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21.5.2024

Franz Kafka und Milena Jesenská

Das Meer zwischen Wien und Prag

Die letzten 46 Tage seines Lebens verbrachte Franz Kafka in einem kleinen Sanatorium in Kierling bei Klosterneuburg. Zum 100. Todestag widmet sich ein Podcast der Österreichischen Franz Kafka Gesellschaft dieser Zeit zwischen Hoffnung und Verzweiflung. In der Folge zum 21. Mai 1924 geht es um Kafka und die in Wien lebende Journalistin Milena Jesenská.

Wieder ein Regentag, immerhin ist es warm, bei angenehmen 18 bis 24 Grad.

 

Zu den Personen, die Kafka im Mai im Sanatorium Dr. Hoffmann besucht haben, gehört Milena Jesenská, die in Wien lebende tschechische Journalistin und Schriftstellerin, mit der Kafka seit 1920 eine enge Freundschaft verband. Von ihrem Besuch im Sanatorium weiß man nicht viel, es gibt nur einen Beleg durch ihren damaligen Begleiter, den Schriftsteller Franz Xaver Schaffgotsch. Im Rahmen eines auf Tonband aufgenommenen Gesprächs erinnert er sich: „Im Jahre 24 ist Kafka nach Wien gekommen, und da hat sich Milena rührend um ihn gekümmert und hat alle Freunde mobilisiert, die Kafka hatte, Werfel und Urzidil und wer da aller war, alle ihr Bekannten, damit etwas mit Kafka geschieht, und da hat man sich um ihn gekümmert. Ich war noch einmal mit der Milena draußen, [...] einen Monat oder sechs Wochen vor seinem Tod [...].“

„Er war ein Verlöschender, aber er hat wunderbar ausgeschaut. [...] Kafka war dieser mehr orientalische Typ, schmalgliedrig, ein Typ, wie Chagall sie gemalt hat. Mit großen dunklen Augen, wie man sie auf Ikonen sieht. Ganz von den Augen beherrscht, dieses Gesicht. Natürlich war er furchtbar abgemagert, aber ein schöner, ein wunderbarer Kopf, eine schöne Stirn, geschwungene Stirn, wunderbare Augen, eine schmale Nase, ein längliches Gesicht, ganz schmal, von der Krankheit natürlich sehr gezeichnet. Er machte einen wunder-, wunderschönen Eindruck. [...] Das war so ein einerseits sehr bedrückender, andererseits aber doch wunderbarer Augenblick, diesen Mann zu sehen.“

Milena Jesenská (verh. Pollack) hatte sich im Herbst 1919 erstmals an Kafka gewandt, da sie plante, seine Texte ins Tschechische zu übersetzen. Nach einem kurzen Treffen in Prag reiste er auf Kur nach Meran, von dort aus begann am 8. April 1920 ein intensiver Briefwechsel – Kafkas Briefe sind in der berühmten Sammlung „Briefe an Milena“ nachzulesen –, der zu einer Liebesbeziehung führen sollte.  Dass die Beziehung zwischen dem in Prag lebenden Kafka und der in Wien verheirateten Milena Jesenská keine gemeinsame Zukunft haben würde, war schnell klar, und viele der Briefe thematisieren diese Unmöglichkeit des Zusammenlebens: Warum Milena schreibst Du von der gemeinsamen Zukunft, die doch niemals sein wird, oder schreibst Du deshalb davon? [...] Es gibt wenig sicheres, aber das gehört dazu, dass wir niemals zusammenleben werden, in gemeinsamer Wohnung, Körper an Körper, bei gemeinsamem Tisch, niemals, nicht einmal in der gleichen Stadt. [...] Übrigens meinst auch Du Milena es gewiß nicht anders, wenn Du Dich prüfst und mich und das "Meere“ zwischen "Wien" und "Prag" mit seinen unüberblickbar hohen Wellen. [...] Dir wird ängstlich beim Gedanken an den Tod? Ich habe nur entsetzliche Angst vor Schmerzen. Das ist ein schlechtes Zeichen. Den Tod wollen, die Schmerzen aber nicht, das ist ein schlechtes Zeichen. Sonst aber kann man den Tod wagen. Man ist eben als biblische Taube ausgeschickt worden, hat nichts Grünes gefunden und schlüpft nun wieder in die dunkle Arche.“

Zweifellos war es eher Kafka, der vor dem Wagnis einer längeren Beziehung zurückschreckte. In einem Jahre nach Kafkas Tod verfassten Brief an Max Brod beschreibt Milena Jesenskà Kafkas Entschlussschwäche sehr anschaulich: „Ich habe ihm […] telegraphiert, telefoniert, geschrieben, ihn bei Gott angefleht, er möge einen Tag zu mir kommen. […] Er hat nächtelang nicht geschlafen, sich gequält, Briefe voller Selbstvernichtung geschrieben, ist aber nicht gekommen. Warum? Er hat nicht um Urlaub ersuchen können. Er hat doch dem Direktor, demselben Direktor, den er aus tiefster Seele bewundert (ernstlich!), weil er so schnelle Maschine schreibt, – er hat ihm doch nicht sagen können, dass er zu mir fährt. Und etwas anderes sagen – wieder ein entsetzter Brief – wie denn, Lügen? Dem Direktor eine Lüge sagen? Unmöglich.“ 

