
Wiener Kinder in Fairford, 1947, Foto: vermutlich Karla Zieger, Privatbesitz Familie Holmes
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Erholungsaufenthalte für Wiener Kinder in England
Endlich satt
1947, zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, lag Wien noch immer in Trümmern. Die Lebensmittelversorgung war unter dem Existenzminium, ein Großteil der Bevölkerung unterernährt, krank und erschöpft. Der Wien-Korrespondent des „Manchester Guardian“ titelte in seiner Kolumne „Die Bevölkerung lebt von der Hand in den Mund.“ Zur Überprüfung des Gesundheitszustandes wurde die Wiener Bevölkerung von den Alliierten öffentlich gewogen und gemessen. Bereits 1946 hatte eine internationale Ärztekommission festgestellt, dass in Wien und Ostösterreich 70 Prozent der Kinder unterernährt waren. Krankheiten wie Rachitis und Tuberkulose waren weit verbreitet.
Internationale Hilfe wurde zum Lebensretter. Organisationen wie die United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRA) lieferten dringend benötigte Lebensmittel, Medikamente, Kleidung, Saatgut und Düngemittel. Schulausspeisungen, organisiert von den Alliierten, sorgten dafür, dass Kinder zumindest einmal täglich eine warme Mahlzeit erhielten. Doch erst mit dem Eintreffen der Marshallplan-Hilfen im Jahr 1948 – Teil eines von den USA initiierten wirtschaftlichen Aufbauprogramms – begannen sich die Versorgungslage und die Lebensbedingungen allmählich zu verbessern.
Angesichts der verzweifelten Lage vieler Kinder griff man auf ein bereits bewährtes Mittel zurück: Erholungsaufenthalte im Ausland. Schon nach dem Ersten Weltkrieg hatte diese Maßnahme geholfen. Besonders bekannt sind die Kindertransporte in die Schweiz, wo zwischen 1945 und 1955 mehr als 100.000 Kinder gesund gepflegt wurden. Weitere Gastgeberländer waren Dänemark, Schweden, Belgien, Norwegen, Frankreich, Luxemburg, die Niederlande und später auch Portugal und Spanien. Weniger präsent im öffentlichen Gedächtnis ist die britische Unterstützung für Wiener Kinder.

Anglo-Austrian Society – Brückenbauerin zwischen den Kulturen
Hinter dem britischen Programm stand die Anglo-Austrian Society, eine zivilgesellschaftliche Initiative, die sich der Förderung der Beziehungen zwischen Österreich und England verschrieben hatte. Gegründet 1944 im Umfeld österreichischer Emigrant:innen und britischer Unterstützer:innen – damals noch unter dem Namen Anglo-Austrian Democratic Society – setzte sich die Gesellschaft für den Wiederaufbau eines freien Österreich ein. Neben der Förderung demokratischer Werte engagierte sich die Society nach Kriegsende vor allem in Form von humanitären Hilfsaktionen. 1947 gründete sie dann das „Austrian Children Reception Committee“, das Austauschaufenthalte für Wiener Kinder in England organisierte.
Von österreichischer Seite koordinierte die von der Bundesregierung eingerichtete „Zentralstelle der Auslandsaktion für Wiener Kinder“ in der Mölkerbastei 5 die Hilfsangebote. Die Organisation fungierte als Vermittlungsstelle für Aufenthalte in verschiedenen Gastländern und bereitete die Kinder in „Clubs“ auf den Auslandsaufenthalt vor – mit Unterricht in Umgangsformen, der Vermittlung von Sprachkenntnissen und Informationen über Geschichte und Bräuche der Gastländer.
Aufenthalt in England
Im August 1947 begann die erste von der Anglo-Austrian Society organisierte Reise nach England. An dem dreimonatigen Erholungsaufenthalt nahmen 50 Mädchen und 50 Buben im Alter von acht bis dreizehn Jahren teil. Die Auswahl der Kinder erfolgte durch die Bezirksjugendämter auf Basis von medizinischen Befunden und sozialer Bedürftigkeit; der religiöse Hintergrund der Familien spielte keine Rolle.
