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Der Schneepalast 1927
Die erste Skihalle der Welt
„Ist es nicht als ein Zeichen des Wandels der Zeiten und ihrer Sehnsüchte anzusehen, daß das sommerlich-heitere ‚Venedig in Wien‘ von einst von einem winterlich schimmernden ‚St. Moritz in Wien‘ abgelöst wurde?“
(Neues Wiener Journal, 26.11.1927)
Und die Eröffnung erfolgte unter dramatischen Umständen: Nachdem Bürgermeister Karl Seitz am 26. November in „Dagfinn Carlsen’s Schneepalast in Permanenz“ die Eröffnungsrede gehalten hatte, wurde ein Schussattentat auf ihn verübt. Seitz, der in seinem Wagen saß, konnte sich rechtzeitig ducken und blieb unverletzt. Der Schütze Richard Strebinger, ein Mitglied der Wehrformation „Ostara“, wurde nach einer Verfolgungsjagd verhaftet.
Tags darauf berichtete die Presse ausführlich über das Attentat vor dem „Schneepalast“ – nicht zuletzt diese unverhoffte Publicity ließ die Wienerinnen und Wiener gespannt zu dieser neuen Freizeitattraktion unweit des Praters kommen, sodass die Polizei angesichts des großen Besucherandrangs das Gebäude gar teilweise sperren musste.
Im „Schneepalast“ standen den Wintersportbegeisterten auf einer rund 3000 m2 großen Fläche zwei Skipisten sowie eine Rodelbahn zur Verfügung. Die Rodeln wurden mit einem elektrischen Liftsystem auf den künstlichen Berg gezogen. Eine Schanze, die Wettkampf-Springern vorbehalten war, ließ Sprünge bis zu einer Weite von 20 Metern zu. Für die Errichtung der künstlichen Bergattrappe war die Bahnhofshalle mit einer 64 Meter langen, 16,60 Meter hohen und 28 Meter breiten Holzkonstruktion adaptiert worden. Darauf lagen Kokos- und Bürstenmatten mit einer zehn Zentimeter hohen Kunstschneeschicht.
Das renommierte Sporthaus Lazar stellte vor Ort Ski- und Rodelequipment leihweise zur Verfügung. Hinter dem Auslauf befand sich ein großer Zuschauerbereich mit einem Restaurant, in dem Bier der Brauerei Puntigamer, ein Hauptsponsor des „Schneepalasts“, ausgeschenkt wurde. Die Anlage war von zehn Uhr morgens bis 22 Uhr abends geöffnet, der Eintrittspreis für zwei Stunden Wintersportvergnügen betrug einen Schilling 50 Groschen.
Wichtig war dem Erfinder Dagfinn Carlsen, einem norwegischen Skispringer und Filmstar, dem Publikum des „Schneepalasts“ ein gewisses Maß an Authentizität zu bieten: Anlässlich der Eröffnung berichtete die „Arbeiter-Zeitung“ über das „kleine Vorzimmer der großen Natur“, in dem echte Fichtenbäume dem von Kunstschnee bedeckten Hügel alpines Flair verleihen würden und die Raumtemperatur knapp über dem Gefrierpunkt an die sibirische Kälte erinnere.
Das Angebot im „Schneepalast“ zielte auf ein urbanes Publikum ab, das sich im Winter auf den Hängen um Neuwaldegg und den Wiesen in Hütteldorf und Pötzleinsdorf tummelte. Ging es nach Dagfinn Carlsen, sollten die Wienerinnen und Wiener fortan ganzjährig und witterungsunabhängig in der Skihalle dem alpinen und nordischen Sport frönen. Als Vorbild diente ihm eine – in einer Automobilhalle auf dem Berliner Messegelände errichtete – Winterlandschaft, die den Besucherinnen und Besuchern der Ausstellung „Das Wochenende“ im Frühjahr 1927 neue Möglichkeiten der Freizeitgestaltung präsentierte.
