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Teresa Luger, 28.10.2024

Emily Gerards Vampir-Vermächtnis

Nosferatu – eine Spurensuche in Wien

„Nosferatu“ als Bezeichnung für Vampire ist seit Bram Stokers „Dracula“ oder Wilhelm Friedrich Murnaus Stummfilm „Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens“ geläufig – dabei gibt es das Wort im Rumänischen gar nicht. Die schottische Schriftstellerin Emily Gerard, die ihre letzten Lebensjahre in Wien verbrachte, dürfte dabei eine entscheidende Rolle gespielt haben.

Vampire üben seit jeher einen ungebrochenen Reiz des Schaurigen aus, und die Welt der Vampire ist schier unüberschaubar vielfältig. Und obwohl es Vampirgeschichten schon vor Bram Stokers Dracula gab, kann man dieses Werk getrost als den Klassiker aller Vampirromane bezeichnen, dem das Genre seine Popularität verdankt. Ebenso umfangreich wie die Vampirgeschichten ist auch die Forschung zu Bram Stokers Werk. Viel wurde über die Einflüsse und Inspirationen des Autors geforscht, der Rumänien selbst nie besucht hat. Seine Notizen und Quellen wurden und werden akribisch ausgewertet und so weiß man unter anderem, dass er die Geschichte ursprünglich in der Steiermark spielen lassen wollte. Wie es dazu kam, dass er den Roman nach Siebenbürgen verlegte und wie er sich Kenntnisse über ein ihm unbekanntes Gebiet aneignete, ist Teil der Forschung zu seinem Werk. Und immer wieder taucht der Name Emily Gerard auf, wenn auch meist nur in einer Randbemerkung: „… the Gerard sisters‘ fiction made a brief splash and then disappeared from living memory.“ (Bette London: Writing Double: Women's Literary Partnerships)

Im Gegensatz zu diesen umfangreichen Auseinandersetzungen, die seit dem Erscheinen von Dracula bis heute geführt werden, haben Emily Gerard und ihr Werk nach ihrem Tod weit weniger Aufmerksamkeit erfahren. Dabei zeugen Schriften von Zeitgenossen, vor allem aber die nach ihrem Tod erschienenen Nachrufe durchaus von ihrer Berühmtheit, vor allem im angelsächsischen Raum. Auch wenn die zum Teil divergierenden Angaben zum Leben von Emily Gerard eine genaue Lokalisierung aller Ereignisse erschweren, so lassen sich doch die Grundzüge ihres Lebens skizzieren – mit dem ihr literarisches Werk untrennbar verbunden ist.

Am 7. Mai 1849 wurde Emily Jane Gerard in Rochsoles, Schottland, als ältestes von sieben Kindern in eine wohlhabende Landadelsfamilie hineingeboren. Diese war gut vernetzt und gebildet. Ihre Schwester Dorothea, für die sie nach dem Tod der Mutter die Vormundschaft übernahm und mit der sie eine langjährige literarische Zusammenarbeit verband, wurde sechs Jahre später, am 9. August 1855, geboren. Beide Schwestern erhielten eine umfassende Schulbildung, zunächst durch Hausunterricht, später wurde Emily Gerard auf Anraten der mit der Familie befreundeten Herzogin von Parma – Louise de Bourbon – nach Österreich in die Sacre-Coeur-Schule in Riedenburg bei Bregenz geschickt. In ihren biografischen Skizzen über Emily und Dorothea Gerard schreibt Helen Black 1896, dass Emily schon sehr früh lesen konnte und mit 11 bzw. 12 Jahren zu schreiben begann. Diese ersten literarischen Versuche setzte Emily auch im Internat in der für sie neuen Sprache Deutsch fort. Ihre Schwester Dorothea hingegen besuchte mit ihrer jüngeren Schwester die Sacre Coeur Schule in Graz. Nach dem Tod der Mutter übernahm Emily Gerard 1870 die Obsorge der Schwestern.