Auch nachdem der Briefwechsel zwischen Kafka und Milena Jesenska beendet war, brach der Kontakt zwischen den beiden nicht ganz ab. Die gegenseitige Wertschätzung blieb ungebrochen erhalten. Im Oktober 1921 übergab Kafka Milena Jesenská schließlich seine gesammelten Tagebücher, von der ersten bis zur letzten Seite über einen Zeitraum von 12 Jahren – ein Zeichen besonderen Vertrauens und größtmöglicher Nähe.

Aufgrund ihrer Tätigkeit im tschechischen Widerstand wurde Milena Jesenská im November 1939 von der Gestapo verhaftet und in der Folge ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert, wo sie 1944 starb.

Hinweis

Bei dem hier publizierten Text handelt es sich um das Transkript einer Folge aus dem 46-teiligen Podcast der Österreichischen Franz Kafka Gesellschaft, der noch bis 5. Juni läuft. Sprecher/in: Franz Kafka: Robert Stadlober; Dora Diamant: Julia Franz Richter; Erzähler: Nikolaus Kinsky

Quellen:

Brief von Franz Kafka an Milena Jesenská, September 1920

Suchy, Viktor: Gespräch mit Franz Xaver Schaffgotsch, 1966 – 1968

 

Buchtipp:

Kafka (wieder) zu lesen: Das haben sich zum 100. Todestag wahrscheinlich viele vorgenommen. Das neue Buch von Manfred Müller, dem Präsidenten der Österreichischen Franz Kafka Gesellschaft, bietet dafür einen überraschenden Einstieg: „Kafka träumt“ versammelt Textstellen aus Tagebüchern und Briefen des Schriftstellers, in denen er von seinen unzähligen Träumen berichtet. „Träume stehen am Beginn des Schaffensprozesses, sind Ausgangspunkte vieler Texte und bilden [...] eine Materialsammlung, der Kafka Motive und Bilder entnimmt“, so Müller, der die ausgewählten Textstellen aufschlussreich kommentiert hat. 

Kafka war ein begnadeter Schriftsteller, aber kein begnadeter Schläfer. Er lag (nach dem Büro) nachmittags am Kanapee oder (nach dem Schreiben) nachts im Bett und hoffte vergebens auf Tiefschlaf und Erholung. „Sehr spät, Liebste, und doch werde ich schlafen gehn, ohne es zu verdienen. Nun, ich werde ja auch nicht schlafen, sondern nur träumen", schrieb er im Jänner 1913 an Felice Bauer. Er träumte von Felice Bauer und (Jahre später) von Milena Jesenská, von Berlin und Wien, er träumte von Briefen, die ihn fatalerweise nicht erreichen, vom Straßenbahnfahren mit seinem Vater und vom Spaziergehen mit Max Brod, von Mord und Selbstmord, von einer Schlacht am Tagliamento und von einer Floßfahrt bei New York, von knirschenden Zähnen im stummen Mund und vom „Flaschenzug im Innern“, der immer wieder ein Häkchen vorwärtsrücken lässt, „einer unfaßbaren Macht unterworfen“. Seine Träume sind „zerrissen“, „unverbrüchlich“, „wütend deutlich“ oder „abscheulich“. 

Wer Kafkas Prosa schon gelesen hat, wird Themen, Szenen und Bilder wiedererkennen und auf überraschende Ähnlichkeiten zwischen den Traumnotaten und seiner Literatur stoßen. Das Buch eignet sich daher als handlicher Guide durchs Kafka-Universum, zum Abtauchen ins traumhaft Bodenlose. „Dann erwachte ich, aber es war kein Schlaf gewesen und kein Erwachen.“ (Brief an Milena, 7. August 1920)

Das Buch „Kafka träumt“ ist bei Jung und Jung erschienen und kostet 20 €.

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Zu Franz Kafka und Milena Jesenská sind im S. Fischer Verlag nicht nur Kafkas Briefe an Milena erschienen, sondern auch ein Band mit Briefen von Milena Jesenská, die einen interessanten Einblick in das Leben und die Persönlichkeit der Journalistin geben (allerdings enthält dieser Band nicht die Briefe an Kafka – diese gelten als verschollen). 

Im Verlag Bibliothek der Provinz ist ein Buch erschienen, das sich einem wichtigen Begegnungsort von Kafka und Jesenská widmet: Am 14./15. August 1920 trafen die beiden einander in Gmünd. Ein Eregnis, das sich in der Weltliteratur niedergeschlagen hat. Mehr dazu in dem Buch Begegnung an der Grenze, herausgegeben von Thomas Sanhaber.

 

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