Im sozialdemokratisch regierten „Roten Wien“ konnte der Skisport auf eine durchaus – wenn auch bürgerliche – Tradition aufbauen. Als Dagfinn Carlsen im Sommer 1927 bei der zuständigen Polizeidirektion um eine Lizenz für den Betrieb einer kommerziellen Kunstschneeanlage ansuchte, hatte er bereits einen geeigneten Ort dafür im Visier: die seit 1924 leer stehende Nordwestbahnhalle an der Taborstraße. Carlsen benötigte zur Umsetzung seines Plans ein großes Gebäude, und die Bundesbahnen Österreich (BBÖ) freuten sich über eine gewinnbringende Nachnutzung des stillgelegten Bahnhofs. Inverstoren wie die Warenhausgesellschaft Stafa und der Bierproduzent Puntigamer glaubten an den kommerziellen Erfolg des „Schneepalasts“.
Mit Laurence Clarke Ayscough holte Carlsen den Erfinder des bereits in Berlin erprobten Kunstschnees ins Boot: Der britische Diplomat und Schriftsteller hatte auf Drängen seiner Tochter ein ganzes Jahr lang versucht, künstlichen Schnee herzustellen. Während eines Skiurlaubs im schweizerischen Engelberg gelang es ihm schließlich, die richtige Mischung aus Waschsoda, Sägespänen und Wasser zu finden, die später als „Schneeersatz“ ein Patent erhielt. „Er scherte sich einen Teufel um das Gezeter des Hoteliers, der mit wachsender Besorgnis sah, wie Mister Ayscough auf dem Fußboden seines Hotelzimmers rätselhafte Chemikalien zerstampfte und vermischte“, wusste das „Neuigkeits-Welt-Blatt“ zu berichten.
Im Juli 1927 begannen Bauarbeiten für den „Schneepalast“, die Eröffnung war für Anfang September desselben Jahres geplant. Als am 15. Juli 1927 der Wiener Justizpalast brannte, zog „Schneemann“ Ayscough allerdings seine Beteiligung am Projekt zurück. Geschlagene sechs Wochen dauerte es, bis Carlsen den Briten davon überzeugen konnte, den „ewigen Winter“ doch nach Wien zu bringen.
Bürokratische Hürden verzögerten die Eröffnung weiter: Als die Bahnhofshalle bereits umgebaut und 150 Tonnen Kunstschnee mit dem Zug von einer Chemiefabrik in Moosbierbaum auf dem Weg nach Wien waren, schaltete sich die Stadt ein. Der Umbau sei nicht im Interesse des Verkehrswesens und ohne Genehmigung könne der „Schneepalast“ nicht in Betrieb genommen werden. Eine Bauverhandlung wurde schließlich zwei Wochen nach der Fertigstellung der Anlage, am 22. November, durchgeführt und einer „ausnahmsweisen Eröffnung“ bis zum Juni 1928 zugestimmt.
Fast drei Monate später als geplant wurde also der „Schneepalast“ am 26. November 1927 im Beisein zahlreicher prominenter Personen aus Sport und Politik eröffnet. In der Brigittenauer Skihalle boten Dagfinn Carlsen und namhafte österreichische Skiläufer und -springer täglich Einzel- und Gruppenkurse für Amateure und Profis an. Der Wiener Arbeiterturnverein etwa organisierte neben Skikursen einen Erste-Hilfe-Kurs für Skiunfälle sowie ein Kindersportfest.
