
Anton von Maron: Marianna von Martinez, um 1773, Ölgemälde, Wien Museum, Inv.-Nr. 158809
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Wiederbegegnung mit der Wiener Komponistin Marianna Martines
Zwischen Salon und Sonaten

Meist stehen die großen Namen der Wiener Klassik – Mozart, Haydn, Beethoven – im Rampenlicht. Doch die Wiener Musikkultur dieser Zeit war deutlich reichhaltiger als es die drei Namen vermuten lassen. Daher richtet sich der Blick allmählich auch auf lange übersehene Gestalten der Musikgeschichte. Eine von ihnen ist Marianna Martines (1744–1812). Die in Wien geborene Komponistin, Cembalistin und Sängerin zählte im 18. Jahrhundert zu den prominentesten Musikerinnen in Wien. Sie wuchs im sogenannten Großen Michaelerhaus im Herzen Wiens auf, unter einem Dach mit dem Hofdichter Pietro Metastasio, dem Gesangslehrer Nicola Porpora und mit dem jungen Joseph Haydn. Martines musizierte mit Mozart, spielte vor Kaiserin Maria Theresia und komponierte in einer beeindruckenden Bandbreite – Messen, Arien und ein Oratorium, Konzerte und Sonaten für Cembalo. Trotzdem geriet ihr Name bald nach ihrem Tod über zwei Jahrhunderte lang fast vollständig in Vergessenheit.
Im Jahr 2025 rückt Martines nun wieder ins öffentliche Bewusstsein: Am Originalschauplatz ihres Lebens und Wirkens, dem Wiener Michaelerhaus und der angrenzenden Pfarre St. Michael, findet am 16. und 17. Juni 2025 ein Festival zu ihren Ehren statt, flankiert von der szenischen Wiederaufführung ihres Oratoriums Isacco figura del Redentore in der Wiener Kammeroper (Premiere 05.06.2025). Einer der Köpfe hinter dieser Wiederentdeckung ist die Musikwissenschaftlerin Melanie Unseld, Professorin an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) und Organisatorin des Martines-Festivals. Im Gespräch mit Amar Priganica vom Wien Museum Magazin erläutert sie Martines’ außergewöhnliche Karriere und beleuchtet den kulturhistorischen Kontext ihres Schaffens.
Marianna Martines ist heute nicht mehr sonderlich bekannt, doch im Wien des 18. Jahrhunderts war sie eine Berühmtheit. Jetzt wird ihr mit einem Festival und der Aufführung ihres Oratoriums Aufmerksamkeit geschenkt – und das ohne einen runden Geburtstag oder ähnlichen Anlass. Was macht Martines aus heutiger Sicht so besonders, und warum wird gerade jetzt ihr Werk wiederentdeckt?
Tatsächlich feiern wir kein Jubiläum von Martines. Es ist vielmehr ein glücklicher Zufall und Ausdruck des wachsenden Interesses an ihr und ihrer Musik, dass das Theater an der Wien beschlossen hat, Martines’ Oratorium „Isacco figura del Redentore“ szenisch aufzuführen. Gleichzeitig erscheint in den „Denkmälern der Tonkunst in Österreich“ (DTÖ) – einer sehr renommierten, 1893 von Guido Adler gegründeten Reihe – erstmals Musik einer Frau. Dabei handelt es sich gleich um zwei Bände mit Werken von Martines: ihre Cembalokonzerte und zwei ihrer Messen. Diese Edition ist ein bedeutender Schritt, denn dadurch werden Noten verfügbar, sodass ihre Kompositionen wieder aufgeführt werden können. Martines wird also sichtbar und vor allem hörbar gemacht – meiner Ansicht nach vollkommen zurecht, denn sie war für ihre Zeit eine beeindruckende Persönlichkeit. Sie war als Komponistin in Wien bekannt und weit darüber hinaus sehr geschätzt.
Martines’ Wiederentdeckung kommt nicht von ungefähr: Sie zählte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu den prominentesten Musikerinnen Wiens. Dass sie schon damals so bekannt war, liegt unter anderem an ihrem außergewöhnlichen Umfeld. Martines wurde in ein sehr interessantes Netzwerk hineingeboren und in diesem intellektuellen und künstlerischen Netzwerk gefördert. Ihr Vater Nicolo stammte aus Italien und arbeitete in Wien an der päpstlichen Nuntiatur (der diplomatischen Vertretung des Vatikans). Er war mit Pietro Metastasio, dem berühmten Hofdichter, eng befreundet. Und als Metastasio 1729 nach Wien zog, bezog er gemeinsam mit seinem Freund Nicolo Martines und dessen Familie eine große Wohnung im Michaelerhaus – nur einen Steinwurf von der Hofburg entfernt. Die Martines’ waren eine junge Familie, die im Laufe der Jahre insgesamt mit 13 Kindern gesegnet wurde, von denen allerdings nicht alle überlebten. Marianna Martines kam 1744 als erstes Mädchen zur Welt – nach mehreren Buben. Man muss sich diese Wohnung und dieses Haus als äußerst lebendigen Ort vorstellen: viele Kinder und ein berühmter Mitbewohner. Denn Metastasio war zu dieser Zeit bereits eine literarische und intellektuelle Institution. Bei ihm gaben sich Künstler, Literaten und Musiker aus ganz Europa die Klinke in die Hand – jeder, der nach Wien kam, wollte den großen Dichter besuchen. All diese Besuche fanden im Großen Michaelerhaus statt. Für die kleine Marianna, die dort aufwuchs, gehörte dieser intellektuelle Zirkel also zum Alltag.

