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Peter Stuiber, 13.3.2023

40 Jahre Stadtschrift – 80 Jahre Bodo Hell

Im Stockbus durch die Mondscheinkurve

Der Schriftsteller-Fotograf-Stadtseismograf Bodo Hell hat vor 40 Jahren ein bahnbrechendes Wien-Buch publiziert: Stadtschrift kombiniert Fotografien von Geschäftsbeschriftungen mit dem Text Linie 13 A, einer rasanten Autobusfahrt durch Wien. Gemeinsam mit Hell haben wir die Arbeitsmaterialien zu diesem Buch in der Wienbibliothek im Rathaus besichtigt: Eine 13 A-Jubiläumsfahrt mit Erinnerungen an die Schauspiel-Qualität von Doppeldeckern, Freiräume im Obergeschoß, verschwundene Geschäfte und politische Botschaften an den Hauswänden.

Stadtschrift erschien 1983 in der edition neue texte von Heimrad Bäcker, der schon mit seiner Zeitschrift neue texte für die visuelle und konkrete Poesie ein wichtiges Forum geschaffen hatte. Der Hauptteil des Buches besteht aus Fotografien von Hausbeschriftungen, nach unterschiedlichen Kriterien ausgewählt – Schriftbild, materialtechnische Ausführung, Name, Bezeichnung, Ähnlichkeit oder Gegensätzlichkeit zu anderen etc. Mit dem lustvollen Arrangement dieser Fundstücke, dem Spiel von intendierter und unbeabsichtigter „Message“, den Doppeldeutigkeiten und Frivolitäten, dem Spannungsfeld zwischen Nostalgie und der vermeintlichen oder tatsächlichen Modernität, dem Einklang oder Widerspruch zwischen Schriftbild und „Content“ – mit all dem gelang Bodo Hell ein Coup: Nämlich ein zentrales Merkmal der modernen Großstadt – eben Schrift – auf komplett neue Art ins Bewusstsein zu rücken.

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Nach der Bildstrecke folgt im Stadtschrift-Band ein knapp 27-seitiger Text mit dem Titel „Linie 13 A“: Ein dichtes Gewebe aus Beschreibungen, was im Bus und außerhalb passiert, was (vom Fahrer und den Fahrgästen) zu hören ist und was überhaupt zu sehen und vor allem was zu lesen ist – nicht nur Geschäftsbeschriftungen, auch Werbung, politische Botschaften an den Wänden und im Bus, Aufkleber und Warnschilder: Namen, Begriffe und Satzfragmente, die einen assoziativen Reigen ergeben, ein Parcours der Überraschungen auf der Fahrt vom alten AKH bis zum Südbahnhof. Wobei der Text nicht eine lineare Fahrt abbildet, sondern aus Überlagerungen von Sequenzen besteht, die allesamt entlang der Strecke angesiedelt sind. Was Bodo Hells Text in der österreichischen Literatur so einzigartig macht: Hier wird Stadtleben nicht bloß beschrieben, hier wird Großstadt-Wahrnehmung in ein Lektüreerlebnis verwandelt. Um den ganzen Sog des Textes zu spüren, liest man ihn am besten laut. Er bildet die Bewegung durch die Stadt nach, aber nicht als Spaziergang oder aus der Flaneurperspektive, sondern als „Erfahrung“ im Wortsinne, mit überraschenden Wendepunkten und Haltstellen.

