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Christine Dobretsberger, 10.4.2023

Das „Bellevue“ am Himmel von Wien

Wo Freud seinen wichtigsten Traum hatte

An einem der schönsten Aussichtsplätze des Wienerwalds befand sich das Schloss Bellevue, danach ein gleichnamiges Ausflugsrestaurant: Geblieben ist von beiden nur der herrliche Blick auf Wien – und eine Gedenktafel an ein denkwürdiges Ereignis in der Geschichte der Psychoanalyse.

Die Berggasse 19 zählt – auch international betrachtet – zu den bekanntesten Adressen Wiens und gilt als Geburtsstätte der Psychoanalyse. Sigmund Freud lebte und arbeitete hier von 1891 bis 1938. Doch es gab auch viele andere wichtige Schauplätze im Rahmen der Entwicklungsgeschichte der Psychoanalyse. Zu nennen wäre hier beispielsweise das Café Landtmann im Palais Lieben-Auspitz bzw. der Salon von Familie Lieben, der sich im ersten Stockwerk dieses Ringstraßenpalais befand. Anna von Lieben war eine der ersten Patientinnen Freuds, die über einen längeren Zeitraum von ihm betreut wurde. Die Baronesse gab dem damals 30-jährigen Freud die Möglichkeit, seine ersten Erfahrungen mit der neu geschaffenen „Redekur“ zu sammeln. 

Ein anderer wichtiger Ort für die Erkundung des unbewussten Seelenlebens war das Hotel Bristol. Hier residierte im Herbst 1925 Marie Bonaparte, Prinzessin von Griechenland und Dänemark. Aus der Analysebegegnung mit Freud wurde eine lebenslange Freundschaft. Wie einige seiner Patientinnen wurde sie später selbst Analytikerin, finanzierte u.a. das 1935 gegründete Institut der Psychoanalyse und übersetzte Freuds Werke ins Französische. Darüber hinaus bewahrte sie den Psychoanalytischen Verlag in Wien vor dem Konkurs und erwarb den Briefwechsel zwischen Sigmund Freud und seinem Freund, dem deutschen Mediziner Wilhelm Fließ, und sicherte so eine zentrale Quelle für die Frühgeschichte der Psychoanalyse.

Ein Auszug dieses Briefwechsels ist nunmehr buchstäblich in Stein gemeißelt und ziert die Inschrift einer von Wilhelm Holzbauer kreierten Stele, die am 6. Mai 1977 weit über den Dächern Wiens – auf der sogenannten Bellevuehöhe – errichtet wurde und an einen Sommeraufenthalt Sigmund Freuds im ehemaligen Schloss Bellevue erinnern soll. Heute ist von diesem Schloss nur noch die schöne Aussicht übriggeblieben und die gleichnamige, nunmehr unverbaute Wiese. 

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Zur Zeit Freuds war „das Bellevue“ ein Hotel und zugleich eine Kuranstalt für wohlhabende, vorwiegend lungenkranke Patientinnen und Patienten. Auf Einladung des damaligen Eigentümers, Carl Ritter Schlag von Scharnhelm, begab sich Freud im Jahr 1895 hier auf Sommerfrische. Das Bellevue war zu dieser Zeit ein beliebter Treffpunkt für intellektuelle und künstlerische Wiener Kreise, ein Ort von kreativer Geselligkeit. Zu den illustren Gästen zählten beispielsweise der Komponist Hugo Wolf, die Frauenrechtlerinnen Marie Lang und Rosa Mayreder sowie der „Universalgelehrte“, Theosoph und Literat Friedrich Eckstein, Schüler und Nachlassverwalter von Anton Bruckner. In seinem Buch „Alte unnennbare Tage“ nimmt er Bezug auf diese Sommertage im Bellevue: „Das Leben in unserer Sommerkolonie gestaltete sich überaus reizvoll. Wolf arbeitete fleißig an seinen Liedern und liebte es, uns das gerade erst Komponierte vorzuspielen. Er hatte das verstimmte Klavier wieder in Schwung gebracht, auf dem auch Anton Bruckner bei seinem Besuch einiges aus seiner gerade vollendeten Achten Symphonie vorgetragen hatte. Jeder von uns ging seiner Arbeit nach und an den Abenden fanden wir uns zu dem von Marie Lang bereiteten gemeinsamen vegetarischen Mahle zusammen.“

Friedrich Ecksteins Schwester Emma zählte ebenfalls zu Freuds frühen Patientinnen und sollte durch seine Schriften über die Traumdeutung in die Geschichte der Psychoanalyse eingehen. Und hier setzt die Historie rund um den Gedenkstein auf der Bellevuehöhe an. Nachdem sich Emma Ecksteins Leiden nicht nachhaltig verbesserten, schlug Wilhelm Fließ bei der Patientin eine Nasenoperation vor, die zur Linderung der Symptome führen sollte. Allerdings passierte Fließ bei diesem Eingriff ein „Kunstfehler“, der beinahe zum Tod der Patientin geführt hätte. 

Freud, der am Abend des 23. Juli 1895 dieses Ereignis in seinen Arbeitsaufzeichnungen reflektierte, träumte in der darauffolgenden Nacht den Traum von „Irmas Injektion“, mit dessen Analyse in der Folge seine Theorie der „Traumdeutung“ anheben sollte. Rückblickend betrachtet, gewinnt dieser Traum den Charakter einer großen Gründungserzählung der Psychoanalyse. „Irma“ bildete den Decknamen von Emma Eckstein und spiegelte, verkürzt gesagt, das Schuldgefühl und die Furcht Freuds wider, seine Patientin falsch behandelt zu haben bzw. den Wunsch, nicht persönlich für dieses Misslingen verantwortlich zu sein. Jede neue Etappe der psychoanalytischen Theorie – eingeleitet u.a. von Erik Erikson oder Jacques Lacan – begann in der Folge mit einer kritischen bzw. revidierenden Interpretation des Irma-Traumes, der heute der am häufigsten gedeutete Traum der Weltliteratur sein dürfte. 