Metastasio übernahm quasi die Rolle eines Mentors für die Kinder der Familie Martines. Er kümmerte sich um ihre Ausbildung und ihre Karrieren. Das wissen wir beispielsweise besonders vom ältesten Bruder Joseph. Metastasio sorgte dafür, dass die begabten Kinder Sprachen lernten und die besten Lehrer ins Haus kamen. Marianna zeigte früh musikalisches Talent, also stellte Metastasio auch hervorragende Musiklehrer ein. Er engagierte zum Beispiel den berühmten Gesangspädagogen Nicola Porpora, der zeitweise ebenfalls im Michaelerhaus wohnte. Porpora unterrichtete dort seine Schülerinnen und Schüler, darunter auch Marianna Martines. Ebenso gehörten der Hofkomponist Giuseppe Bonno, bei dem sie Kontrapunkt lernte, und Joseph Haydn zum Kreis ihrer Lehrer. Haydn war damals ein junger Mann von etwa 17 Jahren. Er war gerade als Sängerknabe an St. Stephan entlassen worden (wegen des Stimmbruchs) und schlug sich als Musiker durch. Im Michaelerhaus fand er Unterkunft bei einer befreundeten Musikerfamilie, die ebenfalls im Hause wohnte, und arbeitete überall mit, indem er zum Beispiel beim Gesangsunterricht von Nicola Porpora korrepetierte (also am Klavier begleitete). Haydn erteilte Marianna Klavierunterricht und unterrichtete sie in Komposition. Man kann sich vorstellen, dass in diesem Haushalt den ganzen Tag Musik in der Luft lag. Überall im Haus wurde musiziert und unterrichtet – eine bessere Umgebung für eine talentierte junge Musikerin konnte man sich kaum wünschen. Marianna Martines erhielt auf diese Weise eine Ausbildung, die für ihre Zeit außergewöhnlich war – selbst für männliche Kollegen, erst recht aber für eine junge Frau. Sie lernte mehrere Sprachen fließend. Der englische Gelehrte Charles Burney staunte, wie gut sie Englisch sprach – gutes Englisch war damals in Wien keineswegs üblich. Vor allem aber wurde sie musikalisch auf höchstem Niveau ausgebildet: Gesang, Klavierspiel und Komposition. In all diesen drei Bereichen wurde sie hervorragend gefördert.

Johann Ernst Mansfeld, Johann Steiner: Pietro Metastasio, undatiert, Kupferstich, Wien Museum, Inv.-Nr. 168822

Unbekannte/r Künstler/in: Guiseppe Bonno, nach 1788, Wikimedia Commons

Georg Sigmund Facius, John Hoppner: Josef Haydn, vor 1807, Pinselzeichnung, Wien Museum, Inv.-Nr. 40165
Diese hervorragende Ausbildung trug Früchte: Schon als junge Frau trat Martines zu Hause regelmäßig vor Gästen auf. Metastasio veranstaltete in seinem Salon regelmäßige musikalisch-literarische Zusammenkünfte, und oft kamen Besucher, um Marianna spielen oder singen zu hören. Das verschaffte ihr früh eine wichtige Bühne. Auch Leopold und Wolfgang Amadé Mozart gehörten zu den Gästen: Bereits 1762, der sechsjährige Wolfgang Mozart war erstmals in Wien, besuchte die Familie Mozart Metastasio. Und neben dem heimischen Salon war auch die Michaelerkirche nebenan eine Bühne für Martines – in dieser Pfarrkirche wurden einige ihrer Messen aufgeführt. Und schließlich wurde auch der Hof auf sie aufmerksam: Martines durfte vor Kaiserin Maria Theresia musizieren. All das zeigt, wie sehr sie schon in jungen Jahren im Wiener Musikleben präsent war.

