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Heike Krause und Sabine Jäger-Wersonig, 24.2.2020

Archäologische Grabung am Matzleinsdorfer Platz

„Wahrzeichen des lustigen Wien“

Das Gasthaus „Zum Auge Gottes“ vor dem Linienwall war einst ein beliebter Treffpunkt an einer verkehrsreichen Schnittstelle. 1903 wurde es demoliert. Bei Grabungen anlässlich des U-Bahn-Baues am Matzleinsdorfer Platz konnten Mauerreste davon identifiziert werden.    

Die geplante Verlängerung der Linie U2 vom Schottentor bis zum Matzleinsdorfer Platz erforderte im Vorfeld die Umlegung eines Kollektorbauwerks im Bereich des späteren Stationsgebäudes. Dafür wurde ein 200 m2 großer, im östlichen Teil der stadtauswärts führenden Fahrbahn (vor dem Haus Matzleinsdorfer Platz 1) gelegener Abschnitt aufgegraben. Die vom 12. bis zum 26. September 2018 durchgeführten Arbeiten wurden von der Stadtarchäologie Wien begleitet. In diesem Bereich wäre der sog. Linienwall, ein zu Beginn des 18. Jahrhunderts um die Vorstädte errichtetes Annäherungshindernis, zu erwarten gewesen. Der Schutzbau wurde später zur Steuergrenze umgewidmet und behielt diese Funktion bis zu seinem Abbruch Ende des 19. Jahrhunderts bei. Vom Linienwall waren jedoch keinerlei Spuren mehr vorhanden. Stattdessen konnten die Überreste eines Kellers des späten 19./beginnenden 20. Jahrhunderts mit entsprechendem Fundmaterial dokumentiert werden. Anhand der Schrift- und Bildquellen lassen sich die Mauern einem etwa 50 Jahre bestehenden Gaststättenbetrieb zuordnen, der 1903 zum Abbruch freigegeben wurde.

Anhand des Stadtplans von Wien aus dem Jahr 1887, der mit der aktuellen Stadtkarte von Wien und mit den archäologisch dokumentierten Mauern überlagert werden kann,  gelang zwar die Zuordnung der Überreste zu einer Parzelle, auf der sich ein langgestrecktes, L-förmiges sowie ein östlich davon gelegenes, kleineres Gebäude befanden. Diese waren unmittelbar südwestlich vor dem Matzleinsdorfer Tor des 1704 vollendeten Linienwalls situiert. Die Abweichung in der Überlagerung ist jedoch so groß, dass an dieser Stelle wohl von einer starken Ungenauigkeit der Vermessungsgrundlagen des Stadtplans von 1887 auszugehen ist. Die Administrativkarte von 1872 sowie der Catastral-Plan von 1893 zeigen wiedererkennbare Gebäude auf der entsprechenden Parzelle, wenn auch teilweise in etwas anderen Dimensionen. Die Vermessung dieser Bauten außerhalb des Linienwalls war offensichtlich nicht sehr genau.

Dieses Areal wurde erst spät bebaut. Bis zur Errichtung der Bahnlinie war die unmittelbar vor dem Linienwall befindliche Gegend agrarisch geprägt. Ein im Wiener Stadt- und Landesarchiv aufbewahrter Plan von Anton Behsel aus dem Jahr 1822 zeigt, dass die dem Magistrat gehörende, südwestlich des Tores gelegene Parzelle noch unbebaut war. Der Wien-Gloggnitzer-Bahnhof, Vorgängerbau des Südbahnhofs und des heutigen Hauptbahnhofs, wurde 1841 außerhalb des Linienwalls errichtet.  Die Bahntrasse begleitete seinen südöstlichen Abschnitt. Der erste Schnellzug auf der Bahnstrecke Wien–Triest setzte sich am 1. August 1857 in Bewegung. Das Gebiet zwischen Linienwall und Südbahn wurde in der Folge für verschiedene Zwecke genutzt.

Ein Gasthaus für Schwerfuhrwerker und Frachter

Laut einem Zeitungsbericht vom 6. September 1903 soll ein Herr Kleß schon 1850 ein erstes Gasthaus für Schwerfuhrwerker und Frachter errichten lassen haben, die hier – vor dem Linientor am Beginn der Triester Straße – ihren Sammelplatz hatten. Dieser später erweiterte Gebäudekomplex, dessen Mauerreste dokumentiert wurden, hatte zuletzt die Adresse Wien 5, Matzleinsdorfer Straße 150 alt. In den Baukonsensbüchern des städtischen Unterkammeramts sind die Eigentümer und die geplanten baulichen Tätigkeiten registriert. Dazugehörige Akten und Pläne sind nicht erhalten. 1863 erhielt Franz Klees die Bauerlaubniswohl für ein neues Gebäude, 1866 kam ein einstöckiger Neubau hinzu. 1867 ließ Josef Klees (Gast- und Kaffeehausbesitzer, gest. 1871) einen weiteren ebenerdigen Zubau errichten. Von Anfang an diente der mehrfach veränderte und erweiterte Gebäudekomplex demnach als Gasthaus. 1876 und 1881 nahm Maria Demmelbauer Adaptierungen am Haus vor der Matzleinsdorfer Linie vor.