Zitat aus Bodo Hells „Stadtschrift“

„wenn Sie sich im Oberstock ganz hinten (rechts oder links, das Kippfensterchen aufgeklappt, ROTFRONT VERRECKE), wenn Sie sich im Oberstock ganz hinten (wollen Sie nacht wirklich unter der Leuchtstoffröhre sitzen, als gut sichtbare Zielscheibe, USCHI IST SÜSS – MISCHI IST SÜSSER), im Oberstock ganz hinten auf den (in Fahrtrichtung) rechten Sitz setzen und sich nach rechts zurückbeugen, können Sie auf dem Dach der Telefonzelle (ZERSTÖRT ES NICHT DENN ES KANN LEBEN RETTEN), wo der Busfahrer eben telefoniert, einen verschrumpelten staubigen (roten?) Apfel liegen sehen, LITEGA FINA SCHÖPS AIDA, SUPERIMBISS, SCHNELLIMBISS

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Im Jahr 2004 hat Bodo Hell die Materialien zu diesem Projekt der Wienbibiothek im Rathaus übergeben. Der Leiter der Abteilung Handschriften, Musikalien und Nachlässe, Wolfgang Straub, freute sich auch aus persönlichen Gründen über die Idee, gemeinsam mit Bodo Hell das Material von damals zu sichten. „Als ich 1987 nach Wien gekommen bin, hab ich mich für Literatur und für die Großstadt interessiert“, so Straub. „Und `Stadtschrift` hat genau das geboten. Ich habe in dem Buch die Stadt auf eine völlig neue Art und Weise gelesen.“

Wir treffen Bodo Hell in den Loos-Räumen der Wienbibliothek im Rathaus. Wolfgang Straub hat eine Schachtel mitgebracht, deren Inhalt die Stadtschrift-Genese erahnen lassen: Darin befinden sich Notizzettel, Typoskripte, Fotos, aber auch Postkarten und Zeitungsartikel, unter anderem ein Text, den Hell im Falter 1990 anlässlich der Einstellung der Doppeldecker auf der 13 A-Linie publiziert hat.

Bodo Hell ist sofort in seinem Element, blättert in seinen alten karteikartengroßen Notizzetteln und beginnt laut vorzulesen, wobei jedes kleinste Textsegment beim Schriftsteller sofort eine Assoziationslawine in Gang setzt: Wie rasant die Stadt sich verändert habe, welche unglaublichen Sachen es damals noch gegeben habe (wobei Hell alles andere als ein Nostalgiker ist!). „Ich bin viel mit dem 13er gefahren, weil ich – aus dem Alsergrund kommend – oft die Liesl Ujvary, mit der ich viel zusammengearbeitet habe, im 4. Bezirk besucht habe.“ Hell erkennt eine Notiz zur Johann-Strauß-Gasse: „Da ist der Bus diese steile Straße hinaufgeschossen, oben ist diese eigenartige Aufschrift zu Johann Strauß und gegenüber das Vereinslokal einer schlagenden Verbindung, die gibt´s noch heute. Was bleibt über? Die Apotheken, die Putzereien und die schlagenden Verbindungen! Alles andere ändert sich rasant.“

Ob er immer oben gesessen sei, will Wolfgang Straub wissen. „Selbstverständlich! Deshalb ist man ja an den Aufschriften und den Ladenschildern vorbeigefahren, aber nicht nur!“ Der Doppelstock-Bus sei zwar auch auf anderen Linien gefahren, aber der 13 A sei eine besondere Attraktion gewesen, weil eben der Kurs so vertrackt gewesen sei und so viele Engstellen hatte – wie etwa die Mondscheinkurve in der gleichnamigen kleinen Gasse hin zum Siebensternplatz. „Wir haben uns immer geduckt, wenn der 13A bei der Lambrechtgasse unter den Häusern durchgefahren ist. Es war ein richtiges Theatererlebnis! Dann ist einmal einen Umweg gefahren, weil ein Stau war – und alle waren enttäuscht. Es gab unglaubliche performative Elemente auf dieser Fahrt. Ich bin davon überzeugt, dass Leute auch gefahren sind, nur um zu fahren. Oben war ein gewisser Freiraum, die Leute haben oben sogar geraucht. Da sind natürlich die Strizzis gesessen.“ Einen Eindruck von der Perspektive aus dem Doppelstock-Bus geben die Panorama-Arbeitsfotos, die Bodo Hell mit einer russischen Gorizon-Kamera gemacht hat und dann selbst entwickelt hat.

