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Linn Ritsch , 3.6.2025

50 Jahre Besetzung Amerlinghaus

„Die Stadt sollte sich heraushalten“

Um 1970 hatte die Stadt Wien radikale Pläne für den Spittelberg. Der alte Baubestand sollte abgerissen, stattdessen sollten moderne Wohneinheiten errichtet werden. Dagegen formierte sich Widerstand. Sein Zentrum: Das Amerlinghaus, das vor 50 Jahren besetzt wurde.

Der Sommer 1975 war bunt, jedenfalls am Spittelberg im siebten Wiener Gemeindebezirk. Man begegnete Kindern, die mit Kreiden auf der Straße malten, Musiker:innen, die für kleine Gruppen sangen und spielten, Autor:innen, die aus ihren Werken lasen, plaudernden Senior:innengrüppchen, tanzenden Eltern und umherziehenden Jugendlichen. Was auf zufällig vorbeikommende Passant:innen auf den ersten Blick wie ein von künstlerisch beseelten Hippies ausgerichtetes Straßenfest ausgesehen haben muss, war – einerseits genau das. Ein Fest für die Anrainer:innen und alle anderen, die sich den zahlreichen Aktivitäten anschließen wollten. Gleichzeitig war es aber ein Akt der Rebellion: eine Hausbesetzung. 

Widerstand gegen die Schleifung

Warum kam es dazu? Anfang der 1970er Jahre war bekannt geworden, dass die sozialdemokratische Stadtregierung die heruntergekommenen Häuser am Spittelberg abreißen lassen wollte. Die Bewohner:innen des Viertels hatten mit Armut und schlechten Lebensbedingungen zu kämpfen; das Grätzel war proletarisch geprägt, verwahrlost und genoss einen nicht ganz einwandfreien Ruf. Ein großer Teil der Bausubstanz befand sich in scheußlichem Zustand. „Man kann sich das heute kaum mehr vorstellen“, erzählt Christoph Reinprecht, Soziologe und Obmann des Verein Kulturzentrum Spittelberg. „Der siebte Bezirk hatte am Spittelberg vor fünfzig Jahren nichts vom heutigen kommerzgeprägten Bobo-Schick. Er war düster, grau, feucht und zum Teil nicht oder nur informell bewohnt.“

Die damals übliche Lösung der Stadtverwaltung für solche Gebiete lautete: Abschleifen und neu bauen. So wurde etwa in Alt-Erdberg (3. Bezirk) oder in Alt-Lichtental (9. Bezirk) der alte Hausbestand abgetragen und durch neue Wohnanlagen ersetzt, bei deren Planung weniger ästhetische, sondern primär funktionalistische Überlegungen im Vordergrund standen. Eine solche wäre wohl auch am Spittelberg entstanden, hätte sich nicht Widerstand geregt. 

Er ging zunächst keineswegs von den Bewohner:innen aus. Wer Bedenken anmeldete, waren überwiegend junge Architekt:innen, Stadtplaner:innen, Künstler:innen und Intellektuelle. Anfang der Siebzigerjahre gründeten sie die IG Spittelberg. Statt die gründerzeitlichen – und teilweise sogar noch älteren – Häuser zu zerstören, und die vielfach armen Bewohner:innen „hinauszusanieren“ forderte die Interessensgemeinschaft eine Überholung der bestehenden Bausubstanz. Die Gruppe solidarisierte sich zunehmend mit den Anrainer:innen und sprach sich gegen Vertreibungen und Mieterhöhungen aus. 1973 wurde ein erster Erfolg erreicht: Die Stadt stellte fast den gesamten Spittelberg unter Denkmalschutz. 

Sanfte Besetzung und zähe Verhandlung 

Der IG Spittelberg ging es aber nicht alleine um den Schutz alter Häuser. Sie hatte eine Vision: In der Gegend sollte ein Nachbarschaftszentrum entstehen, ein konsumfreier Ort kultureller Selbstbestimmung. Man stellte sich einen Raum des Miteinanders vor, an dem Menschen aller Altersklassen mit unterschiedlichen sozialen, nationalen und kulturellen Hintergründen sich begegnen konnten. 

„Die Möglichkeiten, sich selbstbestimmt solche Orte anzueignen, waren zu dieser Zeit sehr begrenzt“, sagt Reinprecht. Während deutlich mehr Brachland als heute vorhanden war, gab es im bebauten Stadtgebiet kaum Orte für eine Öffentlichkeit, auf die Politik und Markt keinen Zugriff hatten. Als ein solches Zentrum wurde jenes Gebäude erkoren, das aufgrund seiner Größe, des gut nutzbaren Hofes, des vergleichsweise guten Zustandes und der Tatsache, dass es in Gemeindebesitz war, prädestiniert erschien – das Amerlinghaus. 