Die Reise war lange und beschwerlich. Für viele Kinder bedeutete sie einen Weg ins Ungewisse, das erste Mal weg von der Familie und der vertrauten Umgebung. Die erste Etappe führte mit dem Zug über die Schweiz nach Frankreich, quer durch das vom Krieg gezeichnete Europa. Nach drei Tagen erreichte die Gruppe Calais. Von dort ging es per Fähre über den Ärmelkanal nach Dover und anschließend mit dem Bus in die Kleinstadt Fairford im Südwesten Englands.
In Fairford wurden die Kinder zunächst in einem Schulgebäude einquartiert, wo sie in Englisch unterrichtet und auf ihre Unterbringung bei britischen Gastfamilien vorbereitet wurden. Der dreiwöchige Aufenthalt bedeutete für viele Kinder erstmals seit langer Zeit regelmäßige Mahlzeiten, warme Kleidung und eine stabile medizinische Versorgung. Der Alltag war geprägt von Sprachunterricht und Freizeitaktivitäten wie Musik, Theater und Sport sowie Ausflügen nach London oder Oxford. Zudem standen die Kinder in dieser Zeit unter ärztlicher Beobachtung – eine Quarantänemaßnahme, um der Verbreitung von Krankheiten vorzubeugen.
Danach kamen die Kinder zu ihren britischen Gastfamilien, unter anderem in Oxford, Liverpool oder Sheffield, wo sie für zehn Wochen betreut wurden. Trotz der nach wie vor bestehenden Lebensmittelrationierung in England bemühten sich die britischen Familien, die Kinder bestmöglich zu versorgen. Sie statteten sie mit Kleidung aus, sorgten für regelmäßige Mahlzeiten und kümmerten sich um ihr Wohlbefinden. Gemeinsam mit den Kindern der Gastfamilien konnten die jungen Wiener:innen englische Schulen besuchen. Für viele war das ein ungewohnter Luxus nach Jahren der Entbehrung.
Auch für die Personen, die für die Organisation der Aufenthalte zuständig waren, brachte der internationale Austausch neue Möglichkeiten. Von Wien aus traten zehn junge Studierende gemeinsam mit den Kindern die Reise an, darunter war auch die Musikstudentin, Karoline (Karla) Zieger, die die Chance ergriff, der schwierigen Nachkriegssituation in Wien zeitweilig zu entfliehen. In Fairford leitete sie Chorproben und musizierte mit den Kindern. Während der Unterbringung der Kinder bei Gastfamilien war sie als „Teamleaderin“ für zehn Schützlinge zuständig und stand regelmäßig mit ihnen im Austausch. Karla nahm sich ihrer Sorgen in regem Briefkontakt an und besuchte sie vor Ort bei den Gastfamilien. Auf Seiten der Anglo-Austrian Society war unter anderem der junge Brite Geoffrey Holmes für die Koordination zuständig. Zwischen Karla und Geoffrey sollte sich noch mehr als eine kollegiale Zusammenarbeit entwickeln.
Briefe nach Hause
In Briefen an ihre Familien in Wien berichteten die jungen Gäste vom Alltag in England. Besonders die ausreichende Verpflegung wird in den Briefen wiederholt erwähnt. So schrieb der dreizehnjährige Paul aus Favoritenan seine Mutter: „Das Essen ist sehr gut und nahrhaft, zum Frühstück bekommen wir außer Porridge auch Tee mit Milch, den englischen Nationaltrank, und Kuchen.“
Auch die Briten wussten über den Auslandsaufenthalt der Wiener Gäste positiv zu berichten, denn immerhin stellte der Austausch eine gute Werbung für die Besatzungsmacht dar. Einerseits konnte die Wiener Öffentlichkeit in der Schülerzeitschrift „School Post“ darüber nachlesen. Andererseits berichtete sogar der britische Nachrichtensender BBC (British Broadcasting Corporation) am 24. September 1947 von den Wiener Kindern in Fairford und sendete Interviews und Gesangseinlagen der Kinder auf Deutsch und Englisch im Radio. Wenig später wurde die Sendung auch für Wiener Hörer:innen ausgestrahlt.
