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„Dispatches from a Troubled City“ in der Startgalerie
Die Stadt als Kreatur
Die Gruppenausstellung „Dispatches from a Troubled City. Die Stadt als Roman“ zeigt den neuen Schwerpunkt des Wien Museums, „neue kuratorische Positionen“ zu fördern. Wie bist du Kuratorin geworden und welche Schwerpunkte verfolgst du?
Mein Interesse am Kuratieren ist eng mit meiner eigenen künstlerischen Praxis verbunden. Ich betrachte meine kuratorische Arbeit nicht als getrennt von meiner künstlerischen Arbeit, eher als eine Erweiterung meiner Praxis. Während ich als Künstlerin hauptsächlich mit Skulpturen arbeite, liegt mein Schwerpunkt als Kuratorin auf der Erzählung im Raum und auf dem Dialog zwischen den Objekten. Thematisch variieren meine Projekte, aber als gemeinsames Prinzip gilt mein Interesse an Erzählung und Sprache, an einer starken visuellen Ästhetik und einem gewissen transgressiven Ansatz beim Kuratieren. „Dispatches from a Troubled City“ im Wien Museum MUSA ist meine erste institutionelle Ausstellung.
Als Ausgangspunkt der Ausstellung dient dir der Roman Perdido Street Station (2002) des Fantasy-und Science-Fiction Autors China Miéville. Wovon handelt der Roman?
Perdido Street Station ist ein Roman des Genres der spekulativen Fiktion. Wir befinden uns nicht in einer futuristischen, sondern in einer Parallelwelt. Die fiktive Metropole New Crobuzon verbindet Steampunk-Technologie und Magie mit dem Realismus der frühindustriellen kapitalistischen Gesellschaft. Der Roman ist urban, dystopisch und kritisch und bedient sich der Allegorie, um von zeitgenössischen Problemen zu erzählen.
Was mich an Perdido Street Station fasziniert hat, ist, dass es mehr um die Stadt als um die Protagonist:innen und ihre Handlungen zu gehen scheint. New Crobuzon dient als Bühne, auf der sich verschiedene Erzählungen entfalten. Ein weiterer Aspekt, der mich interessiert hat, ist die Aktualität des Romans, die mühelose Verknüpfung der Themen, die meine Kolleg:innen in der zeitgenössischen Kunstszene beschäftigen. Es ist ein fesselndes Stück Belletristik, das aber auch eine Sensibilität für zeitgenössische Erfahrungen aufweist.
Wie nutzt du das literarische Material innerhalb der Ausstellung?
Mir war von Anfang an klar, dass ich den Roman nicht als reine Referenz verwenden wollte, sondern eher als Rahmen, in dem sich die Ausstellung abspielt. Die große Frage war: Wie kann man ein Ausstellungskonzept gestalten, das die Betrachter:innen allein durch den Aufenthalt in der Ausstellung entschlüsseln können? So kam ich auf die Idee, Textpassagen aus dem Roman assoziativ mit künstlerischen Positionen zu verbinden.
Die erste Textpassage die du ausgewählt hast, beschreibt eine Szene am Markt in der fiktiven Stadt New Crobuzon, in der einer der Hauptcharaktere des Buches, Lin, eine Kephri-Künstlerin, halb Mensch, halb Käfer, eingeführt wird. Daneben stellst du einen „Marktstand” der Künstlerin und Designerin Anna Paul aus. Kannst du uns mehr zum Prozess der Auswahl und der Übersetzung erzählen?
Im Falle von Anna Paul ist die Paarung bewusst sehr direkt gewählt. Die ihr zugeschriebene Passage stammt aus dem ersten Kapitel und steht ganz am Anfang des Buches. Es war meine Absicht die Besucher:innen gleich zu Beginn mit meiner Methode vertraut zu machen und ihnen einen Hinweis darauf zu geben, wie die Ausstellung funktioniert. Die nachfolgenden Paarungen sind abstrakter: ein scheinbar zusammenhangsloses Gespräch, eine Metapher, ein Stadtbild, eine Beschreibung einer Beziehung eines Liebespaares. Mein Ziel ist es, ein breites Spektrum an Assoziationen zu ermöglichen und die Gegenüberstellung zwischen den Kunstwerken und den Textsegmenten intuitiv zu halten.
Die Arbeit Meeting Basic Needs (2020–2022) wurde von Anna Paul auch schon am Wiener Naschmarkt für Veranstaltungen genutzt und es soll am Ende der Ausstellung auch eine performative Aktivierung im MUSA geben…
Da Perdido Street Station in einer Parallelwelt spielt, schien es nur logisch, den Roman in einen Dialog mit einer realen Stadt zu bringen. Obwohl es in der Ausstellung nicht um Wien an sich geht, leben alle Künstler:innen in Wien und ihre Erfahrungen mit der Stadt spiegeln sich in ihren Kunstwerken wider. Anna Pauls Werkserie Meeting Basic Needs ist jedoch die einzige Arbeit in der Ausstellung, die sich auf einen bestimmten Ort in Wien bezieht.
