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Die Wiener „Spinnerin am Kreuz“
Vom Ende einer Blickachse
Die Baugeschichte der sogenannten „Spinnerin am Kreuz“, gelegen direkt an der Triester Straße auf Höhe des ursprünglich ebenfalls „Spinnerin am Kreuz“ genannten George-Washington-Hofes, ist denkbar einfach: Die für ein Bauwerk dieser Zeit außergewöhnlich gute, von Friedrich Dahm und Manfred Koller im Detail aufgearbeitete Quellenlage belegt, dass die Säule in den Jahren 1451–52 im Auftrag der Stadt Wien erbaut wurde, und zwar anstatt eines sich hier schon befindlichen älteren „steinernen Kreuzes“.
Die künstlerische Leitung oblag Hans Puchsbaum, die Arbeiten selbst wurden von der von ihm geleiteten Wiener Dombauhütte durchgeführt. Baubeginn war, wie eine Überschrift im Rechnungsbuch des Oberkammeramtes vermerkt, der Montag nach dem 15. August 1451 – „Ausgeben auf ain news Staineins kreucz ob meurlig am Montag post assumptionis marie angehebt“ –, und Ende Oktober 1452 war das Bauwerk vollendet. Dass die ältere Säule im Zuge dieser Arbeiten komplett ersetzt wurde (und es sich nicht, wie in von verschiedenen Autoren auch vermutet, um einen Umbau derselben handelte), belegt ein weiterer Eintrag im Rechnungsbuch, der vom Abbruch des alten und einem neuen Fundament für das zu errichtende Denkmal spricht: „Daz kreucz abzuprechen auf tagwerher vnd den Grunt ze machn“. Schon kurze Zeit nach der Errichtung entstand die älteste derzeit bekannte Abbildung der Säule: In einer um 1460 entstandenen Handschrift der „Concordantiae caritatis“ des Ulrich von Lilienfeld in der New Yorker Pierpont Morgen Library findet sich eine Stadtansicht Wiens von Süden, auf welcher die „Spinnerin“ prominent dargestellt ist, wobei hier, wie in anderen frühen Darstellungen (etwa dem Meldeman-Plan von 1529), kaum eine genaue Wiedergabe dieser bestimmten Säule mit ihren individuellen Zügen, sondern der architektonische Typus „Bildsäule“ an sich intendiert war.
Die weitere Geschichte der „Spinnerin am Kreuz“ erweist sich freilich als denkbar komplex. Im Laufe der Jahrhunderte wurde die Säule mehrmals restauriert (zum ersten Mal schon 1488), wobei nachweislich zu verschiedenen Zeitpunkten auch Teile ergänzt oder abgenommen und durch neue ersetzt worden sind. Eine Oberkammeramtsrechnung von 1598 etwa belegt, dass das Denkmal „in belegerung der Statt Wienn durch den grummigen Erb und Creuzfeindt den Türgkhen [also während der ersten Belagerung durch das Osmanische Heer im Jahr 1529] an den Püldern [also den Skulpturen] sehr gestümblet vnnd zerschlagen worden“ ist, wobei die Reparatur der Schäden an der Architektur durch Paul Khölbl und die Herstellung neuer Skulpturen durch Lorenz Murman und Valerian Gerolt eben erst 1598 erfolgte. Unter Einbeziehung solcher Textquellen und des vorhandenen Bildmaterials sowie durch eine kunsthistorische Analyse konnten Koller und Dahm nachweisen, dass zwar die Architektur der Säule im Großen und Ganzen dem ursprünglichen Entwurf Puchsbaums entsprechen dürfte, bezüglich der Substanz einzelner Teile aber jeweils die lange und nur selten bis ins Detail rekonstruierbare Restaurierungsgeschichte des Denkmals zu berücksichtigten ist. Zu nennen sind hier etwa die Restaurierungen von 1852 – als der Helm seinen ursprünglichen Krabbenbesatz wiedererhielt und das bekrönende Kreuz ersetzt wurde – sowie jene von 1892, als die oberen Teile der Säule (Fialen, Helm) formgetreu erneuert wurden.