An den Rändern der Monarchie

Die k.u.k Monarchie sollte das weitere Leben der Gerard-Schwestern prägen. Während eines längeren Aufenthalts ab 1863 bei der Herzogin von Parma in Venedig lernte Emily Gerard den um 20 Jahre älteren Oberst Miecislaus Ritter Laszowski von Kraszkowice kennen, den sie bei einem Wiedersehen 1869 in Salzburg heiratete und mit dem sie zwei Söhne, Arthur und Alfred, hatte. Miecislaus Ritter Laszowski war polnischer Abstammung, stammte aber aus Galizien und diente daher in der k.u.k. Armee.

Emily Gerards Schwester Dorothea heiratete 1887 ebenfalls einen Generalmajor der k.u.k. Armee, Julius Longard de Longgarde, und verbrachte einen Großteil ihres Lebens in Galizien. Diese Verbindungen sollten sich in den literarischen Werken der beiden Schwestern niederschlagen und vor allem ihr Interesse für fremde Länder, deren Sitten und Aberglauben wecken. In einer Zeit, in der Galizien oder auch Rumänien einen exotischen Reiz auf die englische Leserschaft ausübten, ist es nicht verwunderlich, dass die Gerard-Schwestern, obwohl sie auch Deutsch, Französisch, Italienisch und sogar Latein beherrschten, hauptsächlich in ihrer Muttersprache Englisch publizierten. Dorothea Gerard lebte bis zu ihrer Heirat mit Emily Gerard zusammen, und sie veröffentlichten vier gemeinsame Romane unter dem Pseudonym E. D. Gerard, aber beide bauten in dieser Zeit auch eigenständige literarische Karrieren auf, jeweils unter ihrem Geburtsnamen. Emily Gerard veröffentlichte weniger Romane als ihre Schwester, war aber in ihrem Schaffen vielseitiger. Sie schrieb Kurzgeschichten, Essays und Rezensionen über die neue deutsche Literatur, unter anderem für die Times.

1883 wurde Miecislaus Ritter Laszowski nach Siebenbürgen geschickt, das damals zur ungarischen Reichshälfte gehörte, und Emily und ihre Schwester Dorothea verbrachten ein Jahr in Sibiu (Hermannstadt) und Brașov (Kronstadt). Diesen Aufenthalt verarbeiteten die Gerard-Schwestern zum einen in dem zwischen 1884 und 1885 erschienenen Fortsetzungsroman The Waters of Hercules, dessen Handlung in Siebenbürgen spielt und in dem nicht nur die umfassende Bildung der Schwestern immanent ist, sondern auch ihre Leidenschaft, den Lesern Land, Sitten und Sprachen näher zu bringen. Emily Gerard beschränkte sich jedoch nicht auf romanhafte Beschreibungen des Landes, sondern veröffentlichte auch zwei Reiseberichte über Rumänien. Im selben Jahr wie The Waters of Hercules erschien in der erfolgreichen Zeitschrift Nineteenth Century der Artikel Transylvanian Superstitions. 1886 erlitt Mieczyslaw einen schweren Unfall und schied als Invalide aus der Armee aus. Emily Gerard und ihr Mann zogen 1885 nach Wien, wo sie ihn bis zu seinem Tod 1905 pflegte. Die Jahre in Wien dürften nicht einfach gewesen sein, und ihre Veröffentlichungen gingen zurück, aber Emily Gerard schrieb weiter. Mit Dorotheas Heirat 1887 endete die literarische Zusammenarbeit, und obwohl beide auch danach noch viel veröffentlichten, blieb der große Erfolg aus. Es ist jedoch das 1888 erschienene The Land Beyond the Forest: Facts, Figures, and Fancies from Transylvania, das im Zusammenhang mit Bram Stoker nicht unerwähnt bleiben darf.

Bram Stoker und Emily Gerard

Auch wenn nicht bekannt ist, ob Bram Stoker das Werk der Gerard-Schwestern Waters of Hercules gelesen hat, so wird doch in einem seiner wenigen Interviews zu Dracula, das die Journalistin Jane Stoddard 1897 mit ihm führte, ein Zusammenhang hergestellt, der von der damaligen Bekanntheit des Werkes zeugt. In ihrer Einleitung zu dem Interview schreibt sie unter anderem: „The only book which to my knowledge at all compares with them is ´The Waters of Hercules` by E.d. Gerard, which also treats of a wild and little-known portion of Eastern Europe“. Bram Stoker selbst geht in diesem Interview nicht auf den Roman ein, erwähnt aber, dass er durch Transylvanian Superstitions von Emily Gerard viel über das Land und vor allem die ihm unbekannten Sitten und Wörter gelernt hat, welches er selbst nie besucht hat.