Die beiden Fotografien von Mario Kiesenhofer zeigen Ausschnitte leerer Innenräume von Gay-Clubs und Saunen in Paris. Den Betrachter:innen bleiben die intimen Begegnungen im Inneren der Räume verborgen. Stattdessen spiegeln sie sich in den gerahmten und farblich kühl gehaltenen Fotografien. Wolltest du mit Kiesenhofer’s Fotografien zentrale Gegensatzpaare urbaner Strukturen wie Gemeinschaft/Individualität, Öffentlichkeit/Privatheit, das Normative/das Diverse, Innen/Außen, Popularität/Anonymität hervorheben?
Du beschreibst es, als ob ich eine klare Absicht dahinter hatte, so war es aber nicht. Mich fasziniert die Anonymität, die eine Großstadt bieten kann – um den Preis einer erhöhten Fragilität unserer Existenz. Mit Mario habe ich darüber gesprochen, wie diese Innenräume eine pseudo-urbane Qualität haben, als ob sie die Außenräume nachahmen, die die ursprünglichen Treffpunkte der Schwulengemeinschaft waren. Die Räume in den Fotografien sind sehr maskulin und auch intim. Die atmosphärische Beleuchtung der Clubs und das getönte graue Glas verbergen viele Details, aber einige Elemente sind noch erkennbar. Sie zeigen die requisitenhafte DIY-Qualität dieser Innenräume: es sind keine echten Außenräume, sondern Safe Spaces, die von einer Gemeinschaft für ihre spezifischen Bedürfnisse errichtet wurden.
Mit den ausgewählten Textpassagen zu den Aluminiumskulpturen, Handles und Kite (2022) von Aaron Amar Bhamra und den Objekten aus nachhaltigen Materialien von Ordained Hardware thematisiert du mehr als die menschliche Spezies: das Organische, das Hybride, das Obskure…Was interessiert dich an diesen Eigenschaften?
In Perdido Street Station gibt es einen größenwahnsinnigen Mafia-Boss, der sich ein bisschen zum Philosophen stilisiert. Er redet viel über die Idee vom Hybriden, dem Übergang von einem Ding in ein anderes als eine grundlegende Dynamik, wie alles mit allem verschmilzt: Kulturen, Baustile und sogar Arten. Er ist unausstehlich, aber er liegt nicht falsch in seinen Beobachtungen. Bewohnt zu werden, ist der natürliche Zustand der Stadt. Man könnte sagen, ihre eigentliche Essenz besteht darin, von Organischen und Anorganischem, Belebtem und Unbelebtem gleichzeitig bewohnt zu sein.
Die schlichte architektonische Ausführung der Skulptur von Aaron Amar Bhamra steht im Kontrast zu ihrer eindeutig biologischen Form: Ein hoch oben am Museumseingang hängender Brustkorb aus Aluminium, der wie ein mögliches Fluggerät wirkt. Die Accessoires von Ordained Hardware sehen aus wie Körperproxys von Reptilien. Sie sind dafür gemacht, um getragen zu werden, und verweisen innerhalb der Ausstellung auf die Anwesenheit einer Figur.
Dies ausgewählten Arbeiten erzählen von der Idee einer Stadt als biomechanisches Hybrid, eine lebenden, sich verändernde, sich anpassende Kreatur. Wie jedes Lebewesen ist sie schwierig zu kontrollieren und zu verstehen, aber das macht sie auch faszinierend.
Du hast Gašper Kunšič eingeladen, ein neue, großformatige Wandarbeit zu gestalten. Kunšič Arbeiten lehnen sich formal an öffentliche Kunst des sozialistischen Realismus an. Auf derselben Wand präsentierst du Zeichnungen von Ekaterina Shapiro-Obermair, welche ebenfalls Elemente der (Kunst-)Geschichte der frühen Moderne und der Zeit der Industrialisierung aufgreifen. Können die Arbeiten als linker Kommentar zu aktuellen sozio-ökonomischen Bedingungen der krisen-geschüttelten europäischen Städte gelesen werden (Stichwort: Energieknappheit, die Wohnungsfrage, Kollaps der Sozialsysteme)?
China Miéville, Autor von Perdido Street Station, ist Linker, Politikwissenschaftler und (ehemaliges) Mitglied mehrerer sozialistischer Parteien in Großbritannien. Sein Roman, so fiktional er auch sein mag, kritisiert eindeutig das Regierungssystem, in dem nur wenige Privilegierte Zugang zu medizinischer Versorgung, Wohnraum und Strafjustiz haben. New Crobuzon ist eine Parodie auf die sich verschlechternde Demokratie, in der das Wahlrecht ausschließlich denjenigen vorbehalten ist, die Geld verdienen, während die Mehrheit der Bevölkerung an einer jährlichen Wahllotterie teilnimmt. Der Polizeistaat unterdrückt jeden Protestversuch mit Gewalt. Die Allegorie, die deutlich an klassische dystopische Romane erinnert, widerspiegelt leider ziemlich gut die zeitgenössische politische Landschaft.
