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Die Komponistin und Musikerin Hilde Loewe-Flatter
Deckname „Henry Love“
Hilde Loewe wurde als Hilde Löwi am 18. Juli 1895 geboren, Loewes Eltern waren der jüdische Kaufmann Ernst Löwi und seine Frau Szeréne. Nach ihrem Studium an der Akademie für Musik und Darstellende Kunst begann Loewe in den 1920er Jahren eine vielversprechende Karriere als Pianistin und Klavierbegleiterin, 1930 und 1931 trat sie u.a. mit der bedeutenden Geigerin und Nichte Gustav Mahlers, Alma Rosé, und dem Geiger Váša Příhoda auf. Neben ihren Tätigkeiten als Pianistin war Hilde Loewe auch als Musikpädagogin tätig, zu ihren Schüler:innen zählte u.a. Anna Mahler, die Tochter Alma und Gustav Mahlers.
Der Schauspieler, Regisseur, Filmemacher und spätere Burgtheaterdirektor Raoul Aslan hatte Hilde Loewe ursprünglich zum Komponieren ermuntert, der renommierte Wiener „Bohème Verlag“ (der von Robert Stolz mitbegründet worden war) veröffentlichte ihr Werk und überzeugte die Künstlerin, das Pseudonym „Henry Love“ zu verwenden. Loewes Kompositionen zeigen Vielfalt, Melodienreichtum und Einfühlsamkeit, das Komponieren und Musizieren schien ihr in die Wiege gelegt. Laut Berichten ihres Mannes nahm Hilde Loewe ihr Talent zu komponieren nicht wirklich ernst. Dies lässt sich durch den historischen Kontext erklären, ähnlich wie bei der bedeutenden französischen Komponistin Cécile Chaminade, die zuerst als Pianistin große Erfolge erzielte und auf diese Weise auch ihre eigenen Werke präsentieren konnte. Einerseits gab es in den „wilden 1920er Jahren“ das Bild der emanzipierten berufstätigen Frau, die sich unabhängiger und freier bewegen konnte und beispielsweise ohne Aufsichtspersonen in Tanzlokale gehen durfte. Pianistinnen und Sängerinnen waren zwar immer gefragt und gesellschaftlich weitgehend anerkannt, Komponistinnen blieben jedoch eine Randerscheinung und galten als exotisch und unweiblich.
Hilde Loewes Lieder wurden sehr häufig im Rundfunk übertragen – dies spricht für ihre Qualität – und sie müssen den Hörerinnen und Hörern vertraut gewesen sein. Was den Wechsel zwischen den Genres E- und U-Musik betraf, bewerkstelligte sie diese mühelos. Bereits 1929 nahm Loewe unter dem Pseudonym „Henry Love“ für Columbia Platten auf. Eine ihrer bekanntesten Kompositionen ist „Das alte Lied“, zu dem Fritz Löhner-Beda den Text verfasst hat. Das Lied wurde ein Hit und unzählige Male im Radio bundesweit übertragen. In den bedeutendsten Zeitungen der Ersten Republik, wie „Die Stunde“, „Neues Wiener Journal“, „Tiroler Anzeiger“, „Reichspost“ u. a. m. finden sich wöchentlich Ankündigungen, manchmal auch unter dem Pseudonym „Henry Love“. „Das alte Lied“ erlangte besonders durch die Interpretation der beliebten Tenöre Koloman von Pataky, Richard Tauber und Rudolf Schock Weltruhm.
