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Susanne Breuss, 30.7.2024

Die Fotografin und Sammlerin Trude Lukacsek

Sehenswürdigkeiten des Alltäglichen

Alte Geschäftseinrichtungen, liebevoll arrangierte Auslagen, in die Jahre gekommene Schaufensterfiguren oder flott geschwungene Neonschriftzüge: Die Fotografin Trude Lukacsek dokumentiert seit fünf Jahrzehnten die vom Verschwinden bedrohten Artefakte der Wiener Alltagskultur und des anonymen Designs.

Am Anfang war das Schaufenster: Mit ihrem Geburtsjahr 1955 ist die Wiener Fotografin Trude Lukacsek nicht nur ein Kind der wiedererlangten staatlichen Unabhängigkeit nach den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft und der alliierten Besatzung, sondern auch ein Kind des beginnenden „Wirtschaftswunders“. Letzteres machte sich ab Mitte der 1950er Jahre zunächst nur zögerlich, dann immer deutlicher bemerkbar. Nach den teilweise massiven Zerstörungen und Einschränkungen der Kriegs- und Nachkriegszeit war nun nicht mehr nur die Versorgung mit dem Lebensnotwendigsten gesichert, es eröffnete sich langsam auch ein neuer Konsumhorizont, der breiten Bevölkerungsschichten ein schöneres, besseres und komfortableres Leben versprach und zu einem wichtigen Motor der Entwicklung der Zweiten Republik wurde. In den Auslagen der wieder- und neueröffneten Geschäfte konnte man bereits besichtigen, was man sich vielleicht noch nicht sofort, aber hoffentlich in naher Zukunft leisten konnte: Kleider aus fröhlich bedruckten Stoffen, durchsichtige Nylonstrümpfe, pflegeleichte Nyltesthemden, moderne Möbel, transportable Radios, die ersten Fernsehgeräte, elektrische Kühlschränke, arbeitssparende Küchenmaschinen, bunte und unzerbrechliche Kunststoffgegenstände.

Auf die kleine Trude Lukacsek übten die Schaufenster als Bühnen der Warenwelt eine starke Faszination aus – bezeichnenderweise war Schaufensterdekorateurin dann auch ihr erster als Kind geäußerter Berufswunsch. Wenn sie mit ihrer Mutter, einer Schneiderin, auf Spaziergängen oder für Besorgungen in der Stadt unterwegs war, durchlief sie nicht nur so etwas wie eine frühe Sehschule, denn ihre Mutter machte sie auf interessante Details und Phänomene der urbanen Umwelt abseits der üblichen Sightseeing-Attraktionen aufmerksam, und lehrte sie so, den Blick auch auf das zu richten, was sich nicht laut und penetrant in den Vordergrund drängt.

Viel Anlass zum Staunen boten vor allem auch die schön arrangierten Auslagen der Geschäfte. Noch heute erinnert sie sich gerne an die aufsehenerregenden Weihnachtsauslagen des Kaufhauses Gerngross auf der Mariahilferstraße mit ihren mechanisch bewegten Puppen und Stofftieren oder an die Matador-Auslagen, in denen sich meist ein kleines Matador-Riesenrad drehte. Besonders schön fand sie die Faschingsauslagen mit der konfettibestreuten Ware, den Papierschlangen und den Lampions, oder die Auslagen der von ihrer Mutter häufig aufgesuchten Stoffgeschäfte, in denen die Schaufensterpuppen keine normalen Kleider trugen, sondern in üppig drapierte Stoffbahnen gehüllt waren. Einblick in die Tätigkeit des Schaufensterdekorierens erhielt sie beim mit der Familie befreundeten Delikatessenhändler Wild auf der Josefstädterstraße, der oft sehr aufwendig und in wochenlanger Arbeit gestaltete Auslagen mit Figuren, Szenerien und Hintergründen präsentierte, um beispielsweise eine neue Käsemarke zu bewerben.