Obwohl von Carlsen als Sport- und Trainingsstätte konzipiert, überwog der Unterhaltungsfaktor im „Schneepalast“: „Stünde der ‚Schneepalast‘ ein wenig weiter südlich, etwa im Wurstelprater beim Kalafati, würde er dort besser hinpassen, denn er ist eher eine Praterunterhaltung, sogar eine ganz nette Unterhaltung, aber doch ein Bluff, denn nach der geschickt inszenierten Reklame müßte man glauben, es mit einer wirklichen Sportförderung zu tun zu haben [...]“, merkte „Die Freiheit!“ bereits unmittelbar nach der Inbetriebnahme kritisch an. In der Tat kam das Spektakel nicht zu kurz. Zahlreiche Sportbewerbe für Frauen und Männer im Langlaufen oder Hindernislaufen kamen zur Austragung, den Höhepunkt bildeten die wöchentlichen Skisprungkonkurrenzen, die viele Zuschauerinnen und Zuschauer in die Halle lockten.
Der um geschätzte 700.000 Schilling errichtete „Schneepalast“ stellte eine illusionäre Installation dar, die an die damals herrschende Bergfaszination anknüpfte. Er war Ausdruck einer modernen urbanen Eventkultur der Zwischenkriegszeit und stieß auf reges Medienecho. Doch die kritischen Stimmen, insbesondere in Hinblick auf den verwendeten Kunstschnee, wurden immer lauter: So berichteten mehrere Zeitungen, dass die Soda-Mischung Juckreiz und Atembeschwerden verursachen und bei Stürzen die Kleidung beschädigen würde. Die negative Berichterstattung und der schneereiche Winter in der Saison 1927/28 führten bald zu einem Besucherrückgang. Am 10. März 1928, nur 103 Tage nach der Eröffnung, musste Carlsen beim Zivillandesgericht in Wien den Antrag auf Eröffnung eines Ausgleichsverfahrens stellen. Er legte dem Gericht Zahlen vor, wonach bis zum März 1928 10.000 Skiläufer, 12.000 Rodler und 40.000 Zuseher die Skihalle besucht hätten und gab die Schuld an der wirtschaftlichen Misere der Stadt Wien, die die Inbetriebnahme des „Schneepalasts“ um mehrere Monate verzögert hätte.
Nachdem das Ausgleichsverfahren abgeschlossen war und sich Carlsens Hoffnungen auf eine Fortsetzung des Betriebs im darauffolgenden Herbst zerschlugen, endete die Indoor-Pistengaudi in der weltweit ersten Skihalle so schnell wie sie begonnen hatte. Im Oktober 1928 wurde die Konstruktion abgetragen und das Holz verkauft, um den Schuldenstand zu minimieren. Wenige Jahre später, so berichtete die „Arbeiter-Zeitung“ (2.1.1932, 7), erinnerte nur noch ein übrig gebliebener „Haufen Mist“ in der verwaisten Bahnhofshalle an die einstige Nutzung als Skianlage.
Derweil setzte sich der Trend zu überdachten Wintersportanalgen international fort, in den 1930er Jahren wurden etwa in Lyon, London, Paris, Boston oder New York ähnliche Anlagen errichtet – deren Existenz war aufgrund der immensen Bau- und Betriebskosten freilich ebenso nur von kurzer Dauer. Und Dagfinn Carlsen? Der Norweger verließ Wien wenig später in Richtung Skandinavien. Die im Jahr 1933 durch den Arbeiterturnverein Hadersdorf-Weidlingau errichtete „Kaasgrabenschanze“ vor den Toren Wiens erhielt ihm zu Ehren den Beinamen „Carlsen-Dagfinn-Schanze“.
Zur Geschichte des „Schneepalasts“ siehe ausführlich:
Petra Mayrhofer/Agnes Meisinger: Wintersport in Österreichs „alpiner Peripherie“ am Beispiel des „Schneepalasts“ in der Wiener Nordwestbahnhalle, in: Matthias Marschik/Agnes Meisinger/Rudolf Müllner/Johann Skocek/Georg Spitaler, Images des Sports in Österreich. Innensichten und Außenwahrnehmungen, Göttingen 2018, S. 147-160.
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sehr schöner text, aber bitte weniger sensationelle überschriften, siehe:
https://www.faz.net/aktuell/reise/schnee-von-gestern-historische-skihallen-in-berlin-17184971.html#void
Look...