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Der Literat Karl Maria Kertbeny und die Erfindung des Begriffes „Homosexuell“
Fremdling in der Muttersprache
Es war ein Akt der Selbstvergewisserung: Spätestens im September 1847 änderte der 23-jährige Karl Maria Benkert seinen Nachnamen in das ungarischer (und aristokratischer) klingende „Kertbeny“. Ob dies, wie er behauptete, mit dem Segen ungarischer Behörden geschah, ist ungewiss. Eines kann aber nicht angezweifelt werden, sein Herz schlug für die Ungarn und ihre Kultur.
Dabei hatte er das Licht der Welt am 28. Februar 1824 in Wien erblickt, wohin sein 1794 in Pest geborener deutschstämmiger Vater Anton Benkert als junger Mann gezogen war und dort in der Plankengasse 1063 (heute Plankengasse 4) eine „Blechwarenniederlage“ betrieb. Er bot hier unter anderem von ihm erfundene „Pippen von reinem Zinn“ oder eine wenig appetitlich klingende „Osmazôme Chocolate aus thierischem Aroma (Vegeto-Animal)“ feil. Doch die eigentliche Leidenschaft des Kaufmanns war die Theaterbühne, für die er Stücke verfasste und auf der er sich gelegentlich selbst als Schauspieler versuchte. Im Jahr 1822 hatte er die sechs Jahre jüngere Charlotte aus der Ödenburger (Soproner) Familie Graf geheiratet, eine begabte Blumenmalerin. Ein Talent, das sie ihrem 1825 geborenen zweiten Sohn Emrich weitergab. Nachdem die Familie 1826 zurück nach Pest gezogen war, wo Antons Mutter das traditionsreiche Hotel König von Ungarn besaß, verschlechterten sich die Finanzverhältnisse rapide.
Im Anschluss an die Schule schickten die Eltern den 12-jährigen Karl Maria nach Erlau (heute Eger), um im Hause eines Fleischers die ungarische Sprache zu erlernen, bevor er zwei Jahre später als Lehrling in eine Buchhandlung in Raab (heute Győr) eintrat. Dort wurde er Ende Dezember 1839 ins Gasthaus Zum goldenen Lamm beordert, um den von seiner Orientreise zurückgekehrten Fürsten Hermann von Pückler-Muskau mit frischem Lesestoff zu versorgen. Seiner Vorliebe gemäß war der deutsche Bestsellerautor orientalisch gekleidet und reiste in Begleitung seiner abessinischen Geliebten Machbuba, was dem hochgewachsenen jungen Karl Maria wie ein Hauch der großen weiten Welt vorkam.
Nachdem er wegen einer Unachtsamkeit aus einer Pester Buchhandlung entlassen worden war, was er den Eltern verschwieg, machte er sich im April 1842 heimlich über Wien und Prag auf den Weg nach Dresden, wo er erneut auf den 56-jährigen Pückler traf, der aber keine Zeit für den Ausreißer hatte. Im Dezember kehrte der abenteuerlustige Jüngling in den Schoß der Familie zurück und absolvierte im Anschluss eine kurze Dienstzeit als Kanonier beim Artillerie-Regiment Nr. 5 unter anderem in Dalmatien.
