Website Suche (Nach dem Absenden werden Sie zur Suchergebnisseite weitergeleitet.)

Hauptinhalt

Alexander Kluy, 16.10.2022

Die erste Giraffe in Wien

Eine Stadt im giraffösen Delirium

Die Ankunft der ersten lebenden Giraffe in Wien löste im Sommer 1828 eine Modewelle aus: Kaffee wurde à la Giraffe serviert, „Schürauftorten“ gebacken, Stoffe im Giraffenlook gedruckt, Musikstücke komponiert. Das aus Ägypten stammende Tier war allerdings nach dem strapaziösen Transport bzw. Fußweg so geschwächt, dass es knapp ein Jahr später in Schönbrunn verstarb.

Im Jahr 1828 erhielt Staatskanzler Clemens Wenzel Lothar Fürst Metternich ein Schreiben. Es stammte von Alphons Gabriel Fürst Porcia, dem Gouverneur von Küstenland, den drei Kronländern, der Grafschaft Görz und Gradisca, der Markgrafschaft Istrien und der reichsunmittelbaren Stadt Triest. Der Gubernialgouverneur und ambitionierte Hobbyentomologe setzte Metternich in Kenntnis, dass das Habsburgerreich als diplomatische Gabe von Muhammad Ali Pascha, dem Gouverneur der osmanischen Provinz Ägypten, ein wertvolles Geschenk erwarten könne – eine Giraffe. Giuseppe Acerbi wählte 1827 aus zwei Jungtieren das Weibchen aus, gemäß der damals gängigen und allgemein vertretenen Meinung, Giraffenweibchen seien resilienter und würden eine Gefangenschaft besser und länger durchstehen als Bullen.

Der 1773 geborene Acerbi stammte aus der Nähe Mantuas, war Naturforscher und Jurist und amtierte seit 1825 als kaiserlich österreichischer Generalkonsul in Ägypten. Unvermeidlich im Nil-Land, hatte er begonnen, sich für Archäologie zu interessieren. Zu Karl Ritter von Schreibers, der den kaiserlichen Naturalien-Cabineten zu Wien vorstand, verbanden ihn ähnliche naturwissenschaftliche Neigungen und Vorlieben.

Die maritime Überfahrt des Tiers verzögerte sich und wurde schließlich gestrichen. Es hatten sich deutlich Einschränkungen ob mehrerer Krankheiten bemerkbar gemacht. Am 10. April 1828 hatte Fürst Porcia dann jedoch gute Zeitung. Aus Triest schrieb er An Seine des HL Gubernial-Präsidenten Grafen v. Spaur Esc. Venedig. Spaur war von 1827 bis 1840 Gouverneur von Venedig und anschließend bis 1848 Gouverneur von Mailand. Es verhalte sich so, übermittelte Porcia, dass es doch dem General-Consul gelungen, anstatt der erkrankten, somit zur Anherreise untauglichen Giraffe eine andere von Cairo zu erhalten, welche er nächstens mit aller Vorsicht nach Venedig einzuschiffen gedenkt. Wenige Tage später wurde der hochragende Giraffenbulle verschifft, zusammen mit zwei Kühen, einem Kalb und seinem arabischen Wärter. Das Handelsschiff wurde vom österreichischen Kriegsschiff „Aretusa“ eskortiert. Via Korfu ging es nach Venedig. Dort wartete Josef Aman, Tierwärter zu Schönbrunn. Die klassischen 40 Tage in Quarantäne – das Zeitmaß war einst vom italienischen quaranta, vierzig, abgeleitet worden – entkam das Tier endlich dem Stall auf der Insel Poveglia. Nächstes Ziel: Fiume, das heutige Rijeka. Von dort sollte es zu Fuß nach Schönbrunn gehen. Veranschlagt waren 37 Tage mit insgesamt 64 ½ kursächsischen Postmeilen, einem Maß, bei dem 1 Postmeile 9 km entsprach oder 2 Wegstunden oder 16 000 Ellen oder 32 000 Fuß. Karl Bayer, zuvor Armeeoffizier und Mitglied des politischen Giraffe-Transports, erhielt kurz vor dem Aufbruch eine extra ausgearbeitete fiskalisch-bürokratische Instruktionsnote:

 

Nachdem die Giraffe sammt zwey Kühen und 1 Kalb in Begleitung des Schiffkapitäns Leva und 2 Matrosen, dann des von Wien behufs dessen nach Venedig abgesandten Menagerie-Wärters Amann, nebst jenen Effekten, welche zu Venedig für die Giraffe zubereitet, und laut Consignation sub 1. hieher gebracht worden sind, den 16ten Junius gehörig ausgeschiffet, und theils von Ihnen übernommen, theils an sie geweisen worden sind, so folgt es von sich selbst, daß Sie vom 16ten an, alle Auslagen welche die Giraffe, deren Begleitung und Transport fernes erheischt, aus dem bereits erhaltenen Vorschuße von 1500 fl. Kmze zu bestreiten haben werden.

Der Wanderweg begann in Fiume/Rijeka und führte über Cameniak, Delnicza, Szeverin und Carlstadt nach Agram, heute Zagreb, von dort nach Papowecz, St. Ivan, Ostricz und Lenda, weiter nach Körmend, Stein am Anger, Groß Warasdorf und Ödenburg, heute das ungarische Sopron. Vor Laxenburg waren dann Groß Hoeflein und Wimpassing die finalen Stationen. Pro Tag sollten zwei, nur in Ausnahmefällen drei Postmeilen, 18 beziehungsweise 27 Kilometer, zurückgelegt werden. An jedem vierten Tag wurde geruht und gerastet. Da Stürme die Schiffsreise um zehn Tage verlängert hatten, errechnete man eine Ankunft in Wien in der ersten Augustwoche. Für den Marsch wurden dem Tier zur Schonung Schnürschuhe aus Leder über die Hufe gezogen.

Schließlich wurde wegen seiner „schwachen Beine“ in Karlstadt/Karlovac ein Transportwagen konstruiert. Der war niedrig, gut gefedert, im Inneren abgepolstert. Durchs Dach aus Leinwand konnte das nachvollziehbar ermüdete Tier hinaussehen in die so gänzlich fremde Landschaft. Das Zuggefährt war groß genug, dass sich ihre beiden Wärter zu ihr gesellen konnten. Drei ebenfalls von Pferden gezogene Leiterwagen mit Kalb, Kühen und Ziegen und allem notwendig erscheinenden Instrumentarium schlossen sich an. Der Konvoi rumpelte über die Straßen und Wege. Von unterwegs vermeldete Bayer sorgsam Positives, etwa, dass die junge Giraffe gut zunehme, der besondere Zwieback, in Fiume extra für sie hergestellt, war eine Woche vor dem Eintreffen in Laxenburg bereits aufgefressen.

Am 6. August, einem Mittwoch, war die Kolonne schließlich da. Am selben Tage noch gönnte sich des Kaisers Hofstaat das außergewöhnliche Vergnügen, das bizarre Tier in Augenschein zu nehmen. Nachmittags, beliebte die Hauptstadtpresse am nächsten Tage zu kolportieren, geruhten Ihre Majestät die Frau Erzherzogin Marie Louise nebst Sr Durchlaucht dem Herrn Herzoge von Reichstadt, Dann Sr k. k. Hoheit der Herr Erzherzog Carl mit höchstseiner durchlauchtigen Familie, und Ihre k. k. Hoheiten die Herren Erzherzoge Anton und Ludwig dieselbe zu besichtigen. Es wurde ein Gehege gebaut. Und eine „Giraffenloge“ errichtet. Und wie in Paris brach sich Giraffomanie Bahn.

Schon im Januar, als die Nachricht die erste Gerüchte-Stadtrunde gedreht hatte, war in Windeseile eine Broschüre gedruckt worden. Titel: „Naturgeschichte der Giraffe“ Aus der Ferne geschildert, versteht sich, ohne persönliche Ansicht. Dafür war auf den überschaubar wenigen, exakt 16 Seiten, einem Druckbogen, eine kolorierte Abbildung enthalten, die nach dem im k. k. Naturalienkabinett ausgestellten Exemplar entstanden war. Das Heftlein bot wenig mehr als eine schnell zusammengewürfelte Synopse naturwissenschaftlicher Veröffentlichungen, akademischer Definitionen plus Gustostückerl antiker griechischer Beschreibungen.