Ekaterina Shapiro-Obermair und Gašper Kunšič haben unterschiedliche Methoden, aber beide blicken zurück auf die politische Vergangenheit ihrer jeweiligen Länder und beanspruchen die Bildsprache als künstlerisches und politisches Werkzeug. Perdido Street Station spielt nicht in der Zukunft, sondern in einer alternativen Gegenwart, die auf eine jüngere Vergangenheit zu verweisen scheint. Im Kontext der Ausstellung erscheint es mir angemessen, dass Künstler:innen auf diese spekulative, formbare Weise mit Erinnerung arbeiten.
Technologischen und wissenschaftlichen Fortschritt und das damit einhergehende Unbehagen thematisiert du in den Arbeiten We Morphed Into Humanoids und I Prefer Facts To Moondust (2022) von Daniela Graboschs. Weshalb hast du diese beiden Arbeiten ausgewählt?
Die Stadt New Crobuzon wird von unterschiedlichen Energiequellen angetrieben, einige uns vertraut, andere völlig fiktiv. Auffällig ist die unheimliche Erwähnung von etwas, das „the Torque“ (das Drehmoment) genannt wird. Durch Hörensagen erfahren die Leser:innen, dass es in mehreren Kriegen als Waffe eingesetzt wurde, die Aufzeichnungen dazu wurden geheim gehalten. Der Zugang zu den vom „Torque“ betroffenen Ländern ist eingeschränkt, aber es kursieren Gerüchte über Mutationen und Ödland. Die Erzählung scheint bewusst an unsere eigene Geschichte mit Kernenergie zu erinnern. Ich glaube, dass ein Großteil des von dir erwähnten Unbehagens gegenüber dem technologischen Fortschritt auf unsere Erfahrung mit Tschernobyl und Hiroshima zurückzuführen ist.
Danielas Kunstwerke sind eindringlich und poetisch und basieren auf literarischen Werken von Svetlana Alexievich, Liubov Sirota, Mario Petrucci und Sankichi Tōge über die Ereignisse von Tschernobyl und Hiroshima. Wachsende Kristalle, die nach Ozon riechen, Menschengestalten in schwarzem Vinyl hängen schlaff über Industriegeländern: Sie sind keine Warnung, sondern eine Erzählung. Die Kernenergie ist wieder im öffentlichen Bewusstsein, sei es im Zusammenhang mit dem Krieg, dem ersten seit langem auf europäischem Territorium, oder der Realität der Klimakrise. Unser Unbehagen ist hier, um zu bleiben.
Eine letzte Frage: Schaut Dystopie, Kritik an wissenschaftlicher Fortschrittlichkeit und gesellschaftlichen Zuständen und technologischer Pessimismus heute freundlicher und glatter aus als etwa noch in den 80er Jahren, dem Gründungsjahrzehnt von Cyber- und Steampunk? Brichst du absichtlich mit der düsteren, „weirden“, schmutzigen Ästhetik des Romans? Welche Geschichte möchtest du erzählen?
Ich finde es spannend, wie du formulierst, dass Dystopie, Kritik an wissenschaftlicher Fortschrittlichkeit und gesellschaftlichen Zuständen und technologischer Pessimismus heute einfach freundlicher aussehen als etwa noch in den 80er Jahren. Ja, ich denke, das ist so.
Ich glaube, wir haben als Gesellschaft gelernt, eine gewisse Glätte als beunruhigend zu lesen: etwa die Schlankheit des iPhones und die damit verbundene Angst vor Überwachung und persönlichen Daten, automatisierte Amazon-Lager, Digitale Bürokratie – die aktuell noch eher die Schwächsten diskriminiert –, Green-Washing und Sozialpunktesystem …
Vielleicht ist dies eine echte posthumanistische Ästhetik, nicht der Schmutz und die Düsternis, sondern ein einheitliches, glattes, hochtechnologisches Aussehen der Welt, die eindeutig eine anti-humane ist.
Die Ausstellung „Dispatches from a Troubled City. Die Stadt als Roman“, kuratiert von Nika Kupyrova, mit Arbeiten von Aaron Amar Bhamra, Daniela Grabosch, Ordained Hardware, Mario Kiesenhofer, Gašper Kunšič, Anna Paul und Ekaterina Shapiro-Obermair ist noch bis zum 26. März 2023 in der Startgalerie im MUSA bei freiem Eintritt zu sehen.
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