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Wiener Zeitfenster – Erinnerungen an das Akademische Gymnasium am Beethovenplatz
„Vergiss die Mathematik nicht!“
Die ersten vier Schuljahre, in denen österreichische Kinder, in der Regel zwischen ihrem sechsten und zehnten Lebensjahr, die Volksschule besuchen, ging ich in die ‚American International School‘ im 19. Wiener Gemeindebezirk, damals in einem schäbigen, grauen Gebäude in der Bauernfeldgasse untergebracht. Es waren glückliche, unbeschwerte Jahre, in denen ich vom Ernst des Lebens noch nicht die geringste Ahnung hatte. Erst als meine Eltern beschlossen, in Wien sesshaft zu bleiben, zumindest für eine gute Weile, wurde ich umgeschult.
Ab der 1. Klasse Gymnasium sollte ich in eine altehrwürdige Schule am Beethovenplatz wechseln. Ein Übergang, der dramatischer kaum hätte sein können. Denn so frei und froh ich mich in der Bauernfeldgasse fühlte – die Lehrer und Lehrerinnen jung, dynamisch, liebevoll besorgt um jeden Einzelnen, im Rücken der Schule ein großer Garten, wo wir Kinder in der langen Mittagspause herumtollten – so bedrückt, verängstigt, eingeschüchtert erlebte ich das Akademische Gymnasium mit seinen finsteren Korridoren und dem ungemein strengen, autoritären Lehrkörper, dem auch einige ältere Herren angehörten, die, wie ich später erfahren sollte, noch zwanzig Jahre zuvor der nationalsozialistischen Ideologie nahestanden, um es vornehm auszudrücken.
Schon die Aufnahmeprüfung löste bei mir, dem damals Elfjährigen, den heftigsten „Schmetterlinge-im-Bauch-Zustand“ aus, den ich bis dahin gekannt hatte. Ein gutes Jahr lang war ein älterer, pensionierter Herr Studienrat wöchentlich zwei Mal zu uns in die Wohnung am Modenapark gekommen, um mich, den ahnungslosen kleinen Amerikaner, in Los Angeles geboren, in London, München und Paris zuhause, bevor wir Ende 1957 nach Wien zogen, auf das österreichische Schulsystem vorzubereiten. Die Regeln der deutschen Grammatik waren mir bis dahin nie untergekommen, und die Mathematik, die an der ‚American School‘ durchgenommen wurde, hatte mit dem Mathematikunterricht für österreichische Volksschulkinder so gut wie nichts gemein.
An die Aufnahmeprüfung selbst erinnere ich mich nur schemenhaft; das Bild, das mir aber unauslöschlich vor Augen steht, ist der Moment, in dem ich mich, begleitet von meinen Eltern, am Tag danach dem großen Eingangstor der Schule nähere, an dem eine Liste angebracht war: Mit den Namen all jener Kinder, die die Prüfung bestanden und den Namen derer, die sie nicht bestanden hatten. Dass mein Name – er lautete damals schlicht Peter Jung, meiner kalifornischen Geburtsurkunde folgend, aber das ist wiederum eine andere Geschichte – auf der Liste der Aufgenommenen aufschien, grenzte für mich damals an ein Wunder. Ich freute mich, empfand sogar so etwas Ähnliches wie Stolz. Man ließ mich wissen: Nun sei ich in einer Schule aufgenommen, in der berühmte Schriftsteller vor langer Zeit ihre Matura gemacht hätten, man nannte mir Peter Altenberg, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Namen, die mir nicht das Geringste bedeuteten. Doch das Gefühl wurde mir vermittelt, dank meiner Aufnahme in dieses „Humanistische Gymnasium“, wie es sich nannte, sei ich nunmehr auf dem Weg, ähnlich hochangesehen zu sein, wie jene mir gänzlich Unbekannten.