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Immer wieder kommt Hell auf Phänomene zu sprechen, die mittlerweile weitgehend verschwunden sind: Telefonzellen zum Beispiel, ein Sexkino an der Gumpendorfer Straße mit einschlägigen, weithin sichtbaren und bisweilen (aus Platzgründen) merkwürdig abgekürzten Filmtiteln, Geschäftsbeschriftungen wie „Milch“ oder „Fische“, das omnipräsente „Lotto Toto“, die Vielzahl an politischen Botschaften in der Stadt, die sich in seinen Notizen und dann fallweise im finalen Stadtschrift-Text niedergeschlagen haben. „Da gab es diese SS-Runen in der Rainergasse beim Palais Schönborn, die sind lange nicht überstrichen worden. Wenn man den 13er entlanggefahren ist, hat man schon gewartet: Ist das noch dort?“ Hell liest weiter, zitiert ein Graffiti: „Wir wollen Wiens Wiesen.“ Das sei nur im Kontext der damaligen Burggarten-Besetzung zu verstehen. „So eine Fahrt ist unglaublich. Das kann man sich gar nicht dokumentieren, was da alles war. Zum Beispiel am Phorusplatz, wo heute ein Altersheim ist: Da war die Phorushalle, eine Markthalle, die dann abgerissen wurde. Dagegen gab es Proteste, soweit ich mich erinnere. Es gab damals überall Proteste, zum Beispiel auch in der Gassergasse mit der Hausbesetzung. Da war ich noch selber dabei, weil es dort eine Schwarzdruckerei gegeben hat, die Texte von Franz Jung, Oskar Panizza oder Wilhelm Reich gedruckt hat.“

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Noch heute kann Hell in Gelächter ausbrechen, wenn er sich an Skurriles entlang der Strecke erinnert: „Da gab es ein Geschäft mit lauter Röhren, die auf den Treppen davor aufgestellt waren. Und drüber stand: ´Valerie Hölbl, Ihre gewünschte Röhre`.“ Oder die Mehrfach-Beschriftungen, damit die Botschaft auch bei schneller Vorbeifahrt hängenbleibt: „Felle Felle Felle“ etwa, oder auch „Wolle Wolle Wolle“. Oder legendäre (benachbarte) Beschriftungen wie „Otto Ott“ und „Manna Konserven“ bei der Pilgramgasse oder die „Heftlbude“ beim Phorusplatz. Ob er selber während der Fahrt Notizen gemacht habe, fragt Wolfgang Straub. Das schon auch, so Hell, aber er habe dann diese auf Karteikarten übertragen, um einen besseren Überblick zu haben und Ergänzungen machen zu können.

Zitat aus Bodo Hells „Stadtschrift“

Du Mama, Kino, gehen wir da hinein

Schwimm auf der flotten Welle, Rendezvous mit dem Schuh-Schuh-Schuh, Männerbeine sind beim Tanzen weit zwischen die Damenbeine hineingeraten, helle Jersey-Frauen stehen um den Lancia A 112, FÜRNKRANZ MACHT MODE, für Frauen, die Besonderes lieben, der langhaarige Sparkassenhund, er flitzt mit einem Sparbuch im Maul dem rechten Bildrand zu, eine viereckige rosa Packung rutscht aus der Krokotasche, MANNER MAG MAN EBEN, aus der Jeans-Gesäßtasche

„Wenn Du mal ein bestimmtes Volumen geschrieben hast, dann geht das lustig weiter, dann traut man sich viel mehr, etwas hineinschießen zu lassen, durch einen Reim, eine Assonanz oder eine Alliteration“, erinnert sich Hell an die Niederschrift des Textes. „Es ist Aneignung dessen, was vorgeht. Und das ist natürlich unerschöpflich. Aber es muss zu einem Text gerinnen, das ist klar. Das ist, was Prosa kann.“ Den Erfolg der Stadtschrift erklärt der Autor so: „Die Leute haben die Sachen gekannt. Und es ist rotzig geschrieben, Du kannst überall in den Text einsteigen und bist gleich drinnen. Warum ich mir damals sowas getraut hab, weiß ich nicht.“

