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Queere Bezirksgeschichten
Verfolgt weil verliebt
„Im Mai 1938 erstattete die Reichstatthalterei Wien Anzeige bei der Gestapo, dass hier bekannt wurde, dass Dr. Allgäuer homosexuell verlangt sein soll. Erste Ermittlungen bestätigen den Verdacht gegen den 65-jährigen Hofrat im Ruhestand. In seinem Wohnhaus genoss er in moralischer Hinsicht […] keinen guten Ruf, junge Männer würden regelmäßig bei ihm verkehren.“
„Nachdem die 23-jährige Elisabeth Gussmann am 11. April 1939 wegen Diebstahlverdachts und weil sie lesbischen Verkehr pflegt, festgenommen worden war, begann die Kriminalpolizei mit Ermittlungen, die sie auch ins Haus Linke Wienzeile 102 führte.“
Es ist alles andere als selbstverständlich, dass wir die Biografien von Menschen wie Johann Allgäuer und Elisabeth Gussmann heute – wenn auch nur bruchstückhaft – nachvollziehen können. Sie wurden im Nationalsozialismus wegen eines Verstoßes gegen Paragraph 129, der „Unzucht mit Personen desselben Geschlechts“, vor Wiener Gerichte gestellt. Die Akten zu solchen Verfahren wurden in der Regel als wertlos betrachtet und in vielen Archiven österreichweit kurzerhand aussortiert.
Nicht so in Wien. Der Historiker und Kurator Andreas Brunner betont die Rolle von Archivar:innen des Wiener Stadt- und Landesarchivs, die sich 1986 dafür entschieden haben, sämtliche Akten zur strafrechtlichen Verfolgung von Homosexualität prioritär zu behandeln und aufzubewahren. Andreas Brunner und sein Team konnten bisher 1.400 Männer und 80 Frauen ausmachen, die während der NS-Zeit in Wien aufgrund ihrer Sexualität verfolgt wurden. Unter dem Titel „Als homosexuell verfolgt“ werden nun 17 dieser Schicksale in den Bezirksmuseen Mariahilf und Leopoldstadt gezeigt.
Bisexuell, trans- oder intergeschlechtlich, lesbisch oder schwul zu sein, war über Jahrhunderte hinweg geächtet. Die aktive Verfolgung dieser Personen erreichte im Nationalsozialismus allerdings ihr größtes Ausmaß. Wenn die Verfolger der Meinung waren, ein Verbrechen der „Unzucht wider die Natur“ festgestellt zu haben, wurde eine Bandbreite an Schuldsprüchen verhängt. Sie reichte von Kerkerhaft über Maßnahmen wie der „freiwilligen“ Kastration bis hin zur Einweisung ins Konzentrationslager – letzteres überlebten nicht einmal 30% der Inhaftierten. Die verfolgten Personen kamen aus den unterschiedlichsten Verhältnissen und aus allen Teilen der Stadt. Andreas Brunner nimmt die Wohnadressen der Menschen als Ausgangspunkt, um ihre Biografien zu erzählen, und stellt somit eine unmittelbare Nähe zu den Verfolgungsgeschichten her.
In der Praterstraße 36 im 2. Bezirk lebte etwa Berthold Windisch, der unter dem Spitznamen „Anita“ in Praterlokalen verkehrte und dessen Liebesbriefe als Beweismittel von der Gestapo konfisziert wurden. In der Ennsgasse 15, ebenfalls im 2. Bezirk, teilten sich Maria Zednik und Helene Eberlein eine Wohnung und wurden deshalb von Zedniks ehemaligem Liebhaber angezeigt. Und in der Kasernengasse 5, heute Otto-Bauer-Gasse 5, im 6. Bezirk lebte Josef Weisseneder. Er soll sich unter anderem im Café Goethe in der Mariahilferstraße – dem heutigen McDonalds – „gleichgeschlechtlich betätigt“ haben, woraufhin er ins KZ Mauthausen überstellt wurde. Ulrike Illsinger vom Bezirksmuseum Mariahilf ist überzeugt: Wer sich auch nur einen Funken für die Geschichte des eigenen Grätzls interessiere, müsse auch das sehen.
Dass vor der Eröffnung der Ausstellung teilweise auch Skepsis herrschte, berichtet Michael Grüssinger vom Bezirksmuseum Leopoldstadt: Das Thema sei sicher nicht leicht „verdaulich“. Aber die Zahlen und Reaktionen der Besucher:innen gäben der Ausstellung recht. Diskussionen entspinnen sich, die Umgebung wird mittels queerer Spaziergänge neu erkundet und viele kommen aufgrund des Themas überhaupt zum ersten Mal ins Bezirksmuseum.
Neben den Biografien zeigt die Ausstellung auch bisher wenig bekannte Facetten einer queeren Wiener Szene in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Der Wurstelprater ist das Paradebeispiel für einen Ort, an dem Menschen im Trubel der Massen und Attraktionen untergehen konnten. Praterlokale wie das Gasthaus Emminger oder das Gasthaus „Zur Schönen Schäferin“ werden in den Akten immer wieder als Raum für homosexuelle Begegnungen genannt. Genauso die Praterkinos, wo außerdem viele Stricher verkehrten und ihre Dienste anboten. Der Ort, an dem bei weitem die meisten Männer wegen homosexueller Kontakte verhaftet wurden, war aber das Esterházybad im 6. Bezirk. Dass die Dampfbäder beliebte Treffpunkte schwuler Männer waren, war leider auch der Kriminalpolizei bekannt, und sie begann, dieses und andere Bäder gezielt zu überwachen.
Mit seinen Forschungen rückt Andreas Brunner jene in den Mittelpunkt, deren Geschichten lange unsichtbar waren. Die Ausstellung „Als homosexuell verfolgt“ holt sie aus der Anonymität und lässt Besucher:innen in vergangene Lebenswelten Einblick nehmen, die im Schatten von Vernichtung und Bedrohung existierten.
Hinweise:
Die Ausstellung „Als homosexuell verfolgt“ wurde von Andreas Brunner (QWIEN – Zentrum für queere Geschichte) kuratiert und ist im Rahmen von Bezirksmuseen Reloaded in Zusammenarbeit mit der Stabstelle Bezirksmuseen im Wien Museum entstanden. Sie ist bis 30.06.2024 im Bezirksmuseum Leopoldstadt und Bezirksmuseum Mariahilf zu sehen. Der Eintritt ist frei.
In Buchform sind Andreas Brunners' Forschungen ebenfalls nachzulesen: „Als homosexuell verfolgt. Wiener Biografien aus der NS-Zeit“ ist 2023 im Mandelbaum Verlag erschienen und im Shop des Wien Museums sowie im Buchhandel erhältlich.
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Kommentare
Sehr geehrter Herr Hovezak, vielen Dank für Ihre positive Rückmeldung! Wir werden sie gerne auch an Andreas Brunner weiterleiten! Beste Grüße, Peter Stuiber (Wien Museum Magazin)
Ich lese gerade Andreas Brunners Buch – ein unglaublich gut recherchiertes und designtes Werk, das ein wichtiges Licht auf das Wien in seiner dunkelsten Periode wirft. Als queerer ex-Wiener kommen einem all diese Fallbeispiele noch näher als ursprünglich gedacht.