Begegnung mit dem ungarischen Nationalismus
Wieder in Pest und fest entschlossen, Schriftsteller zu werden, fand er Anschluss an den Kreis der sogenannten „Jungungarn“, über den er den ein Jahr älteren ungarischen Nationaldichter Sandór Petőfi kennenlernte, dessen Gedichte ihn zutiefst beeindruckten. Es war, so schrieb er, eine der entscheidenden Begegnungen seines Lebens. Da hatte der junge Mann bereits selbst erste Artikel veröffentlicht und sogar eine anonyme Broschüre mit dem Titel Bier ist Gift! drucken lassen. Ernster zu nehmen war sein Projekt eines Jahrbuchs des deutschen Elementes in Ungarn noch unter seinem ursprünglichen Namen, das freilich von der Kritik zerrissen wurde und über die erste Nummer nie hinauskam, sodass er beschloss, sein Glück anderswo zu versuchen. „Hörʼ mal Langer!“, sollte Petőfi den von ihm liebevoll Kari genannten Freund verabschieden: „Geh, soweit Du kannst, bis in den Mond, Kari, bleib aber auch dort Ungar, und vergiß nicht, daß ich zurückbleibe, gerade um noch mehr beizutragen zum Bewußtsein, wie stolz wir sein dürfen, Ungarn zu sein!“
So war er Anfang Mai 1846, im Todesjahr des Vaters, wieder auf Achse und reiste nach Italien, um mit den Brüdern Frizzoni in Bergamo über den (homosexuellen) deutschen Dichter August von Platen zu plaudern, in Rom in dem Komponisten Hermann Kestner „einen Freund fürs Leben“ zu gewinnen, bevor er den Weg über die Schweiz nach Paris nahm, wo er Heinrich Heine traf. Dann liebäugelte er in London mit dem Kommunismus und landete schließlich in Berlin, wo er sich an den Ex-Diplomaten Karl August Varnhagen von Ense wandte. Seine Methode war stets die gleiche: Er nahm Kontakt auf zu einflussreichen Personen, deren Protektion er sich erhoffte und von denen er sich oft auch Geld lieh, nicht zuletzt um die verwitwete Mutter daheim zu unterstützen. Nicht selten schlachtete er später diese Bekanntschaften für Reportagen aus.
Doch die Aufschneidereien des jungen Mannes riefen in aller Regel rasch den Widerwillen des jeweiligen Gegenübers hervor. Franz Liszt, der Kertbeny Ende März 1848 in Weimar kennenlernte, schrieb: „ich dachte keineswegs daran mich mit ihn näher zu befreunden weil mir seine Art und Weise aufzutreten, mit seinen Reisen und Erlebnissen zu renommiren, von berühmten Männern zu sprechen, Pariser und Londoner Geschichten zu erzählen, [von] vornherein Mißfallen und eine geringe Idee seiner Wahrhaftigkeit geben mußten.“
Kertbeny als Übersetzer
Während in Ungarn die Revolution ausbrach, der auch Petőfi zum Opfer fallen sollte, erregte sein Landsmann unliebsame Aufmerksamkeit, als der Weimarer Polizei zu Ohren kam, er habe eine „Nothzüchtigung“ an einem Ladenjungen der Hoffmannʼschen Buchhandlung begangen. Die Angelegenheit konnte noch unterdrückt werden, und Kertbeny blieb das Zuchthaus erspart, indem er im Oktober in Richtung Frankfurt am Main abreiste. Es ist das erste Zeugnis, das Kertbeny mit gleichgeschechtlichem Begehren in Verbindung bringt.
Damals war Kertbeny nicht nur als Journalist tätig, sondern auch damit beschäftigt, Gedichte seines Freundes Petőfi ins Deutsche zu übertragen. Ein erster Band seiner Bemühungen erschien 1849, doch wurde die Übersetzung ob ihrer Fehler von Kritikern teils mit hämischem Spott überzogen. Es sei der größte Schmerz seines Lebens, schrieb er Ungarns anderem großen Dichter János Arany, dessen epische Dichtungen er ebenfalls übersetzte, „in der Sprache der Fremde heimisch, in der Muttersprache ein Fremder zu sein“.
Trotz seiner mangelhaften Bildung war Kertbeny von unerschütterlichem Sendungsbewusstsein erfüllt, wenn es um die ungarische Literatur ging, und die Petőfi-Rezeption in Deutschland wäre ohne sein unermüdliches Eintreten sicherlich eine andere gewesen, was nicht zuletzt seine zahlreichen Briefe an Bettina von Arnim belegen, die ihrerseits Petöfi dem Sonnengott dichterisch Tribut zollte.
Haft in Wien
Anfang Oktober 1851 stellte er sich in Tetschen-Bodenbach (heute Děčín-Podmokly) den österreichischen Behörden. Er war verdächtig, weil er ohne Reisepass im Ausland umhergereist war, in Zeitungen publiziert und ein Buch mit Revolutionsliedern veröffentlicht hatte. Er wurde nach Wien überführt und im Polizeigefangenhaus im ehemaligen Siebenbüchnerinnenkloster im Bereich der heutigen Sterngasse einige Wochen festgesetzt; journalistische Tätigkeiten waren ihm in Österreich danach untersagt. Immerhin sah er endlich seine Mutter und seinen Bruder wieder, die nun in Wien lebten, außerdem knüpfte er neue Bekanntschaften, darunter die zu Constantin von Wurzbach, dem Begründer des Biographischen Lexikon des Kaiserthums Oesterreich.