Gelebte Hilfsbereitschaft und neue Perspektiven
Der Aufenthalt in England war prägend. Der Ortswechsel verbesserte nicht nur ihre Gesundheit, sondern eröffnete dieser jungen Generation neue Perspektiven. Viele Kinder lernten Englisch, kamen in direkten Kontakt mit der britischen Kultur und Lebensweise und bauten Kontakte auf, die zum Teil über Jahre hinweg gepflegt wurden. Die britische Hilfsaktion war mehr als ein Ausdruck von Solidarität, sie war ein Symbol für ein neues Miteinander. Nur zwei Jahre zuvor waren sich Österreich und Großbritannien im Krieg auf verschiedenen Seiten gegenübergestanden, nun öffneten britische Familien ihre Türen für Kinder der ehemaligen Gegner. Die gelebte Hilfsbereitschaft zeigt exemplarisch, wie aus Fremden Freunde wurden.
Für Karla Zieger und Geoffrey Holmes galt das ganz besonders: Ihr Kennenlernen in Fairford war der Beginn eines gemeinsamen Lebens, sie heirateten später und gründeten eine Familie.
Bis 1949 reisten über tausend Kinder im Rahmen dieser Aktion nach England. Die Verbesserung der Lage in Österreich führte schließlich auch zur Erweiterung des Programms: Ab 1950 wurden Erholungsaufenthalte für Kinder aus britischen Industriegegenden in Österreich organisiert. Bis in die 1980er Jahre ermöglichte die Gemeinde Wien den Aufenthalt von britischen Kindern in einer Einrichtung am Grundlsee.
Heute, 80 Jahre nach Kriegsende, arbeitet Alexandra Holmes, Schwiegertochter von Karla und Geoffrey Holmes, an einem historisch basierten Jugendroman über die Geschichte der Erholungsaufenthalte.
Herzlicher Dank gilt den Familien Holmes und Holmes-Edinger, die den Anstoß zu diesem Beitrag gegeben und ihn mit spannendem Quellenmaterial unterstützt haben.

Literatur:
Anglo-Austrian Society: https://angloaustrian.org.uk/a-brief-history/ (last accessed 19.9.2025).
Richard Hiscocks, The Rebirth of Austria, London/New York/Toronto 1953.
Isabella Lehner, Anglo-Austrian Cultural Relations between 1944 und 1955. Influences, Cooperation and Conflicts. (Diplomarbeit), Universität Wien, Wien 2011.
Friedrich [Frederick] Scheu, The Early Days of the Anglo-Austrian Society to commemorate the 25th Anniversary of the Society’s foundation, London 1969.
Anton Partl/Walter Pohl (Hg.), Verschickt in die Schweiz. Kriegskinder entdecken eine bessere Welt, 2005.
Hugo Portisch/Sepp Riff, Die Wiedergeburt unseres Staates, Wien 1994.
Shovana Traxl Narayan, „Wir sind Österreicher" - Erwin Traxl (1884 -1975), 2017.
How Vienna Lives, A cold, hungry, and listless people. Our Special Correspondent, in: The Manchester Guardian, 12.2.1947, S. 4.
70 Prozent aller Schulkinder sind unterernährt, in: Neues Österreich, 20. April 1948, S.3.
Was österreichischen Kindern in England gefallen und missfallen hat, in: Weltpresse, 15.11.1947, S.8.
Wiener Kinder in England, in: Arbeiter-Zeitung, 21.6.1949, S. 5.
Anstandslehre auf der Mölker Bastei, in: Die Weltpresse, 19.9.1946, S. 6.
Quellen:
Private Dokumente/Korrespondenz – Familie Holmes/ Familie Holmes-Edinger.













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