Da die finanziellen Verhältnisse der Familie eher bescheiden waren, blieb es meist beim bloßen Besichtigen der in den Auslagen präsentierten Dinge. Doch es gab ja Reklamebroschüren und Illustrierte, in denen sie abgebildet waren. Aus ihnen schnitt sich das Kind jene Dinge aus, die es besonders schön fand, und legte sich so eine stetig wachsende Sammlung papierener Abbilder verschiedenster Gegenstände an. Im Alter von 17 Jahren erhielt Trude Lukacsek ihren ersten Fotoapparat geschenkt, was sie rückblickend als wahre Offenbarung bezeichnet. Nun weiteten sich nämlich ihre Möglichkeiten, Dinge bildlich zu sammeln enorm aus, denn sie war fortan nicht mehr auf die bereits von anderen produzierten und publizierten Bilder beschränkt, sondern sie konnte alles fotografieren und festhalten, was ihr selbst bildwürdig erschien. Und es ergab sich noch eine neue, äußerst willkommene Möglichkeit, reale Dinge zu sammeln: Ab 1972 wurde Am Hof nach dem Vorbild des berühmten Pariser Marché aux Puces ein (1977 dann auf den Naschmarkt verlegter) Flohmarkt abgehalten, den die Jugendliche gerne aufsuchte, um für wenig Geld Gegenstände zu erwerben, die es in den Geschäften mit der modernen, zeitgenössischen Ware gar nicht gab. Ihre erste Anschaffung: ein paar alte, dickwandige Trinkgläser mit einem handgemalten abstrakten Muster, für die sie sich noch heute begeistern kann.
 

Museumswürdige Dinge

Mit solchen Dingen richtete sich Trude Lukacsek im Lauf der Zeit so etwas wie ein persönliches kleines Museum der historischen Alltagskultur ein, wohlgemerkt bereits zu einem Zeitpunkt, als es in den großen Museen noch keineswegs selbstverständlich war, solche „gewöhnlichen“ und „banalen“ Artefakte zu sammeln und als „museumswürdig“ einzustufen. Davon sollten später ebendiese Museen profitieren, wenn sie von ihr Leihgaben für alltagshistorische Ausstellungen zur Verfügung gestellt bekamen. In ihrem Fundus finden sich Keksausstechformen und farbenfrohe Siphonflaschen ebenso wie Kinderkaufmannsläden, Einwickelpapiere aus Warenhäusern, Tapetenmuster, Bonbonhüllen, Blumenprospekte, Billetts, Notizhefte, bedruckte Papierservietten, Zeichenschablonen, Kunststoffgeschirr, Cocktailspießchen, Kaffeeverpackungen oder Espressowerbeschilder. Neben viel Papier und Kunststoff ist auch viel Textiles dabei, angefangen von Restbeständen an Stoffen bis hin zu Kleidungsstücken – gleichsam ein Echo auf die faszinierende textile Welt ihrer als Schneiderin tätigen Mutter.

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Und wie wurde aus der kindlichen und jugendlichen Sammlerin die Fotografin, als die Trude Lukacsek heute bekannt und geschätzt ist? Die Weichen für eine brotberufliche Laufbahn wurden zwar durch den Besuch einer Handelsakademie gestellt, aber die eigentliche Berufung war stets das Fotografieren, und das wurde von ihr immer systematischer und professioneller parallel zur Erwerbsarbeit als Produktions- und Projektassistentin in verschiedenen Wiener Kulturinstitutionen betrieben. Befragt zu ihren fotografischen Einflüssen und Vorbildern, nennt sie zunächst ihren bereits früh verstorbenen Vater, der sie als Freizeitfotograf zwar nicht mehr persönlich mit der Welt der Fotografie vertraut machen konnte, von dessen Begeisterung für die Fotografie ihr die Mutter aber immer wieder erzählte. Später waren es die Werke von Künstlern und Fotografen aus dem Umfeld des Hyperrealismus und der New Colour Photography, die sie beeindruckten, weil diese ebenso wie sie selbst ein großes Interesse an alltäglichen und urbanen Phänomenen besaßen und nach dem Wesen der Dinge fragten. Von den österreichischen Fotografen nennt sie speziell den unermüdlichen Alltagschronisten Franz Hubmann, der ihr künstlerisch wie menschlich ein Vorbild war.

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Ihr Werk zu alltagskulturellen Phänomenen umfasst heute rund 70.000 Fotografien, aufgenommen nicht nur in Wien, sondern darüber hinaus überall dort, wo sie ihre zahlreichen kürzeren und längeren Ausflüge und Reisen hinführen, überwiegend in verschiedene europäische Länder, auch in solche, die an der Peripherie touristischer Wahrnehmung liegen. Aus den Fundstücken solcher Reisen entstand 2002 ein Buch über den Strand und seine ephemere Architektur. Was an den Strandfotos auffällt, ist generell ein Merkmal ihres Werks: Trude Lukacsek fotografiert keine Menschen, sondern Gegenstände (bei den Strandfotos fällt es wahrscheinlich deshalb besonders auf, weil man meist die weithin üblichen Menschenmassen an den touristisch genutzten Stränden vor dem inneren Auge hat). Indirekt sind die Menschen auf den Fotos jedoch immer präsent: als die Erfinder, Gestalter, Hersteller und Nutzer der abgebildeten materiellen Kultur. Sie findet es bemerkenswert, wie etwa selbst die schlichtesten und flüchtigsten Arrangements von Dingen vom Gestaltungswillen und von der Persönlichkeit der Geschäftsinhaber und Dekorateure zeugen.
 