Kommen wir zu Martines’ Kompositionsstil. Oft liest man, sie verbinde gekonnt den alten kontrapunktischen „gelehrten“ Stil – man denkt etwa an Bach oder an die strenge Schule eines Fux – mit dem galanten, italienisch geprägten Stil ihrer Epoche. War das typisch für die Zeit oder zeichnet sie sich hier vor anderen aus?
Versetzen wir uns in die Zeit um 1770 in Wien: Da denkt man in Sachen Kontrapunkt weniger an Bach (der in Wien damals noch kein beherrschendes Vorbild war), sondern an Johann Joseph Fux. Fux hatte mit seinem Lehrwerk „Gradus ad Parnassum“ die Kontrapunkt-Bibel für Generationen von Komponisten verfasst, auch Haydn hat danach gelernt. Diese strenge Satztechnik gehörte zur Ausbildung dazu. Martines erhielt durch ihren Lehrer Giuseppe Bonno mit Sicherheit eine fundierte Kontrapunkt-Schulung nach Fux’scher Art.
Gleichzeitig war Martines stark von der italienischen Musikästhetik beeinflusst. Durch Porpora und Metastasio, die beide Italiener waren, bekam sie in Wien eine Art italienische Schule vermittelt, ohne selbst nach Italien reisen zu müssen. Viele Komponisten – auch ihr Lehrer Bonno – gingen nach Italien, um den neuesten Opern- und Gesangsstil zu studieren – denken Sie an Leopold Mozart, der mit dem jungen Wolfgang gezielt nach Italien reiste, um ihn dort ästhetisch zu schulen. Marianna Martines hat Wien vermutlich niemals verlassen (jedenfalls ist keine Reise dokumentiert), und trotzdem war sie ästhetisch „am Puls Italiens“. Porpora brachte ihr den italienischen Gesangsstil bei und mit Metastasio und seine Kontakte – etwa zu dem berühmten Kastraten Farinelli – war sie ohnehin eng mit der italienischen Gesangsschule verbunden. Der bereits erwähnte Charles Burney kam 1772 von einer Italienreise nach Wien und war erstaunt, in Martines’ Musik diese „Italianità“ wiederzufinden – obwohl Martines, wie gesagt, selbst wohl nie in Italien war. Wir würden mit heutigen Worten wohl von kulturellem Transfer sprechen: Italienische Einflüsse wurden durch Personen wie Metastasio nach Wien gebracht, dort von einer Komponistin wie Martines aufgenommen und mit der heimischen Tradition verschmolzen.
Martines vereint also in ihrer Musik zwei große Strömungen: die kontrapunktische Kunst der Wiener Schule à la Fux und die italienische Melodik und Gesangsvirtuosität. Dies macht einen besonderen Reiz aus. In ihren Werken hört man tatsächlich beides: Haydn’schen Esprit und kontrapunktisches Können, aber auch Porporas Gesangsstil. Diese Synthese beherrschte sie meisterhaft.

Was kann man musikalisch über Martines’ „Oratorium Isacco figura del Redentore“ sagen? Leider ist das Werk heute kaum aufgeführt. Wie klingt „Isacco“? Hat sich Martines damit mit anderen Oratorienkomponisten ihrer Zeit messen können?
Aus der Partitur kann man ablesen, dass „Isacco“ kompositorisch und dramaturgisch sehr gelungen ist. Das Libretto ist ja hoch dramatisch. Und: Martines konnte hier wirklich aus dem Vollen schöpfen. Sie hatte ein großes Orchester, Solisten und Chor zur Verfügung – alles, was man bräuchte, um eine Oper zu komponieren. Sie beherrschte diese Fülle meisterhaft. Dass das Theater an der Wien ihr Oratorium 2025 szenisch auf die Bühne bringt, wundert mich deshalb nicht – die Musik hat offenbar genug dramatische Kraft, um auch im Opernformat zu funktionieren. Martines komponierte „Isacco“ 1781 in einer Phase, in der sie sich auf dem künstlerischen Höhepunkt befand. Man spürt in der Partitur ihre ganze Erfahrung und Könnerschaft. Manche Szenen haben eine enorme Ausdrucksstärke. Ich bin sehr gespannt, das Werk bald live zu erleben. Ich denke mir manchmal: Hätte Martines beschlossen, doch in die Opernwelt zu gehen, sie hätte sicher auch dort Großartiges schaffen können. Aber, wie gesagt, die Umstände sprachen dagegen.
Das Sujet des Oratoriums ist ein biblisches, die Opferung Isaaks durch Abraham. Interessant ist, dass dieses Sujet des Kindsopfers im 18. Jahrhundert erstaunlich oft aufgegriffen wurde, nicht nur von Martines. Es gibt mehrere Opern und Oratorien über diesen Stoff, denken Sie zum Beispiel auch an Mozarts „Idomeneo“. Allein Metastasios Libretto des Isacco wurde rund 50 mal vertont. Warum gerade diese Geschichte damals so populär war, ist eine spannende, ideengeschichtliche Frage. Jedenfalls sehen wir, dass das Sujet des Kindsopfers kein Nischenthema war, sondern im Gegenteil geradezu en vogue. Martines hat sich damit auf aktuelles Thema eingelassen.