Wie bereits in den Jahren zuvor wurde im Ende Mai 1975 ein Fest im und um das Amerlinghaus veranstaltet. Nach den mit der Stadtverwaltung vereinbarten drei Tagen festlichen Treibens weigerte man sich, den Schlüssel zurückzugeben. Aus der akkordierten Bespielung des Amerlinghauses wurde am vierten Tag eine Besetzung. Die darauffolgenden, hochpolitischen Wiener Besetzungen – allen voran jener der „Arena“ in St. Marx im Jahr 1976 – waren zweifellos öffentlichkeitswirksamer als die Okkupation des Amerlinghauses. Letztere verlief (abgesehen von ein paar Besuchen der Polizei, die allerdings wenig aufsehenerregend waren) ruhiger: Die Besetzer:innen richteten im Amerlinghaus einen Modellbetrieb ein. Sie eröffneten ein nicht-kommerzielles Beisl, in dem alle zahlen durften, was sie wollten und konnten, veranstalteten Wienerliedabende und Malkurse und hießen Senior:innen sowie Kinder willkommen. Im Umfeld der Besetzungen entstanden Theaterstücke und es wurden Lesungen gehalten; Peter Turrini war ebenso beteiligt wie Kurt Winterstein. Selbst die Presse – von Kurier bis Krone – berichtete wohlwollend, waren die Aufständischen doch erfreulich friedfertig und oftmals bürgerlich. 

Fast sofort begonnen, mit der Stadtverwaltung zu verhandeln. Der ruhige Verlauf dieser Gespräche war laut Reinprecht der lösungsorientierten Offenheit beider Seiten zu verdanken. „Einige Mitglieder der IG Spittelberg hatten einen guten Draht zur Stadt, auch beruflich, etwa zur Stadtplanung oder zur Kulturabteilung. Gleichzeitig hatte die zuständige Stadträtin Gertrude Fröhlich-Sandner für die Anliegen der Besetzer:innen durchaus ein offenes Ohr.“

Hauptsache Selbstverwaltung!

Hilfreich für die Verhandlungen waren außerdem einige Leute mit dezidiert linker politischer Ausrichtung und Streikerfahrung aus der Arbeiterbewegung. Ein solcher war der zu Beginn dieses Jahres verstorbene Herbert Sburny, der bis über seine Pensionierung hinaus für das Amerlinghaus tätig war. Sein Engagement in der Freien Österreichischen Jugend und der Gewerkschaftsjugend brachten ihm Routine bei Streiks und Verhandlungen mit der Politik. „Da war nicht einer, der in irgendeiner politischen Organisation gewesen wäre“, erzählte er 2012 in einem Interview. „Denen hat die Organisationserfahrung gefehlt, die habe ich eingebracht.“

Man kann sich die Amerlinghaus-Besetzungstruppe also als wilde Mischung vorstellen. Künstlerische, ästhetische, politische, basisdemokratische und utopische Vorstellungen verwoben sich miteinander, die Gemengelage war komplex. Über eines war man sich allerdings vollkommen einig: Selbstverwaltung! So beschreibt es Lisa Grösel, die über zwanzig Jahre lang Mitarbeiterin und Mitgestalterin des Amerlinghauses war. „Zwar hatten die Besatzer:innen kein vollständig ausgearbeitetes Konzept für das Kulturzentrum Spittelberg, aber das war ihnen klar: Die Stadt sollte sich heraushalten, die Verwaltung sollte ihnen überlassen werden.“ 

Ein offenes Haus, das für seine Nutzer:innen keinerlei bürokratische oder monitäre Zwänge bedeutete – diese Forderung steht im historischen Kontext einer öffentlichen Szene, die Teilhabe an der Gestaltung von Öffentlichkeit und städtischem Raum verlangte. „Bei aller selbstgenügsamer, spießbürgerlicher, vergangenheitsidealisierender Provinzialität brodelt es in der Stadt, breitet sich Unruhe aus“, schreibt Christoph Reinprecht in einem Beitrag zum im September erscheinenden Jubiläumband zur Besetzung des Amerlinghauses. „Neue Öffentlichkeiten von selbstorganisierter Jugendkultur, künstlerischem Aktivismus und kreativen, subkulturellen Szenen fordern die verkrusteten Verhältnisse heraus.“

 

Eine Lösung „à la viennoise“ 

Mit solch idealistischen Vorstellungen hatte die schließlich mühsam ausdiskutierte Lösung nicht allzu viel gemein. Im Oktober 1975 wurde der Modellbetrieb eingestellt und die Stadtverwaltung beauftragte die gemeindeeigene Baugesellschaft Gesiba mit einer umfassenden Sanierung. Während die Gesiba das Amerlinghaus und weitere Gebäude am Spittelberg renovierte, verhandelten Vertreter:innen der Besatzer:innen und der IG Spittelberg mit der Stadtregierung. 