Individuelle Dinge aus Massenproduktion

Auf Trude Lukacseks Fotografien wirken die Dinge oft sehr lebendig, denn sie porträtiert sie wie menschliche Individuen in ihrer speziellen Einzigartigkeit, auch wenn es sich um billige, massenhaft hergestellte Industrieprodukte oder um abgenutzte Relikte handelt. In ihrem jeweiligen Umfeld, in ihrer jeweiligen Inszenierung und mit ihren jeweiligen Gebrauchsspuren verfügen auch sie über eine individuelle Lebensgeschichte. So kommt es, dass man angesichts einiger der von ihr fotografierten Schaufensterfiguren meint, jederzeit eine kleine Plauderei mit ihnen beginnen zu können, dass man mit Erstaunen zur Kenntnis nimmt, dass sogar verstaubte, verblasste und vergessene Dinge einen ganz eigenen Glanz auszuströmen imstande sind, und dass scheinbar Banales oder Wertloses interessante Geschichten zu erzählen vermag. Während manche Fotografen als aggressive Jäger auftreten und stolz ihre spektakuläre Beute präsentieren, agiert Trude Lukacsek auch als Fotografin wie eine Sammlerin im Sinne einer Finderin. Die visuellen Attraktionen entdeckt sie dort, wo andere oft nicht einmal hinschauen, sie lässt sich von Zufallsfunden überraschen und erfreut sich am Wunderbaren und Poetischen des scheinbar Kleinen, Unspektakulären und Nebensächlichen. Selbst Schäbiges wird von ihr nicht als Ramsch diskreditiert, sondern darf sich in Würde präsentieren.

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Ihr Zugang zur materiellen Kultur reflektiert und vermittelt immer auch deren Historizität – die Spuren, die die Zeit an den Dingen hinterlassen hat, empfindet sie daher nicht als Makel, sondern als integralen Bestandteil des individuellen Lebens von Dingen. Die von ihr fotografierten Ensembles (zum Beispiel Geschäfts- und Gewerbelokale) muten oft wie aus der Zeit gefallen, wie kleine Museen an. Bei oberflächlicher Betrachtung und in Unkenntnis ihrer Beweggründe könnte man ihr deswegen womöglich einen Hang zur Idylle oder eine nostalgische Perspektive unterstellen. Auch wenn sie sich selbst durchaus einen Hang zum „Retten“ zugesteht, fotografiert sie das Alte und Verschwindende aber nicht deshalb bevorzugt, weil sie es dem Neuen gegenüber grundsätzlich bevorzugen und höher bewerten würde, sondern weil sie es noch bildlich festhalten möchte, bevor es tatsächlich verschwunden ist (alltagskulturelle Artefakte stehen ja selten unter Denkmalschutz, sie können also jederzeit verschwinden, und tatsächlich ist bereits vieles, was sie fotografiert hat, verschwunden). Für das Neue bleibe ihr noch genügend Zeit, meint sie zuversichtlich.

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Neben diesem pragmatischen arbeitsökonomischen Zugang ist es ihr starkes Interesse an den strukturellen Merkmalen der materiellen Kultur (deswegen etwa auch die vielen Serien mit bestimmten Typen von Dingen), das sie vor einer nostalgisch-verkitschten Sichtweise bewahrt. So sachlich und formal ihr Blick einerseits ist, so sehr weiß sie gleichzeitig das Schöne, Poetische, Anrührende und Zauberhafte ihrer Sujets zu würdigen und zu vermitteln. Ob alt oder neu ist dabei letztlich egal. Sie bedauert es zwar, dass in Wien in den letzten Jahren so viel Altes verschwunden ist, sie trauert ihm allerdings nicht nach, und sie hat überhaupt keine Sorge, dass ihr deswegen die Sujets ausgehen könnten, denn „es kommt ja ständig etwas nach“. Mit ihrem neugierigen und wertschätzenden Blick entdeckt sie ihre Bildmotive überall in der Stadt, auch in den neuen Stadterweiterungsgebieten.