Ein wichtiges Detail der Rezeptionsgeschichte erzählt Hell gerne: „Helmut Heißenbüttel [ein deutscher Autor und Kritiker] hat den Band in der Süddeutschen Zeitung besprochen, damit war die Auflage ausverkauft. Er kannte mich vom Bielefelder Colloquium Neue Poesie, und er war ein 13er-Fetischist, also bezogen auf die Zahl 13.“ Die Originalausgabe wurde schnell zur heiß begehrten antiquarischen Rarität, was dem Kultstatus des Buches in Kunst/Avantgarde/Urbanismus-Kreisen nicht abträglich gewesen sein dürfte. Erst 2015 erschien im Verlag Bibliothek der Provinz eine Neuauflage der Stadtschrift, die neben den Fotos und der „Linie 13 A“ auch weitere Wien-Texte von Hell enthält. Aus der zeitlichen Distanz heraus hat das Werk jedenfalls noch an Attraktivität gewonnen: Man erlebt eine Stadt, wie es sie längst nicht mehr gibt. Das war 1983 noch nicht der Fall. Da war es eine Art literarisch-visuelle Live-Reportage.

2002 hat sich der Schriftsteller für ein IFK-Symposion noch einmal auf die Fährte der Buslinie begeben, doch das war aus seiner Sicht eher eine schnelle Fingerübung. „Jetzt wäre es vielleicht wieder interessant, weil es eine neue Sprachlichkeit gibt. Aber man müsste die Sache wirklich gründlich angehen. Und man dürfte dabei nicht auf die alten Geschäfte wie den Borten Peter in der Neubaugasse reinfallen.“ Bodo Hell hätte zweifellos die Energie dazu. Was fehlt, ist der Stockbus.

Zitat aus Bodo Hells „Stadtschrift“

der Bus kriecht die Kellermanngasse (Zelt des Kara Mustafa) hinauf, im Spargang auf die Ampel zu, die Jugendlichen im Oberstock helfen mit ho-ruck-Rufen nach, TISCHLEREI HOFMANN, für einen kurzen Moment wird der Blick in eine Elendsquartier (Männerrücken) frei, STILMÖBEL KALKE, der Bus kommt fast zum Stehen, WIEN GLOST, jemand deutet aus dem Oberstock auf einen Passanten hinunter, ruft, klopft an die Scheibe, der Bus fährt langsam an, wird schneller, die ho-ruck-Rufe gehen in Applaus über, der Angerufene schaut nicht herauf, setzt seinen Weg unbeirrt fort, der Rufer haut sich mit der Faust auf den Schenkel, macht sich mit Räuspern Luft

 

Hinweis: Aus Anlass von Bodo Hells 80. Geburtstag findet am 15. März im Jazzclub Porgy & Bess eine Spätlese von und für Bodo Hell statt. 

Peter Stuiber studierte Geschichte und Germanistik, leitet die Abteilung Publikationen und Digitales Museum im Wien Museum und ist redaktionsverantwortlich für das Wien Museum Magazin.

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Kommentare

Peter Stuiber

Lieber Didi, vielen Dank für das Lob!! Das freut mich ungemein!! Und ja: Wir können uns glücklich schätzen für all diese wunderbaren Texte.... liebe Grüße, Peter

Didi Sattmann

Ach Peter, was für ein wunderbarer Essay über Bodo, die Stadtschrift und dieSammlungen der Stadt das geworden ist! Mayröcker - Jandl - Hell, was für ein leuchtendes Dreigestirn!
Gratulation! Didi Sattmann