Aus Zeitungsartikeln und -inseraten ist mehr über die Gastwirte und Ereignisse zu erfahren. 1891 führte Carl Kremser das Gasthaus „Zum Auge Gottes“. Hier gab es seinerzeit Versammlungen der Anstreicher und Lackierergehilfen sowie der allgemeinen Wählerversammlung. 1893 wird es als „Demmelbauer’s Gasthaus zum Auge Gottes“ bezeichnet. Ein Jahr später wurde übrigens der Linienwall geschleift. Unter dem Pächter Theodor Melion fanden ab 1900 regelmäßig Konzerte statt. Unmittelbar vor dem Wirtshaus, an der Straße gelegen, befand sich die Station der Wiener Lokalbahn.

Ein Ort für das „Matzleinsdorfer Proletariat“

1901 erhielt das Grundstück die Adresse Matzleinsdorfer Straße 86. Diese Hausnummer hat sich aber nicht mehr eingebürgert, denn schon zwei Jahre später war die Demolierung beschlossene Sache. Das „Illustrirte Wiener Extrablatt“ vom 11. September berichtete darüber und brachte auch ein Foto samt aufgestellter Belegschaft vor dem Wirtshaus. Das Verschwinden dieses „Wahrzeichen[s] des lustigen Wien“ wurde darin beklagt. Man wusste von seinem Gründer Herrn Kleß zu berichten, der auf dem seinerzeit noch freien Gelände zunächst eine Wein- und Bierschank und kurze Zeit später seinen Gasthof eröffnete. Später sei ein Saal hinzugekommen, wo Volkssänger und -sängerinnen auftraten. Am 31. August 1903 wurde das von Theodor Melion betriebene Gasthaus geschlossen und bald darauf abgebrochen. Der Wirt errichtete sogleich ein neues Lokal in der nahe gelegenen Reinprechtsdorfer Straße 2. Die „Arbeiter-Zeitung“ würdigte 1907 das alte Gasthaus „vor der einstigen Linie“ als den Ort, an dem „das Matzleinsdorfer Proletariat zum erstenmal die erlösende Botschaft der Sozialdemokratie“ vernommen habe.

Der Zeitraum der Entstehung und Demolierung des Gebäudekomplexes lassen sich anhand der schriftlichen Überlieferung also gut eingrenzen. Bedauerlicherweise sind keine Baupläne erhalten, die genauere Auskunft über Baualter und Funktion der einzelnen Trakte sowie deren Baulinien und Räumlichkeiten geben könnten. Die freigelegten Mauerreste dürften wohl vom nördlichen Gebäude stammen, das sich im Foto aus der Zeit um 1900 als Nebengebäude (Stall, Remise bzw. Schober) zu erkennen gibt. Zeitgenössische Zeitungsberichte vermitteln ein lebhaftes Bild von einem stark frequentierten und vielfältig genutzten Wirtshaus an einer verkehrsreichen Schnittstelle unmittelbar vor den Toren der Stadt.

Dieser Text ist die gekürzte Fassung des ausführlichen Grabungsberichts im Band „Fundort Wien“ (Berichte zur Archäologie 22/2019), herausgegeben von der Stadtarchäologie Wien.

Heike Krause, Studium der Ur- und Frühgeschichte, Mittelalterlichen Geschichte und Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, 1993–1994 ERASMUS-Stipendiatin an der Université Nancy 2/Frankreich, 1997–1998 Mitarbeiterin des Graduiertenkollegs Archäologische Analytik an der Goethe Universität in Frankfurt/Main, seit 1998 bei der Stadtarchäologie Wien tätig. Forschungsschwerpunkte: Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit, Stadtentwicklung und Stadtbefestigung von Wien.

Sabine Jäger-Wersonig studierte in Wien Klassische Archäologie und Alte Geschichte und ist seit 2004  bei der Stadtarchäologie Wien beschäftigt. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit lag im Durchführen von Grabungsprojekten im Bereich der  römischen Zivilsiedlung im 3. Wiener Gemeindebezirk und in der Innenstadt.  Im Bereich der Fundbearbeitung spezialisierte sie sich auf die Terra Sigillata, das Tafelgeschirr der Römer und Metallfunde aller Zeitstellungen.

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