Kaum war die Giraffe realiter da, wurde es, was sonst in Wien, sehr süß. Zuckersüß. Denn insbesondere die Zuckerbäcker warfen sich mit Verve auf das Thema. Sie schufen Miniaturtierlein aus Zucker- und Backwerk. Es entstand Giraffengebäck. Es wurden Giraffentorten kreiert, ein kreisrundes Gebäck aus einer stark eierhaltigen Mandelmasse, die hälftig geteilt wurde, wobei die eine Hälfte mit Schokolade gefärbt wurde, und danach löffelweise in eine Tortenform gegeben wurde, wodurch ein dem Fell der Giraffe ähnelndes Farbmuster entstand. Dazu wurde – ganz „à la giraffe!“ – der passende „Café à la Giraffe“ gereicht und getrunken, ein doppelter Schwarzer, dem etwas Milch oder Schlagobers beigegeben wurde, deren Schlieren im Kaffee ans Fell einer Giraffe gemahnen sollten. 

Giraffenkleider, Giraffenparfum, Giraffenhandschuhe...

Wien delirierte giraffös total. In Windeseile wurden Stoffe mit Giraffenmuster gedruckt. Daraus wurden Wiener »Giraffenkleider« geschneidert. Es gab Giraffen auf Hüten und auf Tabaksbeuteln, auf Glückwunschkarten und auf Gläsern. Das Tier aus Afrika wurde in Metall nachmodelliert. Ein Juwelier machte sich einen Namen mit grazilen und leistbaren Goldschmiedearbeiten, auf denen, ob Nadel, Ring, Ohrgehänge, Brosche, das langhalsige animale dekorativ aufschien. Ein anderer Schmuckmacher emaillierte ein Giraffenmotiv auf Perlmutt, fasste es in Gold und war so blendend à jour und auf der In-/Out-Liste eindeutig im In-Feld. Ein Parfümeur mit einem Geschäft am Graben erschuf den lukrativ erscheinenden Duft „Esprit à la Giraffe“. Wie dieser olfaktorisch anmutete, ist nicht überliefert. Es gab „ Giraffenhandschuhe“, auf deren weißes Leder, wie bei einem erhaltenen Exemplar im Technischen Museum Wien zu sehen, eine Giraffe aufgedruckt wurde. Ebenfalls in diesem Haus des Sammelns erhalten: des Lithografen Josef Häusles Muster-Giraffen-Druck einer Popeline. Zudem gab es Tintenbehälter mit Giraffenabbildung. Oder auch Streusandbehälter mit Giraffenimago. 

Überspringe den Bilder Slider
1/4

Eduard Gurk: Bewegungsstudien der Giraffe vor dem neuen Stallgebäude in Schönbrunn, Aquarell, 1828, Wien Museum

Vorheriges Elementnächstes Element
2/4

Eduard Gurk: Schlafende Giraffe im Käfig, Aquarell, 1828, Wien Museum

Vorheriges Elementnächstes Element
3/4

Eduard Gurk: Bewegungsstudien der Giraffe im Freien, Aquarell, 1828, Wien Museum

Vorheriges Elementnächstes Element
4/4

Eduard Gurk: „Die Girafe mit den angorischen Ziegen auf dem freyen Platze vor der Loge“, Aquarell, 1828, Wien Museum

Vorheriges Elementnächstes Element
Springe zum Anfang des Bilder Slider

Vielleicht am schnellsten reagierte die Gastronomie. Schon drei Tage nach der Ankunft des Giraffenbullen gab es in Penzing im „Gasthaus zur Blauen Traube“ einen „Giraffen-Ball“. Eine Einladung zu diesem Tanze erging auch an den arabischen Betreuer des Tieres. Es heißt, dass niemand Geringerer als der Geigenvirtuose Niccolò Paganini dazu bewogen wurde, in dieser Zeit ein Konzert zu verschieben – weil es alle Welt hinaus nach Schönbrunn zog, wäre niemand zu ihm gekommen. Ein anderer Musiker, Wenzel Plachy mit Namen, komponierte im Rapidgalopp seine „Variations pour le Pianoforte ´Sur le Galop à la Giraffe de Herz`“ . Der Name „Giraffe“ war da pianistisch schon gang und gäbe, infolge des so genannten Giraffenklaviers, einer hochgestapelten Variation eines Harfenklaviers.