In Ungarn zurück heckte er einen abenteuerlichen Plan aus: Er bot sich dem Polizeiministerium in Wien als Spitzel an. Bei einem Treffen mit dem Polizeichef von Buda und Pest legte er am 9. Februar 1854 dar, er plane, eine Ungarische Vierteljahresschrift herauszugeben, in die er die Österreich feindlich gesonnene Elite des Landes einzuspannen gedenke, um sie bei privaten Treffen ausspionieren zu können. Er verlangte dafür 100 fl (Gulden) monatlich, zuzüglich einer Einmalzahlung von 500 fl für Reisespesen sowie einen Pass mit falschem Namen. Der Polizeichef hatte so seine Zweifel an der Zuverlässigkeit dieses „Abenteurers“. Am Ende sprangen für Kertbeny immerhin 50 fl heraus für beschaffte Informationen, da diese jedoch unergiebig waren, kam es zu keiner weiteren Zusammenarbeit.
Derweil arbeitete er unermüdlich an mehreren der ungarischen Kultur gewidmeten Werken und sammelte Material für Liszts Buch Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861). Auch bemühte er sich vergeblich um die Hand einer wohlhabenden und nicht mehr ganz taufrischen Baronin, landete aber schließlich in Schuldhaft, als der Vorschuss für eine Festschrift, die er nie fertigstellte, aufgebraucht war.
Kertbenys letzter Aufenthalt in Wien
Im Januar 1856 war er wieder in Wien, wo er diesmal in der Bognergasse 315 (heute Naglergasse 8) wohnte, in der 1834 einen Monat lang auch der dänische Dichter Hans Christian Andersen sein Quartier genommen hatte. Der Offizier und Dichter Joseph Christian von Zedlitz beschrieb einen Besuch, den Kertbeny ihm ein Jahr darauf abstattete: „Gestern war eine Menge Leute bei mir, zuerst Kertbeny, der ungarische Literat, etwas anbrüchig [= angefault], aber von bedeutendem encyclopädichen Wissen – er kommt so alle halbe Jahr bei mir vor, schickt mir seine Drucksachen, bleibt ein paar Stunden bei mir, und ich lasse mir mit Vergnügen allen literarischen Tratsch, den er von einem Winkel der Erde zum andern und in allen möglichen Literaturen kennt, von ihm erzählen.“
Als der jüdisch-ungarische Autor Adolf Ágai ihn im Herbst 1858 in einem Kaffeehaus am Graben kennenlernte, hatte Kertbenys Namen in seinen Ohren einen guten Klang als Übersetzer Petőfis, über den sie lange plauderten. Um Geld zu verdienen schrieb Kertbeny damals neben Zeitungsartikeln auch Denkschriften beziehungsweise Werbetexte für einen Weingroßhändler und eine Pariser Silberwarenfirma, doch ein Besuch Ágais an der von Kertbeny angegebenen neuen Adresse in der Alserstraße 4 offenbarte, dass er einmal mehr aufgrund seiner Schulden eingesperrt worden war, diesmal vermutlich in den Narrenturm. Als Österreich im April 1859 Italien den Krieg erklärte, setzte sich Kertbeny nach München ab. Er kam wohl sein Lebtag lang nicht wieder in seine Geburtsstadt zurück, selbst dann nicht, als seine damals im 4. Bezirk in der Favoritenstraße 29 wohnende Mutter am 7. Mai 1868 starb.
Die Erfindung heute weltbekannter Begriffe
Die nächsten Stationen seines unsteten Lebens waren Genf, Paris und Brüssel, bevor er wieder nach Deutschland zog. Es war eine Zeit, in der er neben der üblichen Geldnot auch unter der ständigen Überwachung durch die Polizei litt. Liest man in seinen Notizbüchern aus dieser Zeit von seinen Begegnungen mit jungen Männern, inklusive diverser Gonorrhoe-Infektionen, wird seine Angst begreiflich, denn die Beamten hätten womöglich mehr mitbekommen können, als dem Verfasser lieb sein konnte.