Es folgten viereinhalb Jahre, in denen meine schulischen Leistungen immer haarscharf an der Kante des „Durchfallens“ entlangschlitterten. Insbesondere in Mathematik und Latein war die Gefährdung konstant. Nachhilfelehrer mussten meine Schwächen abfedern. Die Geldsummen, die meine Eltern damals ausgeben mussten, um die schlechten Noten zumindest um eine Spur zu verbessern, dürften beträchtlich gewesen sein. Ich hatte Französisch als Fremdsprache gewählt, da ich ja Englisch bereits fließend und akzentfrei sprach; auch in Französisch musste ich für ein jährliches Genügend ständig kämpfen, nicht zuletzt, da mich unser Klassenvorstand, die im Grunde hervorragende Französischprofessorin A., aus mir unerfindlichen Gründen besonders zu quälen beliebte.
Der dunkle Hof inmitten des düsteren Backsteinbaus blieb immer leer, ich weiß bis heute nicht, warum es damals streng verboten war, diesen Innenhof zu betreten, geschweige denn, dort zu spielen. Ich sehe mich in den ersten zwei Gymnasialklassen, womöglich sogar noch zu Beginn der Dritten, von meinen Mitschülern und Mitschülerinnen als „Klassentrottel“ behandelt und bewusst beiseite geschoben. Saß in der Schulbank neben der von allen gemobbten Betsy P., die ständig ihren Asthma-Spray an die Lippen führte und Brillen mit fingerdicken Gläsern trug. Ich durfte wegen eines überstandenen rheumatischen Fiebers, welches das Herz gefährdet hatte, am Turnunterricht nicht teilnehmen. Und das in einer Klasse mit gesunden, kräftigen, sportlichen Burschen, die für einen so verweichlichten Buben wie mich kein Verständnis aufbrachten. Das Blatt wendete sich erst, als die Beatles und Rolling Stones, die Kinks, Troggs, Monkees und Tremeloes die Hitparaden der Welt stürmten, und ich offenbar der einzige in der Klasse war, der die Texte der Songs übersetzen konnte. Mit einem Mal stieg ich in der Gunst der Buben und Mädchen zu unerwarteten Höhen auf, verwandelte sich mein Image gleichsam über Nacht vom Gemiedenen zum Umworbenen.
Ich ließ die Haare wachsen, den Rockstars nacheifernd, und führte eine wöchentliche Bestenliste unserer jeweiligen Lieblingssongs ein, die Hälfte der Klasse, wenn nicht sogar mehr, nahm regelmäßig an den Abstimmungen teil. Schlagartig wich der Schleier der traurigen Schwere von mir, wurde ich in den inneren Kreis der Auserwählten aufgenommen. Die Kräftigen und Sportlichen waren nun mit einem Mal meine Freunde, einer von ihnen gar mein neuer Banknachbar.
Diese erstaunliche Metamorphose meines schulischen Daseins gefiel mir so gut und erfüllte mich mit so großer Zufriedenheit, dass ich auf die Nachricht einer bevorstehenden Übersiedlung nach West-Berlin mit Enttäuschung, gar Trauer reagierte. Mein Vater, Robert Jungk, sollte als sogenannter ‚Honorarprofessor‘ an der Technischen Universität das eigens für ihn geschaffene Fach ‚Zukunftsforschung‘ unterrichten. Der Abschied fiel mir schwer. Und ich glaube mich zu erinnern, dass auch meine Klassenkameraden und -kameradinnen traurig waren, als ich sie verließ.
An einem der letzten Tage am Akademischen Gymnasium brachte ich einen kleinen Kassettenrekorder in die Schule mit, wie es sie erst seit wenigen Jahren im Fachhandel zu kaufen gab, versteckte ihn unter der Bank, nahm heimlich eine Schar unserer Professoren auf, wundere mich rückblickend über meinen Mut. Eine Transkription dieser Tonbandaufnahmen (die Bänder sind nach meinen zahlreichen Übersiedlungen leider längst verschwunden) fiel mir vor einigen Monaten beim Aufräumen in meinem Arbeitszimmer in die Hände, fünfundfünfzig Jahre, nachdem sie entstanden waren, am 4. April 1968.