Adolf Bäuerle hatte bereits Anfang Mai des Jahres ein „modernes Gemählde“ aufgeführt, wie die „Allgemeine Theaterzeitung“ vom 20. Mai 1828 vermeldete, ein die Ankunft wie die Modemanie vorgreifendes Stück mit dem Titel „Die Giraffe in Wien, oder: Alles à la Giraffe“. Die Uraufführung fand in der Vergnügungsmeile, der Praterstraße, in der Leopoldstadt statt, im k. k. privilegierten Theater, dem späteren Carltheater. Eine männliche Hauptrolle übernahm der beliebte Schauspieler und Stückeautor Ferdinand Raimund, der beliebte Schauspieler und Stückeautor, von dem ein halbes Jahr später „Der Alpenkönig und der Menschenfeind“ im selben Hause uraufgeführt werden sollte.

Im Tiergarten selbst, bei der „Schieraffe“ war im Hochsommer 1828 der Andrang gewaltig. Acht Grenadiere hatte man extra zum Behuf abkommandiert, den Ansturm aufs behufte Tier zu kanalisieren und diesem Ordnung zu geben. Dem Tier ging es nicht gut. Auf zeitgenössischen Abbildungen ist eine mehr als nur leichte Fehlstellung der Hinterbeine zu detektieren. Eine Folge der gänzlich ungewohnten Strapazen des Marsches? Nicht ganz von der Hand zu weisen. Die Giraffe fraß immer zögerlicher, immer weniger, kränkelte mehr und mehr. Es kam, wie es kommen musste. Am 20. Juni 1829 verendete sie. „Abmagerung in Folge eines Knochenfraßes am Gelenkkopf des Hinterschenkels“, lautete lakonisch der Obduktionsbefund.

Dieser Text ist ein Ausschnitt aus Alexander Kluys soeben erschienenem Buch „Giraffen. Eine Kulturgeschichte“, Edition Atelier, 2022. Darin erzählt der Autor, wie die Giraffen-Beschreibungen der Antike die Vorstellungen eines mythischen Wesens formten, wie die ersten Exemplare ihren mühsamen Weg in europäische Menagerien fanden und wie die Giraffe bis heute in Gemälden, in der Literatur, im Film und in der Street Art Zeugnis ihrer Einzigartigkeit ablegt.

Alexander Kluy, geboren 1966, lebt als Autor, Journalist und Herausgeber in München. Er schreibt regelmäßig u. a. für Standard, Buchkultur und Psychologie Heute. Als Autor veröffentlichte er zuletzt u. a. „E.T.A. Hoffmann. 100 Seiten“ (Reclam). In der Edition Atelier hat er u. a. „Nacht und Hoffnungslichter“ von Joseph Roth sowie Dorothea Zeemanns Roman „Das Rapportbuch“ herausgegeben.

Kommentar schreiben

* Diese Felder sind erforderlich

Kommentare

Fritz Lange

Leider hat der Autor Alexander Kluy bei der Klärung der Todesursache etwas oberflächlich recherchiert. In der Zeitschrift "Der Wanderer" vom 17. Juli 1829, greifbar über ANNO, berichtet J. E. Veith, ehemaliger Direktor und Professor am damaligen k. k. Thierarzney-Institut in Wien auf drei Seiten über die Obduktion der Giraffe. Bei beiden Beinen war jeweils der Oberschenkelhals gebrochen, weitere verheilte Rippenbrüche lassen auf Verletzungen schließen, die schon in Ägypten passiert sein dürften.
Ein Studium dieses Obduktionsberichtes wird dem Autor empfohlen.
Mit freundlichen Grüßen,
Fritz Lange