Im Zuge der Renovierung von 1852 wurde auch die früheste genaue Bauaufnahme des 16 Meter hohen, aus Leithakalkstein errichteten Denkmals angefertigt. Diese Zeichnung veranschaulicht den architektonischen Aufbau der Säule, der mit französischen und englischen Gedächtnismalen verwandt ist, die anlässlich der Leichenbegängnisse für Angehörige der Königshäuser errichtet worden sind (englische „Eleanor-Crosses“, französische „montjoies“): Über einem achtseitigen Stufenpodest erhebt sich ein Sockel über kreuzförmigem Grundriss sowie ein darüber liegender Tabernakel mit quadratischem Kern und 4 Figurengruppen aus der Passion Christi, die in ein umfassendes Strebewerk integriert sind (Dornenkrönung, Ecce homo, Geißelung Christi, Kreuzigung). Den oberen Abschluss bilden eine Bekrönung mit Wimpergen, Fialen und Wasserspeiern, sowie ein pyramidenförmiger Steinhelm mit Krabbenbesatz und Kreuzblume.
Neben dem im 19. Jahrhundert abgenommenen und ersetzten oberen Teil der Säule (Teile wie Fialen und Wasserspeier befinden sich heute im Wien Museum), ist bezüglich der restaurierten und ersetzten Stücke vor allem auf die Figuren der Passionsszenen zu verweisen. Bei den Figuren vor Ort handelt es sich um im Punktierverfahren hergestellte Kopien von 1938, als man die Originale zu ihrem Schutz abnahm und den städtischen Sammlungen übergab. Diese Figuren befinden sich heute als Dauerleihgabe des Wien Museums im Bezirksmuseum Favoriten, allerdings handelt es sich dabei nicht um jene Arbeiten, die bei der oben genannten Restaurierung von 1598 angefertigt worden waren, sondern um Arbeiten aus dem frühen 18. Jahrhundert. Auch im Jahr 1683 nämlich hatten die Osmanen während der Belagerung der Stadt der Säule und vor allem den 1598 geschaffenen Skulpturen einigen Schaden zugefügt („an allen Statuen Völlig ruinirt, vnd Vnkhenbahr gemacht“), wonach der Bildhauer Matthias Rott von 1709–10 neue Figuren aus Kalksandstein schuf. Er war damit wohl für die wesentlichste optisch noch heute relevante Veränderung der Säule im Laufe der Jahrhunderte verantwortlich (ebenfalls von 1710 stammen drei von Putten getragene Reliefkartuschen mit Leidenswerkzeugen über den Passionsszenen).
Während die Rechnungsbücher der Stadt die Baugeschichte der Säule gut belegen, hat das Fehlen von Quellen bezüglich des eigentlichen Anlasses der Errichtung eines Denkmals an dieser Stelle zur Bildung zahlreicher Legenden und Sagen geführt, die seit dem frühen 19. Jahrhundert kontrovers diskutiert worden sind. Diese Legenden und Sagen überlagern die letztlich nicht feststellbare historische Realität in verschiedener Weise und beruhen meist auf Auslegungen und Herleitungen des Namens „Spinnerin am Kreuz“. So lautete etwa eine These, dass ein Mann namens Crispin Pöllitzer die Säule in Auftrag gegeben und daran die Statuen der Heiligen Crispinus und Crispinianus anbringen habe lasse. Durch Wortverschleifung habe sich im Laufe der Zeit aus der Kurzbezeichnung „Crispinus-Kreuz“ der Name „Spinnerin am Kreuz“ herausgebildet. Eine andere Erzählung berichtet von einer Spinnerin, die zum Tode verurteilt worden war, sich aber freikaufen konnte und zum Dank die Säule errichten ließ. Die wirkmächtigste und wohl bekannteste Sage aber handelt von einer Frau, die an dieser Stelle bei einem hölzernen Kreuz spinnend auf die Rückkehr ihres Mannes aus dem Kreuzzug wartete und die steinerne Säule schließlich zum Dank aus den Erträgen ihrer Arbeit errichten ließ. Verschriftlicht wurde diese Erzählung von Emanuel Marsch 1818 („Die Spinnerinn am Kreutze. Eine romantische Erzählung“, als Protagonistin wird hier Hulda von Rauhenstein genannt), ins Bild gesetzt wurde sie etwa in der um 1823 bei Trentsensky erschienen und von Moritz von Schwind illustrierten Reihe „Oesterreichs Sagen und Heldenmahle“ sowie in einem Alt-Wiener Geschäftsschild von 1845.