Ihr Motto ist bis heute unverändert und erinnert an die Flaneure des 19. und frühen 20. Jahrhunderts: „Gehen, gehen, gehen. Schauen, schauen, schauen“. Während jene das mehr oder weniger zufällig Erschaute in Worten festhielten, hält sie es in ihren Fotografien fest. Ein Faible für das Alltägliche, Ephemere und Beiläufige, speziell auch für die Phänomene der Konsumkultur, ist ihnen allen gemeinsam. Angetrieben von einem ausgeprägten Erkundungs- und Erforschungswillen durchstreift Trude Lukacsek bekannte wie unbekannte Gegenden, hält die Augen offen, notiert und fotografiert. Sie erfreut sich an den zahllosen Farben, Formen und Mustern, die ihr begegnen, an den Szenerien, die durch die Arrangements entstehen, und oft ganze Romane erzählen oder wie unbeabsichtigte Kunstinstallationen wirken. Oft kehrt sie an bestimmte Orte immer wieder zurück und schaut nach, was sich alles verändert hat. So hat sie beispielsweise die Schaufensterfiguren einzelner Geschäfte immer wieder aufs Neue in ihren wechselnden Outfits porträtiert.
 

Die Überraschung der visuellen Eindrücke

Fragt man Trude Lukacsek, ob ihr eigentlich ihre realen oder ihre fotografierten Dinge wichtiger sind, fällt die Antwort nach anfänglichem Zögern doch eindeutig aus: Auch wenn sie ihre zu immer wieder neuen Ensembles arrangierten und damit neu zu entdeckenden Sammlungen nicht missen möchte, sind ihr letztlich doch die (mittlerweile digital hergestellten) Fotos wichtiger. Damit sind ihr schlicht und einfach nicht so viele – nicht zuletzt räumliche – Beschränkungen auferlegt wie beim Sammeln der realen Dinge. Mit der Kamera kann sie beispielsweise auch groß dimensionierte Artefakte und Ensembles wie Schwimmbäder oder Frisiersalons sammeln, Ringelspiele und Kinderschaukeln, Strandkörbe oder Vergnügungsparks. Außerdem geht es ihr bei ihrem Interesse für die materielle Kultur ohnehin weniger um das Besitzen der Gegenstände, sondern in erster Linie um die vielfältigen und oft so überraschenden visuellen Eindrücke – Sehen und Zeigen geht vor Besitzen.

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Einen wichtigen Platz in Trude Lukacseks Schaffen nimmt seit 2013 die in Kooperation mit dem k48 – Projektraum Oliver Hangl durchgeführte Foto-Projektions-Reihe „Objets sauvés“ (Gerettete Gegenstände) ein, in der sie die beiden Ebenen des Fotografierens und Sammelns von Objekten miteinander verbindet. Hier zeigt sie Fotos aus ihrem umfangreichen Archiv sowie Abbildungen von ihren gesammelten Objekten, dazu spricht sie über das Auffinden, die Bedeutung und die Geschichte der Dinge. Bezeichnend sind die Titel der einzelnen Folgen dieser Reihe, sie lauten zum Beispiel „Die Ortung der Dinge“ oder „Aller guten Dinge sind viele“.

Im Wien Museum ist Trude Lukacsek nicht nur mit einer kleinen Auswahl ihres umfangreichen fotografischen Werks in den Sammlungen vertreten, sie war auch mehrfach in Ausstellungen präsent, mit ihren Fotos ebenso wie mit Leihgaben aus ihrer privaten Sammlung historischer Alltagsgegenstände – so zum Beispiel in „Die Sinalco-Epoche. Essen, Trinken, Konsumieren nach 1945“ (2005), „Window Shopping. Eine Fotogeschichte des Schaufensters“ (2010) oder „Mit Haut und Haar. Frisieren, Rasieren, Verschönern“ (2018). Im Jahr 1999 präsentierte das Wien Museum (damals noch: Historisches Museum der Stadt Wien) unter dem Titel „Füllhalter, Feen und Farbenkönig“ rund 150 ihrer Werke im Otto Wagner-Pavillon am Karlsplatz.

In der Online Sammlung des Wien Museum sind 100 Aufnahmen von Trude Lukacsek zu finden.

Susanne Breuss studierte Europäische Ethnologie, Geschichte, Philosophie und Soziologie an der Universität Wien und an der TU Darmstadt und war von 2004 bis 2023 Kuratorin im Wien Museum. Sie unterrichtet an der Universität Wien und schrieb für die Wiener Zeitung. Im Zentrum ihrer Arbeit stehen historische und gegenwärtige Alltagskulturen sowie museologische Fragen. 

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Kommentare

M Holt

Spannend und sehr interessant! Danke!.