Das Lied wurde auch von namhaften Jazzbands interpretiert, wie von jener des österreichischen Bandleaders und Schlagzeugers Hans Robert Korngold. Er war der ältere Bruder des bedeutenden Komponisten Erich Wolfgang Korngold. Hans Robert Korngolds Band spielte aktuelle Tanz- und Schlagermusik der 1920er und 1930er Jahre in populären Wiener Etablissements wie der „Oase“, dem „Moulin Rouge“, dem „Café Sacher“ u. a. m. Die Darbietungen wurden regelmäßig von der RAVAG (Radio-Verkehrs-AG) gesendet (so auch die Interpretation des „Alten Lieds“ durch Korngolds Kapelle). Die RAVAG wurde 1924 als erste Wiener Rundfunkgesellschaft gegründet. Das neue Medium bildete ein hervorragendes Forum und sah sich in erster Linie als Vermittler eines Bildungsauftrags. Hauptaugenmerk wurde auf die Übertragung von Wiener Liedern, Chansons und Kabarettliedern gelegt. Ein bedeutender Radiopionier, Komponist und Kapellmeister für Unterhaltungsmusik war Adolf Pauscher. Ab 1927 war er für Radio Wien tätig und spielte dort u. a. Loewes „Du hast längst mich vergessen“. Robert Stolz interpretierte mit seiner Tanzmusik im Februar 1932 Loewes Tango „Bleib mir treu“. Von großer Bedeutung für die Unterhaltungsmusik waren auch das Quartett Bert Silving und die Kapelle Karl Haupt, die Loewes Tango „Gianitta“ zur Aufführung brachten. Die Anzahl der österreichischen Radioprogramme, in denen diese Werke zwischen 1929 und 1938 angekündigt wurden, ist sehr hoch. Ein interessantes Detail ist der Ort, von dem fallweise gesendet wurde – der sogenannte „Grill Room“ des Hotel Bristol in Wien, der nach dem Vorbild des Speiseraums des 1912 versunkenen Luxusdampfers Titanic eingerichtet war.
Loewes Hit „Das alte Lied“ wurde auch von Hildegard Knef, Marlene Dietrich und dem kürzlich verstorbenen Peter Schreier interpretiert. Lange ahnte niemand, dass die Komposition aus der Feder Hilde Loewes stammte, weil sie das Lied unter ihrem Pseudonym „Henry Love“ erscheinen hatte lassen. 1930 erlangte das Lied durch Richard Tauber große Bekanntheit. Er sang es unter anderen in dem Tonfilm „Ich glaub nie mehr an eine Frau“. Das Tanzlied „Madelon“ erfreute sich großer Beliebtheit und wurde mehrmals im Radio gesendet. Ebenso der Tango „Verklungen“. Das Lied „Liebes, altes, klingendes Wien“ ist nach Art des English Waltz komponiert: ein wahres Juwel, das heute bei unseren Konzerten immer wieder großen Beifall findet. Uraufgeführt wurde die Komposition wenige Monate vor dem „Anschluss“ Österreichs auf einem Ball der Österreichischen Gesandtschaft in London.
Überliefert ist, dass Loewe 1929 auf vielen Konzertprogrammen bereits ihren eigenen Namen verwendete, jedoch später wieder auf den Namen „Henry Love“ zurückgriff. Was wäre gewesen, wenn sie sich entschieden hätte, vermehrt Augenmerk auf das Komponieren zu legen? Vielleicht hätten ihre Melodien ähnlich wie die von Robert Stolz auf allen großen Bühnen der Welt schon damals Weltruhm erlangt? Es war daher mit Sicherheit unter den gegebenen Zeitumständen einfacher, unter dem Namen Henry Love mit eigenen Kompositionen in Erscheinung zu treten. Auch ergab sich dabei die Chance, bei Konzertabenden eigene Kompositionen unter diesem Namen vorzutragen.
1934 heiratete Loewe den Maler Joseph Otto Flatter (1894–1988), das Ehepaar Loewe-Flatter entschloss sich noch im selben Jahr, Österreich aufgrund der neuen politischen Verhältnisse (Stichwort: „Ständestaat“) zu verlassen. Sie fanden in England eine zweite Heimat. 1936 erhielt Loewe die Arbeitserlaubnis als Pianistin. Berichten zufolge unternahm die Künstlerin zwischen 1934 und 1938 sehr viele Konzertreisen, sie trat auch wieder in Österreich auf. Nach dem „Anschluss“ Österreichs sind Auftritte im Londoner Austrian Centre im Jahre 1939 und im British Austrian Club 1941 belegt. Zu Kriegsbeginn erhielt die Musikerin die Erlaubnis, als Korrepetitorin und Liedbegleiterin tätig zu sein. So trat sie zwischen 1939 und 1941 in Veranstaltungen der Liszt Society und im British Austrian Club als Pianistin und Begleiterin auf. Zusätzlich stellte sie ihre künstlerische Tätigkeit in die Dienste der Entertainments National Service Association (ENSA) und spielte für britische Soldaten auf. In den Nachkriegsjahren trat sie wieder gemeinsam mit Sänger:innen und Instrumentalist:innen auf. Im Jahre 1947 wurde sie britische Staatsbürgerin.