Ich gebe hier Auszüge aus Monologen des allseits gefürchteten Deutschprofessors K. wieder, dem es offenbar eine besondere Freude bereitete, mir in der 5. Klasse Gymnasium auf beide vor dem Fortgang abgehaltenen Schularbeiten ein Nichtgenügend zu verpassen, den berühmten Fleck. Er schien ein Seelenverwandter des despotischen Mathematikprofessors Anton Kupfer aus Friedrich Torbergs berühmtem Roman ‚Der Schüler Gerber‘ zu sein: „Die Salzmann* fliegt durch, nicht wahr, trotzdem: wenn jemand unter euch denken könnte, müsste er eigentlich sagen können, wer und was hier gemeint war“, hob der damals etwa sechzigjährige Professor an, um danach fortzufahren: „Sehr richtig, Fräulein Wartmann*, gemeint war natürlich des Dichters Verbrennen alter Briefe!“ Ich kann mich heute nicht mehr erinnern, von welchem Dichter die Rede war, der seine Korrespondenz den Flammen überlassen hatte. Und ohne ersichtlichen Zusammenhang fuhr K. fort: „Der Theseustempel erfüllt jetzt wenigstens einen Zweck: Er ist der Sammelpunkt der Beatles, der Gammler, der Hippies, aller jener, die in der Mittelschule nicht weiterkommen, nicht wahr, für die wir ein wunderbares Monument gründen werden, für die wir freiwillig erzwungenen Arbeitsdienst einführen wollen. Die werden – Simons* und Co., und den Jung werden wir aus Berlin wieder zurückholen, nicht wahr – die werden dort ein Bissl was machen müssen.“ Daraufhin widmete er sich einer Analyse des Gedichts ‚An die Sonne‘ von Franz Grillparzer und ließ uns wissen: „Jeder Dichter, sofern er nicht rechtzeitig stirbt, macht doch eine Entwicklung durch!“ Als sich Mitschüler Simons daraufhin ein kleines Gelächter erlaubte, reagierte Professor K. wie aus der Pistole geschossen: „Simons? Weißt du, Simons, wenn ich die Sonne wäre, ich würde dich erfrieren lassen wie den letzten Hund!“ (Im Transkript meine Bemerkung in Klammern: „Hund klingt wie Honnd!“) Und in der nächsten Zeile: „Man hört das Läuten der Glocke, die Deutschstunde ist zuende.“
Unseren Mathematikprofessor H. mochte ich gerne. So unendlich untalentiert ich mich in seinem Fach auch gebärdete, so liebevoll ging er mit uns allen in der Klasse 5b um. Ich nahm ihn nicht versteckt auf, sondern bat ihn um ein Abschiedsstatement. „Viel Erfolg am neuen Lebensweg“, sprach er in das kleine Mikrophon. „Und einen Wahlspruch will ich dir mitgeben, der zwar sarkastisch klingt, aber er soll heißen: Vergiss die Mathematik nicht!“
Wie lautet der Schlusssatz von Peter Handkes Roman ‚Wunschloses Unglück‘, über das Leben und Sterben seiner Mutter? „Später werde ich über das Alles Genaueres schreiben.“ Dieser Satz gilt auch für mich, im Zusammenhang mit meinen Erinnerungen an das Akademische Gymnasium in Wien.
*Namen geändert
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Kommentare
Vielen Dank für den Beitrag. Anscheinend wollten die Eltern Jungk, dass der Sohn die dunklen Seiten der 50er und frühen 60er Jahre nicht verpasst, um das Wien des Herrn Karl besser begreifen zu können. Sein Aufwachsen war also auch eine soziologische Forschung. Glücklicher wäre der Autor wohl gewesen, wenn er in der ‚American International School‘ hätte bleiben dürfen.