Noch eine Postkarte vom Beginn des 20. Jahrhunderts aus der Serie „Wiener Chronica“ tradiert sowohl diese Sage als auch die Crispin-These. Allerdings ist die Bezeichnung „Spinnerin am Kreutz“ in ähnlicher Form als vulgo-Namen für die Säule nicht für die Bauzeit, sondern erst für den Anfang des 17. Jahrhunderts belegbar („Creutz-Spinnerin“, „Spinnerin-Creutz“), und in der heute gebräuchlichen Form taucht sie überhaupt erst im frühen 19. Jahrhundert auf („Spinnerin am Kreuz“, 1803). Ältere Bezeichnungen waren „Kreuz“, „Bildsäule“ oder „Martersäule“, mit dem Zusatz des Ortes (z. B. „ob meurlig“), um sie von anderen Denkmälern gleicher Bezeichnung zu unterscheiden, so dass Herleitungen des Errichtungsanlasses aus der Bezeichnung „Spinnerin am Kreuz“ jedenfalls mit Vorsicht zu genießen sind. Historisch ebenfalls nicht belegt aber möglich wäre ein Zusammenhang mit der in der Nähe gelegenen Hinrichtungsstätte, wobei die Säule allerdings nicht (wie auch vermutet worden ist) die Grenze des Wiener Burgfriedes, also der Gerichtsbarkeit der Stadt, gekennzeichnet hat. Ganz allgemein kann festgehalten werden, dass seit dem Mittelalter eine ganze Reihe von Gründen Anlass dazu gegeben haben kann, an Wegen und Wegkreuzungen Kreuze und andere Kleindenkmäler zur errichten, die der Andacht und Einkehr dienen sollten.
Überblickt man die äußerst umfangreiche visuelle Überlieferung der „Spinnerin am Kreuz“ so fällt auf, dass Illustrationen der Sage einen verschwindend geringen Anteil des Bildmaterials ausmachen. Auch Einzeldarstellungen mit dem Ziel, die Architektur detailgetreu wiederzugeben, sind äußerst selten und finden sich erst ab dem frühen 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit vorgenommenen Restaurierungen.
Das Gros der Darstellungen der „Spinnerin am Kreuz“ situiert die Säule vor Gesamtansichten der Stadt Wien und vermittelt dadurch eine Bedeutung des Denkmals jenseits der historischen oder sagenhaften Umstände, die zu seiner Errichtung geführt hatten. Spätestens seit dem frühen 19. Jahrhundert nämlich wurde die „Spinnerin“ als „topographischer Fixpunkt im Süden Wiens“ (Werner Telesko), von dem aus man einen hervorragenden Blick auf die Stadt hatte, wahrgenommen und dargestellt. Dieser Umstand wurde auch in der zeitgenössischen Literatur konsequent propagiert, etwa von Johann Pezzls „Beschreibung von Wien“ (5. Aufl. 1820) bis zum „Wiener Baedeker“ von 1868: Wer Wien als Ganzes überblicken wolle, so der Tenor, müsse diesen Punkt aufsuchen. In vielen der von Süden aufgenommenen Panoramen der Stadt dient das Denkmal denn auch eher als Markierung des Ortes, von welchem die Stadt in den Blick genommen wird, denn als eigentlicher Hauptgegenstand der Darstellung. Die Genauigkeit der Architekturwiedergabe lässt entsprechend oft zu wünschen übrig, wie etwa in einem wohl um 1810/30 entstandenen Kupferstich, in dem die recht unbeholfen dargestellte Säule in der Form eines architektonischen Repoussoirmotivs nur angeschnitten am rechten Bildrand zu sehen ist, oder in einem wohl zeitgleich entstandenen Stahlstich „Wien von Süden“, der ebenfalls nicht als getreues Zeugnis für das damalige Aussehen der Säule herangezogen werden sollte.
Als meisterhaft sowohl in der Darstellung der Säule als auch in jener der Stadt erweist sich Rudolf von Alts „Blick auf Wien von der Spinnerin am Kreuz“. Diese Ansicht gibt außerdem nicht nur den Blick auf die Stadt wieder, sondern macht das Schauen selbst zum Motiv: zwei rucksacktragende Männer und eine Frau mit Sonnenschirm, in der Achse der Säulen stehend, wenden sich betrachtend der Stadt zu, während rechts der Säule das geschäftige Treiben auf der Straße zu sehen ist.
Ähnliche Szenen lassen sich auch in anderen Darstellungen finden. Deutlich wird dabei, dass die „Spinnerin am Kreuz“ ein Ort der Ruhe und des Einhaltens an der belebten Triesterstraße gewesen sein muss – sowohl für die arbeitende Landbevölkerung, als auch für Reisende, denen man riet, hier ein Pause einzulegen, um den Blick zu genießen: „Da hält wohl Jeder an, der zum erstenmale des Weges zieht […] um von einem der schönsten Aussichtspunkte […] die Prachtblicke zu genießen auf das reizende Wien“, heißt es in „Die Donaureise und ihre schönsten Ansichten“ von 1849.
