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Alina Pohl, 9.12.2019

Bettgeher in Wien

Schlafen im Schichtbetrieb

Um 1900 waren ca. 170.000 Personen in Wien Bettgeher oder Untermieter – rund ein Zehntel der Bevölkerung. Wohnungsnot blieb auch im Roten Wien eine der größten Herausforderungen. Ein Rückblick inklusive Besuch im Tröpferlbad.

Als Zentrum der Monarchie verzeichnete Wien während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein rasantes Bevölkerungswachstum. Dies brachte zahlreiche ökonomische, gesellschaftliche und demographische Veränderungen. Die so genannte Spätgründerzeit (1884 bis 1918) war gekennzeichnet durch eine rege Bautätigkeit privater gewinnorientierter Bauträger. Neben öffentlichen Bauten (wie den Ringstraßenbauten) wurden Wohnhäuser errichtet – die sogenannten Zins- oder Gründerzeithäuser (abwertend auch „Zinskasernen“ genannt). Unter anderem durch das starke Bevölkerungswachstum um die Jahrhundertwende (bis 1910) war Wohnraum nicht nur knapp, sondern auch teuer, vor allem für jene, die auf diese geschaffenen Unterkünfte angewiesen waren, speziell Arbeiterfamilien.

Eine große Zahl der nach Wien ziehenden Industriearbeiter musste sich am freien Markt um einen Wohnplatz kümmern. Da sie sich jedoch vielfach keine eigene Unterkunft leisten konnten, blieb vielen nur, sich bei Fremden zum Schlafen einzumieten: Sogenannte Bettgeher bezahlten für eine Schlafstelle in einer gemieteten Wohnung. Dabei wurden die Betten sowohl am Tag als auch in der Nacht stundenweise vermietet – je nach Arbeitsschicht der einzelnen Personen.

Teure Mietwohnungen wurden aus Kostengründen mit Bettgehern und Untermietern geteilt, wobei Wohnungen oft überbelegt waren und die Betten oftmals von mehreren Personen im „Schichtbetrieb“ benutzt wurden. Ein Recht auf Nutzung weiterer Gemeinschaftsräume (Küche) oder Mahlzeiten hatten die Schlafgänger (wie sie auch genannt wurden) nicht. Im Unterschied zu Untermietern: Diese hatten volles Wohnrecht in einem untergemieteten Zimmer und waren Teil der Wohngemeinschaft. Zu den Volkszählungen 1900 und 1910 wurden ca. 170.000 Personen in Wien als Bettgeher oder Untermieter (inkl. deren Angehörige) registriert, was in etwa jedem Zehnten der Wiener Bevölkerung entsprach.

Manche Wohnungseigentümer verboten ihren Mietern die Aufnahme von Bettgehern und Untermietern. Jene Mieter, die Bettgeher und Untermieter in ihre Unterkunft aufnahmen, waren zu größeren Teilen ebenfalls Arbeiter und Taglöhner. Die größte Zahl an Bettgehern ist zu Ende des 19. Jahrhunderts in Wien generell rund um den Gürtel, aber auch in der Leopoldstadt, der Brigittenau, Ottakring und Favoriten zu finden.
 

Mietengesetz und Friedenszins:
Rückgang an Bettgehern, aber anhaltende Wohnungsnot


Teilen war eine Notwendigkeit – aufgrund zu teurer Mieten auf der einen und Wohnungsknappheit auf der anderen Seite. Die (kurzfristige) Linderung von Not (Schlafplatz vs. Geldmangel) hatte jedoch aufgrund furchtbar schlechter hygienischer Umstände die Verbreitung von Krankheiten zur Folge und stellte das soziale und familiäre Gefüge – zu viele (fremde) Personen auf engem Raum – auf eine harte Probe.

Unmut machte sich breit, bis hin zu Mietrevolten, was 1917 zur ersten kaiserlichen Mieterschutzverordnung und schließlich 1922, erstmals in der Sozialgesetzgebung Europas, zu einem Mietengesetz führte.