Das Schloss Bellevue zählt somit zu jenen geschichtsträchtigen Plätzen, an denen ein denkwürdiges Ereignis stattfand, das an einem konkreten Datum festzumachen ist. Fünf Jahre später, am 12. Juni 1900, nachdem sein Hauptwerk Die Traumdeutung bereits erschienen war, wandte sich Freud in einem Brief mit jener Frage an seinen Freund Wilhelm Fließ, die nun auf besagtem Gedenksteins verewigt ist: „Glaubst Du eigentlich, dass dereinst an diesem Hause zu lesen sein wird, hier enthüllte sich am 24. Juli 1895 dem Dr. Sigm. Freud das Geheimnis des Traumes? Die Aussichten sind bis jetzt hierfür gering.“ 

Kinderheim der Gemeinde Wien

Doch noch ein Wort zum Bellevue selbst, das ebenfalls eine wechselvolle Geschichte aufzuweisen hat. Das schlossartige Gebäudeensemble umfasste neben der einstöckigen Villa u.a. eine Meierei, eine Weinpresse, Wagenremisen und Stallungen. Zu den Eigentümern dieses im 18. Jahrhundert errichteten Anwesens zählte u.a. Johann Carl Freiherr von Sothen. Als dieser am 10. Juni 1881 von seinem Förster auf dem ebenfalls in seinem Besitz befindlichen Gut Cobenzl erschossen wurde, ging das Anwesen an Carl Ritter von Schlag über, der es 1907 an die Gemeinde Wien verkaufte.

Nachdem das Schloss einige Jahre als Kindererholungsstätte gedient hatte, wurde es 1921 zu einem Heim für knochentuberkulöse Kinder umfunktioniert. Während des Zweiten Weltkrieges wurde es als Lazarett genutzt, musste dann allerdings geräumt werden, zumal schwere Schäden am Gebäude entstanden waren. Nach Kriegsende erschien eine Renovierung unrentabel und bald darauf wurde es abgerissen. 

Neue bauliche Akzente wurden erst wieder in den Jahren 1961 bis 1963 gesetzt, als im Auftrag der Stadt Wien von den Architekten Wolfgang und Traude Windbrechtinger das Aussichtsrestaurant „Bellevue“ errichtet wurde. Für die künstlerische Ausstattung zeichnete Maria Biljan-Bilger verantwortlich. Die Eröffnung des Restaurants nahm der damalige Wiener Bürgermeister Franz Jonas vor (18. Mai 1963). Die flache, ausgesprochen nüchtern gehaltene Architektur des Gebäudes sollte sich zurückhaltend und unaufdringlich in die Geländeformation einfügen. Als ganzjährig geöffnetes Restaurant mit Rundblick auf Wien konzipiert, bot das Bellevue durch großzügige Innen- und Außenräume Platz für rund 2000 Besucher. Obgleich die Architekten es verstanden, durch eine abwechslungsreiche Konzeption der Räumlichkeiten jeglichen Eindruck eines Massenlokals zu vermeiden, erwies sich die nüchterne Ästhetik offenbar nicht als Publikumsmagnet. Der erhoffte wirtschaftliche Erfolg blieb aus und nach Jahren der Verwahrlosung wurde das Restaurant 1982 abgetragen. 

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Seither erinnern auf der Bellevuehöhe (als Adresse gilt die Himmelstraße 115) nur noch einige alte Bäume an die Vergangenheit und eben besagte Gedenktafel, die den Offenbarungscharakter einer plötzlichen Erkenntnis beschwört – also jenes synchrone Zusammenspiel von Erleben und Verstehen, das die menschliche Forschungsgeschichte seit jeher impulsgebend begleitet. 

Literatur und Quellen:

Peter-André Alt: Sigmund Freud. Der Arzt der Moderne, München 2016

Friedrich Eckstein: Alte unnennbare Tage. Erinnerungen aus siebzig Lehr- und Wanderjahren, Wien 1992

Lisa Fischer, Regina Köpl: Siegmund Freud. Wiener Schauplätze der Psychoanalyse, Wien/Köln/Weimar 2005

Dieter Klein, Martin Kupf, Robert Schediwy: Wien. Stadtbildverluste seit 1945, Wien 2002

Konrad Kramar, Beppo Beyerl: Wienerwald für Entdecker, Wien 2016

Helmut Kretschmer: XIX. Döbling, Wien/München 1982

Ilona Mayer-Zach: Döbling. Geschichten und Anekdoten, Gudensberg-Gleichen 2014

Christian F. Winkler, Alfred Hengl: Vom Leopoldsberg zum Hermannskogel. Geschichte des Kahlengebirges, Erfurt 2007

Christine Dobretsberger, geboren 1968 in Wien. Studium der Publizistik und Kommunikationswissenschaften und Philosophie an der Universität Wien. Langjährige Kulturredakteurin der „Wiener Zeitung“. Initiatorin der Gesprächsreihe „Wiener Salongespräche“ und „Seelenverwandte“. Seit 2005 freie Journalistin, Autorin, Lektorin, Ghostwriterin und Herausgeberin von Texten. Sie ist Gründerin der Text- und Grafikagentur „linea.art“ (www.lineaart.at) und befasst sich schwerpunktmäßig mit kulturellen Themen.

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Kommentare

reinhard wieser

" ...einer von Wilhelm Holzmeister kreierten Stele.."

oder vielleicht clemens holzbauer?