastanienbäumen. „Komm her da, mein Hilfssheriff, setz dich zu uns!“ Wir verbrachten mehrere Stunden zusammen, inmitten von grölenden, schwitzenden Travniceks und ihren Gattinnen, von g’schupften Ferdls und zahllosen Herren namens Karl. Quasi schätzte das Bier in diesem Lokal seines langjährigen Freundes Karl Kolarik ganz besonders. Der Schaum des frisch ausgeschenkten Gebräus fiel nicht so rasch zusammen wie an anderen Orten der Stadt, erklärte er mir. Wie oft habe ich miterlebt, dass Qualtinger in Wirtshäusern sein Bier nach Sekunden zurückgehen ließ, weil die Schaumkrone viel zu bald in sich zusammengesackt war, statt dick und fest zu bleiben!

Langsam setzte die Dämmerung ein. Krügerl nach Krügerl tranken wir, er aß Olmützer Quargel auf Schwarzbrot, eine seiner Liebingsspeisen, und mir wurde klarer denn je: Von dieser dumpfen, hassgeliebten Wienstimmung war Qualtinger durchaus abhängig. Er benötigte sie zur Ankurbelung seiner Phantasie. Als er in den 1970er Jahren nach Deutschland übersiedelt war, er hatte am Hamburger Thalia-Theater ein Engagement angenommen, erkannte er bereits nach wenigen Jahren: „Nix für mich. Ich hielt es nicht lange aus.“ Er liebte den Prater; seit seiner frühen Kindheit kam er hierher: Die Abenteuer der Geister-, Grotten- und Hochschaubahnen, der Kuriositätenkabinette und Puppentheater haben dieses zarte Ungeheuer, diesen wüsten Engel mit geprägt. Er beobachtete schon als Bub die Hundedresseure, Ringelspiel- und Spiegelkabinettbesitzer, prägte sich die Dialektdialoge der Luftballonverkäufer und Panoptikum-Inhaberinnen unauslöschlich ein.

Bei seinen Lesungen konnte der geniale Menschenimitator so laut werden, dass selbst größere Säle erbebten. An jenem Abend aber sprach er sehr leise. Ich hörte ihn nur, wenn ich ganz nah an ihn heranrückte. Und dann erzählte er in freien Assoziationsketten, in erratischen Blöcken. Schlüpfte in die Rollen von Frauen, Männern, Kindern, Prominenten und Unbekannten. Kaum deutete er ein Geschehen an, war er längst zu anderen Themen übergesprungen, vermischte das Tagesgeschehen mit Erinnerungen und Zitaten aus der Weltliteratur – aufbewahrt in seinem hervorragenden Gedächtnis – vermischte dies alles wiederum mit Dialogstellen aus Hollywoodfilmen, eigenen Kabaretttexten und amerikanischen Schlagern der fifties. Sein Mienenspiel changierte innerhalb von Sekundenbruchteilen zwischen wärmstem, süßestem Schmunzeln und der Zornesmiene eines SS-Schergen.

Der Koloss von Wien, dieses Unikum von einem Mannsbild, Vater eines Sohnes aus erster Ehe, (Christian ist 2024 66-jährig verstorben), war einer der zartesten, verletzlichsten Menschen, denen ich begegnet bin – im Grunde ein äußerst verschlossener Melancholiker mit deutlichem Hang zur Selbstzerstörung. Wer auf seine schönen, feingliedrigen Hände, seine langen, gleichsam durchsichtigen Finger schaute, achtete, konnte eine Idee von seiner Zerbrechlichkeit bekommen.  

Er lauschte an jenem Prater-Abend den Sirenen der Elektro-Attraktionen, den Hup-Geräuschen der Raumschiff-Attrappen, dem Kichern und Aufschreien aufgekratzter Autodromfahrerinnen. Und als wir die Rechnung im ‚Schweizerhaus‘ bekamen, erschrak ich: Wir hatten zu zweit – Vera war bei Apfelsaft geblieben – zweiundzwanzig Krügel geleert. Schlenderten anschließend in der Nähe des Riesenrads an den Schießbuden vorbei, schrille Lichter blitzten auf. Quasi schritt langsam vorwärts, schob den eigenen Mammutkörper vor sich her. „Früher, da hat’s hier an jedem Eck die Prater-Ausrufer gegeben“, erinnerte er sich. „‘Trähtn Se näher, meine Damen, meine Härrn! Unklaupliche Senssatzeonen erwartn Se!‘ Der Hitler war sicher oft hier. Und hat von den Ausrufern enorm viel gelernt. Gar kein Zweifel!“ Und nach einem tiefen Seufzer fügte er hinzu: „Da schau her: Da gibt’s a neue Geisterbahn, ‚Zombies‘, die kenn‘ ich ja noch gar nicht. Komm, mein Hilfssheriff, die schau’n wir uns jetzt an!“

 

In dieser Serie bislang erschienen:

Wiener Zeitfenster – Erinnerungen an das Akademische Gymnasium am Beethovenplatz

Peter Stephan Jungk ist Autor von Romanen, Biografien und Drehbüchern, Übersetzer von Theaterstücken sowie Regisseur von Dokumentarfilmen. Zuletzt erschien bei S. Fischer sein Buch Marktgeflüster – Eine verborgene Heimat in Paris“www.peterstephanjungk.com ​​​​​​​

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Kommentare

Rlainer Clauss

danke Peter Jungk, der Text vermittelt wie es war, Helmut Qualtinger persönlich als Jugendlicher und Erwachsener zu erleben ... Qualtingers Ausstrahlung war so stark, dass ich mich noch sehr gut erinnere, wie ich Helmut Qualtinger in den 60er Jahre in Nürnberg im Radio zum ersten Mal hörte. Er las Karl Kraus die letzten Tage der Menschheit. Sämtliche Rollen von Qualtinger gesprochen. Er war ein Meister der Sprach- und Dialektimitation. Vor dem Radiogerät kauernd wurde mir klar, es gibt noch ein anderes Leben außer dem kleinbürgerlichen Streben nach Vorteil im Adenauer-Deutschland im spießigen Nürnberg ...