Schließlich ließ eine reale Geldabwertung aufgrund der Hyperinflation nach dem Ersten Weltkrieg die Mieten gegen Null sinken. Durch das Mietengesetz 1922 wurden diese auf den Wert von vor Kriegsausbruch (Juni 1914) eingefroren („Friedenszins“) – die Mieten schrumpften daraufhin auf ein Minimum des ursprünglichen Zinses, weshalb für die Mieter nun keine Notwendigkeit mehr bestand, Bettgeher und Untermieter zur Kostenteilung aufzunehmen. Dieser zahlenmäßig starke Rückgang von Bettgehern ist in den Volkszählungen zwischen 1910 und 1934 ersichtlich. Die Wohnbelagsdichte nahm zwar ab, die soziale Not und Obdachlosigkeit aufgrund der Wohnraumknappheit jedoch zu.


Rotes Wien: Kommunaler Wohnbau und
Tröpferlbad verbessern Wohnsituation und Hygiene


Auch wenn kurzfristig die Mieten billiger waren, so war die Armut ein Problem und Wohnraum nach wie vor knapp. Es mussten sich weiterhin verschiedene (auch familienfremde) Personen eine Wohnung teilen. Dazu zählten neben dem engen Familienverband (Eltern und leibliche Kinder) vor allem sonstige Familienangehörige wie Geschwister und Verschwägerte, Untermieter und deren Angehörige. Durchschnittlich ca. fünf Personen bewohnten um 1900 eine klassische 30 m2-Zimmer-Küche-Wohnung mit Toilette und Wasseranschluss (Bassena) am Gang und Entlüftung ins Stiegenhaus.

Um Körperpflege und Hygiene zu verbessern, eröffnete die Wiener Stadtverwaltung im Jahr 1887 das erste Wiener Volksbad am Neubau – eine sozial- und hygienepolitische Innovation. Menschen ohne eigene Waschmöglichkeit zuhause konnten hier ihre Körperpflege erledigen. In diesen Volksbädern, die häufiger als „Tröpferlbäder“ bezeichnet wurden, gab es Brause und Wannenbäder, getrennt für Männer und Frauen (später auch getrennt für Erwachsene und Kinder).

In der besseren ersten Badeklasse gab es separat verschließbare Brausezellen mit eigener Umkleidemöglichkeit, wohingegen die zweite Klasse gemeinsame Umkleiden und Duschräume mit offenen Brausen hatte. Der ca. einmal wöchentliche Besuch wurde von den Bademeistern streng geregelt und war mit einer maximalen Duschzeit von 30 Minuten begrenzt. Bei hohem Andrang in den Bädern, und daraufhin weniger werdendem Wasser in den Tanks am Dachboden, ging der Wasserdruck zurück und der nun geringere Wasserfluss „tropfte“ aus den Brausen, wovon sich die umgangssprachliche Bezeichnung „Tröpferlbad“ ableitet.

6,5 Millionen Besuche im Jahr

Verzeichnete das erste Wiener „Tröpferlbad“ am Neubau 1887 rund 78.000 Besuche, waren es knapp dreißig Jahre später (1914) bereits 3,5 Mio. Den Höchststand erlebten die 18 Wiener Volksbäder 1931 in der Zeit des Roten Wien mit über 6,5 Mio. Besuchen. In dieser Periode wurden die öffentlichen Badeanstalten stark ausgebaut. Wien wurde innerhalb weniger Jahre zur Hauptstadt mit den meisten Bädern. Der enorme Rückgang der Besuche in „Tröpferlbädern“ nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein Gradmesser des Wohlstands in Wien.

Der kommunale Wohnbau des Roten Wien trug schließlich ab den 1920ern zu einer Verbesserung der Wohnungsnot, Hygienisierung und Linderung von Armut bei. Verglichen mit der Wohnsituation während der Monarchie, war spätestens gegen Ende der Zeit des Roten Wien eine sichtliche Erleichterung zu erkennen. 1934 machten Bettgeher nur mehr 0,1 % der Bevölkerung aus.

Dieser Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Textes aus der Broschüre „Das Rote Wien in Zahlen 1919-1934“. Die neue zweiteilige Publikation der Abteilung Wirtschaft, Arbeit und Statistik (MA 23) steht zum Download zur Verfügung und kann auch kostenlos bestellt werden

Präsentiert wird die Publikation am 10. Dezember um 18.30 im Wien Museum MUSA im Rahmen der Ausstellung „Das Rote Wien“. 

Quellen: 100jahrerotes.wien.gv.at

Alina Pohl arbeitet im Dezernat Wirtschaft der Abteilung Wirtschaft, Arbeit und Statistik der Stadt Wien. Sie hat Volkswirtschaftslehre und Geschichte studiert.

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