Im April 1978 öffnete das Amerlinghaus schließlich seine Tore: Als selbstverwaltetes, voll von der Stadt subventioniertes Kultur- und Kommunikationszentrum. Als Lösung „à la viennoise“, also als sehr wienerisches Resultat, bezeichnet Reinprecht das Verhandlungsergebnis. Die Stadtverwaltung übertrug die Verantwortung für das im Amerlinghaus geplante Gemeindezentrum einem eigens gegründeten Verein und bestand darauf, dessen Vorstand zum Teil politisch zu besetzen. Auch ein „Hausverwalter“ musste her (ein Amt, Herbert Sburny lange Zeit innehatte). Selbstbestimmung trotz Abhängigkeit also, Kontrolle der Autonomie: Kann das funktionieren? 

Die Widersprüchlichkeit dieser Vereinbarung war von Anfang an offensichtlich und ist, das erzählen die Amerlinghaus-Mitarbeiterinnen, bis heute ein Balanceakt mit viel Konfliktpotential. „Wir müssen jedes Jahr für unsere Sichtbarkeit und für das Weiterbestehen kämpfen, weil die Förderung kaum die allernötigsten grundkosten abdeckt“, berichtet Claudia Totschnig, die seit 2008 im Amerlinghaus arbeitet. Ein Kampf, der sie und den Vorstand des Hauses 2015 als Rotkäppchen verkleidet ins Rathaus führte, der unzählige Exceltabellen, Konzepte und Erklärungen forderte, der nach Kreativität und Durchhaltevermögen verlangt. 

Das Amerlinghaus im Wandel der Zeiten

Und es ist ein Kampf, der viele Erfolge brachte. Das Amerlinghaus gibt es immer noch. Inmitten des mittlerweile vollständig gentrifizierten Bezirks, trotz finanzieller Unsicherheiten und Krisen. „Wir sind einer der wenigen Orte, an denen Menschen und Organisationen keiner Verwertungslogik unterworfen sind, an denen sie keine Formulare ausfüllen und keine Miete bezahlen müssen“, sagt Totschnig. Bis heute zieht das Amerlinghaus jene an, die sonst nirgends Platz finden, die neu in der Stadt sind, die nach Schutz, Information oder einfach nach einem Kopierer suchen.

Die Relevanz einer solchen analogen Ressource werde oft unterschätzt, meint Lisa Grösel. „Wir errichten keine Barrieren, sondern versuchen, sie aus dem Weg zu räumen.“ Und das in einem Grätzel voller kaum mehr leistbaren Wohnungen, hippen Lokalen und teuren Boutiquen. Obwohl die Gentrifizierung (die ironischerweise mit der 1975 geforderten Sanierung des Viertels ihren Anfang nahm) das Amerlinghaus zunehmend unsichtbarer macht, gibt es seit einiger Zeit wieder mehr Vernetzung mit anderen Initiativen im Grätzel. Nicht zuletzt, weil antirassistische, queere oder feministische Überzeugungen in Wien Neubau durchaus Anklang finden. Lange bevor sie dort wichtig waren, wurden sie im Amerlinghaus diskutiert.

Die vielfältigen Gruppen, die das Haus nutzen, kommen und gehen; vieles, was später groß wurde, fand im Amerlinghaus seinen Anfang: von der Alternativschulbewegung über Anti-AKW Aktivitäten und interkulturelle Lernbetreuung bis zu migrantischen Jugendprojekten. Heute finden hier etwa Deutschkurse für geflüchtete Frauen, Vorträge zu toxischer Männlichkeit oder Veranstaltungen zur Aufklärung gegen häusliche Gewalt statt. Meist sind die Projekte klein und kommen ohne Sektempfänge aus. „Das Amerlinghaus ist eben kein Hochglanzprojekt.“ Claudia Totschnig zuckt mit den Achseln. Sie findet, das ist richtig so. Als solches war es schließlich nie gedacht. Sondern als Haus für alle.

Hinweis

Im September erscheint im Mandelbaum Verlag das Buch „Spekulatius statt Spekulation! 50 Jahre Besetzung Amerlinghaus“, herausgegeben vom Infobüro Amerlinghaus. Eine wichtige Quelle für diesen Beitrag war der (mittlerweile vergriffene) Katalog zur Ausstellung „Besetzt! Kampf um Freiräume seit den 70ern“ (Wien Museum, 2012). 

Linn Ritsch studierte Literaturwissenschaft in Wien, Tübingen, St. Andrews und Perpignan. Von 2021 bis 2024 war sie Chefredakteurin des anzeiger, des Magazins der Österreichischen Buchbranche. Seitdem ist sie im Falter Verlag für die Gestaltung verschiedene Magazine zuständig. Sie schreibt außerdem für verschiedene andere Medien und gestaltet Beiträge für Ö1.

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