Noch 1880, nun im Medium der Fotografie, wird die „Spinnerin am Kreuz“ in dieser Form mit einer auf dem Stufenpodest sitzenden Figur vor dem Hintergrund der Stadt aufgenommen. Wer allerdings nur wenige Jahre später vor hier aus die Stadt betrachten wollte, wurde enttäuscht. Ab etwa 1892 belegen Fotografien, dass schon damals der Blick auf die Stadt durch die Verbauung entlang der Triester Straße (Kaiser-Franz-Josef-Spital, 1887–1892 errichtet) verunmöglicht worden war. Hatte man schon 1891 davon gesprochen, dass das Denkmal „eine seinem historischen Werthe entsprechende Umrahmung finden“ solle (Wiener Geschichtsblätter, 1891), konnte Hugo Hassinger im „Kunsthistorischen Atlas der Stadt Wien“ von 1916 nur mehr feststellen, dass der „ehemals berühmte Blick von dieser Höhe auf Wien“ längst verbaut sei, und musste wiederum fordern, dass für eine „würdigere Gestaltung der Umgebung“ dieses Denkmals zu sorgen sei. Tatsächlich wurde die „Spinnerin“ in den folgenden Jahren nur noch mehr eingeschnürt. Bei der Errichtung des „George-Washington-Hofes“ (1927–1930, damals noch „Spinnerin am Kreuz“ genannt) wurde, wie Zeitgenossen kritisch bemerkten, keine besondere Rücksicht auf das Denkmal genommen.
In weiterer Folge wurde deshalb sogar der Vorschlag gemacht, die Säule in die Gartenanlage des Wohnbaus zu verschieben, und im Zuge der geplanten Verbreiterung der Triester Straße wurde 1937 gar angedacht, die Säule in die Straßenmitte zu verlegen. Keiner der Vorschläge fand Zustimmung, und das Problem der „würdigen Umgebung“ besteht bis heute. Die ab dem späten 19. Jahrhundert in Postkarten, Fotografien und künstlerischen Werken überlieferte Wahrnehmung der Säule stellte deutlich in Rechnung, dass die in zahlreichen Ansichten des 19. Jahrhunderts überlieferte Zusammenschau der „Spinnerin“ mit einer Gesamtansicht Wiens nun nicht mehr möglich war. In diesem erzwungenen Blickwechsel, der die Spinnerin teils zur Beigabe von Ansichten der an der Triester Straße liegenden Gemeindebauten, teils zum nur noch isoliert von seiner Umgebung gezeigten Denkmal machte, liegt vielleicht eine Mahnung im Umgang mit Blickachsen und Denkmälern im Allgemeinen.
Literatur (Auswahl):
Dahm, Friedrich und Koller, Manfred, Die Wiener Spinnerin am Kreuz (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte, Bd. 21), Wien 1991
Hassinger, Hugo, Kunsthistorischer Atlas der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien und Verzeichnis der erhaltenswerten historischen, Kunst- und Naturdenkmale des Wiener Stadtbildes (Österr. Kunsttopographie, Bd. 15), Wien 1916
Meyer, Joseph (Hg.): Die Donau-Reise und ihre schönsten Ansichten: mit mehr als 100 Stahlstichen der berühmtesten Künstler, Hildburghausen: Künstler-Verein des Bibliographischen Instituts, 1849
Öhlinger, Walter, Mit Stock und Hut. Aquarelle und Zeichnungen des Wiener Biedermeier (Katalog zur 302. Sonderausstellung der Museen der Stadt Wien), Wien 2003
Opll, Ferdinand, Roland, Martin: Wien und Wiener Neustadt im 15. Jahrhundert. Unbekannte Stadtansichten um 1460 in der New Yorker Handschrift der Concordantiae caritatis des Ulrich von Lilienfeld (2006)
Telesko, Werner, Kulturraum Österreich: Die Identität der Regionen in der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts, Wien-Köln-Weimar 2008
Urban, Emanuel: Die Spinnerin am Kreuz bei Wien. Verschiedene Notizen über diese Denksäule, Troppau 1880
Die „Spinnerin am Kreuz“ durch städtische Wohnhausbauten gefährdet, in: Reichspost, 26. Juni 1928, S. 5
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