Hilde Loewe war bis 1971 als Klavierbegleiterin bei Konzerten aktiv, auch war sie in Wien ebenso wie in London eine gefragte Klavierpädagogin. Laut Berichten ihres Ehemannes Joseph Flatter hatte ihre Komposition „Das alte Lied“ während des Zweiten Weltkrieges nichts an Beliebtheit eingebüßt – es wurde zum Evergreen. Wohl aber geriet die Urheberin in Vergessenheit. Der österreichische Komponist und Zitherspieler Anton Karas spielte „Das alte Lied“ im Film „Der dritte Mann“. Und Hilde Loewe selbst interpretierte 1949 es als Pianistin gemeinsam mit dem Tenor Rudolf Schock bei einem Festkonzert anlässlich des 200. Geburtstages von Johann Wolfgang von Goethe. Für den Tenor Rudolf Schock begann eine Weltkarriere, das Konzert in London hatte nach seiner Tournee durch Australien stattgefunden und seine Darbietung von Loewes „Das alte Lied“ trug zu Schocks Erfolg bei.
Es ist offensichtlich, dass Loewes Geschlechtszugehörigkeit dafür ausschlaggebend war, dass ihre Autorinnenschaft im Hintergrund stand. Trotzdem konnte sie ihre künstlerische Tätigkeit vor allem als Pianistin im Exil erfolgreich fortsetzen. Nicht klar zu beantworten ist, ob sie – wenn sie keinen Einschränkungen unterworfen gewesen wäre und sich nicht den Gegebenheiten im Exil anpassen hätte müssen – das Komponieren in den Mittelpunkt ihres Schaffens gestellt hätte. Für sie galt es in erster Linie, sich eine Existenz im Exilland zu sichern.
Hilde Loewe-Flatter starb 1976 in London. Joseph Otto Flatter, der seine Frau um 12 Jahre überlebte, hatte Mühe, die Rechte für Loewes Kompositionen sicherzustellen. In der jüngeren Vergangenheit wurde Hilde Loewe-Flatter als Komponistin wiederentdeckt. So brachte die deutsche Sängerin Evelyn Förster Loewes in Vergessenheit geratene Chansons zur Aufführung. 2013 wurde die Chanson-Operette „Der Fensterputzer von Monte Carlo“ im Theater Nestroyhof Hamakom uraufgeführt. Und drei Jahre später führte Wolfgang Dosch mit Studierenden der Operettenklasse der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien Werke Hilde Loewes beim Festival EntArteOpera 2016 auf. Hoffentlich der Beginn für die längst überfällige Würdigung einer Frau, deren Kompositionen einst Millionen von Hörer:innen begeistert hat.
Hinweis: Mehr über Hilde Loewe-Flatter gibt´s in dem Buch „Jüdische Komponistinnen zwischen Erfolg und Verfolgung, Exil und Heimkehr“ von Andrea Schwab, der Verfasserin dieses Beitrages. Darin beschreibt Schwab auch Leben und Werk folgender Komponistinnen: Mathilde von Rothschild (1832–1924), Josefine Auspitz-Winter (1873–1943), Hilde Loewe-Flatter (1895–1976), Lisa Maria Mayer (1894–1968), Camilla Frydan (1887–1949), Vally Weigl (1894–1982), Anita Bild (1915–2012), Hilde Geiringer/Hilda Gerrick (1898–1977), Alma Mahler-Werfel (1879–1964), Ilse Weber (1903–1944), Hansi Alt (1911–1992). Das Buch ist im Hollitzer Verlag erschienen und wird u. a. am 28. September 2022 um 18:30 Uhr im Bezirksmuseum Leopoldstadt (1020 Wien, Karmeliterg. 9) präsentiert. Im Rahmen der Veranstaltung gibt es auch eine Darbietung des „Alten Liedes“ von Hilde Loewe-Flatter.
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