Kommen wir zurück zu Marianna Martines’ Nachruhm. Sie war zu Lebzeiten angesehen, wurde dann aber fast völlig vergessen. Woran lag das? Lag es einfach daran, dass sie eine Frau war? Die Schriftstellerin Caroline Pichler – die Martines noch als junges Mädchen erlebte – schrieb später einmal recht abfällig, das Komponieren von Frauen habe eben nie das Niveau der Männer erreicht. Waren solche Vorurteile schuld, oder gab es andere Gründe?
Aussagen wie die von Caroline Pichler zeigen sehr deutlich das Klima des 19. Jahrhunderts: Man konnte sich einfach nicht vorstellen, Komponistinnen auf Augenhöhe mit ihren männlichen Kollegen zu sehen. Aber die unmittelbaren Gründe für Martines’ Verschwinden aus dem Bewusstsein sind auch ganz prosaisch. Zuallererst: Nur wenige Kompositionen von ihr wurden gedruckt. Vieles von Martines’ Werk existierte nur in handschriftlichen Noten, die im Familien- oder Bekanntenkreis kursierten. Nach ihrem Tod 1812 gerieten diese Manuskripte leicht außer Acht. Einige kamen in Archive – zum Beispiel ins Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien – wohl dank musikkundiger Personen wie einem Fräulein Engelhardt, über das wir bislang nicht allzu viel wissen. Marko Motnik wird beim Martines-Festival zu dieser Schlüsselperson in der Martines-Überlieferung mehr sagen. Aber zahlreiche Stücke sind bis heute verschollen. Und da nur wenig von ihr gedruckt wurde, konnte ihre Musik nicht breit rezipiert werden. Sie wurde kaum mehr gespielt, und nach ein bis zwei Generationen erinnerte man sich nicht mehr an sie. Die Musikgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts tat ihr Übriges: Sie konzentrierte sich auf Komponisten, eine Frau wie Martines passte nicht ins etablierte Geschichtsbild und wurde daher ignoriert.
Erst im Zuge der Frauenbewegung im 20. Jahrhundert begann man, nach historischen Komponistinnen zu suchen – da tauchte irgendwann auch der Name Marianna Martines wieder auf. Aber die wissenschaftliche Aufarbeitung steckt eigentlich noch in den Anfängen. Umso erfreulicher ist, was jetzt passiert: Ihre Werke werden kritisch ediert, es gibt erste moderne Aufführungen und Aufnahmen. Beispielsweise hat die Cembalistin Nicoleta Paraschivescu in den letzten Jahren mehrere von Martines’ Werken auf CD eingespielt, sodass man sich endlich eine Vorstellung von ihrer Musik machen kann. All das gehört zum Wiederentdeckungsprozess.