Und die tagebuchartigen Eintragungen offenbaren noch etwas: Am 21. Juni 1864 erwähnt Kertbeny erstmalig den in Ostfriesland geborenen Juristen Karl Heinrich Ulrichs, jenen Mann, der von der Forschung als der „erste Schwule der Geschichte“ apostrophiert werden sollte. Zwischen den beiden Männern entspann sich ein (nicht überlieferter) Briefwechsel, in dem es um die Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe gegangen sein muss, die Ulrichs in diesem Jahr mit einer ersten noch unter dem Pseudonym Numa Numantius herausgegebenen Schrift angestoßen hatte. Dies führte 1868 zu zwei Sprachschöpfungen Kertbenys, welche die Sexualforschung bis heute prägen, nämlich die Begriffe „homosexual“ und „heterosexual“. Doch während Ulrichs sich mit der von ihm geschaffenen Nomenklatur selbstbewusst als „Urning“ bezeichnete, sprich als schwuler Mann, bestand Kertbeny auch nach zwei 1869 anonym in Leipzig veröffentlichten Schriften zur Entkriminalisierung männlicher Homosexualität darauf, ein „Normalsexualer“ zu sein. Seine Wortschöpfungen fanden zunächst wenig Widerhall, erst um die Wende zum 20. Jahrhundert begann sich das Begriffspaar auch international zu etablieren – einen Siegeszug, den Kertbeny nicht mehr erleben sollte.
Damals wohnte der umtriebige Ungar wieder in Berlin, wo er weiter versuchte, Prominente im In- und Ausland zu kontaktieren und für seine Zwecke einzuspannen. Wie so oft schon, schlug dies nach anfänglicher Begeisterung regelmäßig in Ablehnung um: „Was den Kertbeny betrifft“, schrieb niemand Geringerer als Karl Marx im Oktober 1868, „so ist er ein wichtigtuender, konfuser, zudringlicher literarischer Bummler, und je weniger man mit ihm zu schaffen hat, desto besser.“ Marx ahnte natürlich nichts von Kertbenys Veranlagung, sonst hätte er womöglich Anspielungen darauf in seiner abwertenden Aufzählung untergebracht, teilte er doch mit seinem Mitstreiter Friedrich Engels dessen abfälliges Urteil über Homosexuelle. Ulrichsʼ emanzipatorische Schriften über die mannmännliche Liebe waren für Engels nur „äußerst widerliche Enthüllungen“, in denen „die Schweinerei in eine Theorie um[ge]setzt“ würde.
Im Januar 1870 lähmte Kertbeny ein Schlaganfall linksseitig, was ihn nicht davon abhielt, weiter publizistisch tätig zu sein, wenn nötig, diktierte er halt. Als Übersetzer mehrerer Romane Mór Jókais, dem ungarischen Lieblingsschriftsteller von Kaiserin Elisabeth, sowie als Verfasser autobiografischer Erinnerungen war er weiterhin in der Literaturszene präsent. Jetzt, wo er seine Mutter nicht mehr unterstützen musste, scheint er auch keine Schulden mehr gemacht zu haben.
Rückkehr nach Ungarn
Er fühle sich wie ein „einsamer, immer böser sich mausernder Kritzelspatz“, schrieb er 1874 an den Maler Wilhelm Camphausen in Düsseldorf, fahre aber auch halbblind fort zu schreiben. Ein Jahr später hatte man in Ungarn ein Einsehen und gewährte ihm eine staatliche Rente, sodass er nach Budapest heimkehren konnte, wo auf das kranke Landeskind eine Unterkunft im Rudas-Bad wartete. Wieder zurück in der Heimat war Kertbeny weiterhin publizistisch tätig, veröffentlichte seine über Jahre zusammengetragene Bibliografie der ungarischen nationalen und internationalen Literatur und verhandelte 1879 mit dem Zoologen Gustav Jäger über eine Veröffentlichung seiner Sexualitäts-Studien. Um 1881 ereilte ihn ein weiterer Schlaganfall. Einen letzten liebevoll-ironischen Blick auf den halbseitig gelähmten Schriftsteller, dünn geworden und dadurch noch größer wirkend, verdanken wir Adolf Ágai, der ihn neun Tage vor seinem am 23. Januar 1882 erfolgten Tod am Arm eines alten Dieners über den Ferenciek tere stapfen sah und ansprach. „Meine jüngste Eroberung“, witzelte der 57-jährige Invalide über den Mann an seiner Seite, „und mein letztes Anlehnen“.
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