Carl von Sales: Caroline Pichler, 1818, Ölgemälde, Wien Museum, Inv.-Nr. 29513

A. Jarosch, Bittner: Das alte Gebäude der Gesellschaft der Musikfreunde, undatiert, Holzschnitt, Wien Museum, Inv.-Nr. 14792
Sie organisieren nun ein Festival für Marianna Martines und ein wissenschaftliches Symposium. Können Sie zum Abschluss noch kurz erzählen, was uns dabei erwartet? Was genau haben Sie vor – und welche offenen Fragen möchten Sie mit neuer Forschung klären? Was erhoffen Sie sich als größeres Ergebnis dieser Aktivitäten?
Sehr gern. Das Festival „Klänge aus dem Großen Michaelerhaus“ findet am 16. und 17. Juni 2025 statt, direkt in der Pfarre St. Michael im ersten Bezirk. Am 16. Juni beginnen wir mit einer Vorstellung der neuen Notenedition von Martines’ Werken, und am Abend folgt ein Konzert mit der Alma Mahler Philharmonie, einem jungen Ensemble, geleitet von Clara Bauer Wagsteiner. Auf dem Programm stehen zwei Cembalokonzerte von Marianna Martines – eben jene, die auch in der DTÖ-Edition erscheinen – sowie weitere Werke aus ihrem Umfeld. Die Soloparts der Cembalokonzerte werden von Studierenden des Instituts für Alte Musik der mdw gespielt. Besonders stimmungsvoll: Dieses Konzert findet im Sommerrefektorium statt, also nur wenige Meter von Martines’ einstigem Wohnhaus entfernt. Die historischen Orte werden also buchstäblich miteinbezogen. Ich glaube, das wird eine sehr lebendige Art, Martines’ Musik an ihrem Originalschauplatz wiederzuhören.
Am 17. Juni gibt es dann ein ganztägiges wissenschaftliches Symposium am gleichen Ort. Wir denken gewissermaßen gemeinsam über Martines nach, neueste Forschungsergebnisse rund um Marianna Martines werden gezeigt und diskutiert. Dafür habe ich Kolleginnen und Kollegen gezielt ermuntert, sich der offenen Fragen – den Blackboxes der Martines-Forschung – anzunehmen. Obwohl ich selbst schon lange zu Martines arbeite, stoße ich immer wieder auf Punkte, die unklar sind: Wo genau sind ihre Manuskripte geblieben? Wie liefen die Uraufführungen ab? Wie genau war die Ausbildungssituation im Michaelerhaus, von der vielleicht auch jemand wie Haydn profitierte? Diese und viele weitere Fragen wollen wir beleuchten. Beispielsweise geht Marko Motnik der Rolle der erwähnten Fräulein Engelhardt nach, die Martines’ Manuskripte bewahrt und ins Archiv weitergegeben hat – wer war sie, und was verdanken wir ihr? Oder wir schauen uns die damalige Aufführungspraxis an: Wie inszenierte man ein Oratorium in Wien um 1780, und was sagt uns das über die Durchlässigkeit zwischen höfischer und bürgerlicher Musikkultur? Durch solche Detailstudien möchten wir Martines’ Lebens- und Arbeitskontext präziser rekonstruieren.
Mein übergeordnetes Ziel – Sie fragten nach dem „gesamtgesellschaftlichen“ Ziel – ist es, unser Bild der Wiener Klassik ein Stück weit zu korrigieren oder zumindest zu erweitern. Das gängige Narrativ ist ja sehr statisch: Man hat festgefügte Vorstellungen, wie die Musikszene um 1770 aussah, wer welche Rolle spielte (Hofkomponist vs. freier Künstler, Adel vs. Bürgertum usw.). Martines passt in viele dieser Schubladen nicht eindeutig hinein. Gerade deshalb ist sie so spannend, weil sie uns zwingt, aus einer anderen Perspektive auf diese Epoche zu schauen. Zum Beispiel aus der Perspektive der Migration: Martines’ Familie und Lehrer waren teilweise Zugewanderte aus Italien – ihr Werdegang ist also auch eine Geschichte des Kulturtransfers zwischen Italien und Wien. Oder betrachten wir die Ausbildungswege: Martines erhielt ihre hochkarätige Ausbildung informell im Haushalt, zu einer Zeit, als es noch keine staatliche Musikakademie gab (das Konservatorium wurde erst rund 50 Jahre später gegründet). Da stellt sich auch die Frage: Wie bildete man junge Talente eigentlich aus, bevor es diese Institutionen gab? Das gilt ebenso für Haydn, der ja im Michaelerhaus auch noch einiges lernte, nachdem er den Knabenchor von St. Stephan verlassen hatte. Ein weiterer Aspekt ist die Salonkultur, über die wir sprachen: Martines zeigt, dass die Kategorien „öffentlich vs. privat“ oder „adeliger Salon vs. bürgerlicher Salon“ in der Praxis gar nicht so trennscharf waren, wie man vielleicht annimmt. Insgesamt hilft uns Martines also, viele allzu grobe Koordinaten aufzubrechen. Ihr Beispiel macht deutlich, wie vielfältig, durchlässig und dynamisch die musikalische und gesellschaftliche Welt der Wiener Klassik war. Davon erhoffe ich mir auch einen Bewusstseinswandel: Weg von klischeehaften Bildern hin zu einem reicheren Verständnis dieser Zeit.

Hinweise:
Das Festival für Marianna Martines „Klänge aus dem Großen Michaelerhaus" findet am 16. und 17. Juni 2025 statt.
Das Oratorium „Isacco" von Marianna Martines wird von 5. bis zum 26. Juni am Theater an der Wien aufgeführt.
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