Die Idee des Vampirs, wie sie Emily Gerard beschreibt, wurde von Bram Stoker aufgegriffen: „More decidedly evil, however, is the vampire, or nosferatu, in whom every Roumanian peasant believes as firmly as he does in heaven or hell. There are two sorts of vampires – living and dead. The living vampire is in general the illegitimate offspring of two illegitimate persons, but even a flawless pedigree willnot ensure anyone against the intrusion of a vampire into family vault, since every person killed by a nosferatu becomes likewise a vampire after death, and will continue to suck blood of other innocent people till the spirit has been exorcised“.

Wie bereits erwähnt, existiert das Wort Nosferatu weder im Rumänischen noch in anderen Sprachen. Wie es zu seiner Verwendung durch Emily Gerard kam, ob es sich um ein heute ausgestorbenes lokales Wort handelte oder ob es ein Übersetzungsfehler ihres Dolmetschers war, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Auch wenn schon vor ihr z.B. Wilhelm Schmidt 1865 den Begriff verwendet hat, geht die weitere Verbreitung auf Emily Gerard zurück, die sich zumindestens damit in die Literaturgeschichte eingeschrieben hat. Ob Bram Stoker neben dem Artikel auch The Land beyond Forest kannte und als Quelle nutzte, lässt sich nicht nachweisen, da sich in seinem Nachlass keine Notizen dazu finden. Der Gedanke ist natürlich verführerisch, dass Emily Gerard durch ihre Beschreibungen Rumäniens, insbesondere Transsylvaniens, und durch ihre Beschreibungen des Wesens eines Vampirs und der möglichen Abwehr desselben auch eine Rolle bei der Verlagerung der Geschichte von der Steiermark nach Rumänien gespielt hat.

Natürlich gab es schon vor Emily Gerard Reiseberichte aus Rumänien, aber es war sicher kein häufiges Reiseziel und daher für die Leserschaft durchaus ein exotisches Land. Man muss ihre Beschreibungen also vor dem Hintergrund des Marktes sehen, für den sie schrieb. Es handelte sich um ein mehr oder weniger unbekanntes Gebiet der österreichisch-ungarischen Monarchie, das einem englischsprachigen Publikum nähergebracht werden sollte. Zu Gunsten einer exotischen Beschreibung verzichtete sie wohl bewusst auf aktuelle politische Probleme und Entwicklungen und betonte stattdessen die für ein westeuropäisches Publikum überraschenden Unterschiede. Um Siebenbürgen als etwas völlig Unvorstellbares zu beschreiben, bezeichnete Emily Gerard Rumänien auch als Insel. Abgesehen von dieser vermutlich bewusst dramatisierenden Beschreibung ist die Kenntnis der Region den Werken immanent. Erst seit den 1880er Jahren gab es Eisenbahnverbindungen nach Siebenbürgen, und damit veränderten sich die Besucherströme, die Unterkünfte etc. Emily und Dorothea machten sich jedoch die Tatsache zunutze, dass sie tatsächlich dort lebten und den Alltag und die Menschen besser kennenlernen konnten als ein einfacher Tourist.

Sitten, Bräuche, Aberglauben

Immer wieder werden in den Werken Begriffe aus verschiedenen Sprachen verwendet und erklärt. In The Waters of Hercules werden dem Leser die unterschiedlichen Lebensgewohnheiten vor allem durch die aus verschiedenen europäischen Ländern stammenden Protagonisten auf durchaus amüsante und pointierte Weise vor Augen geführt. Allerdings ist zu beachten, dass die Schilderungen ihrer Zeit entspringen und heute vor allem die Schilderungen der Juden unangenehm auffallen. Der Landschaft, dem Aussehen und der Mode wird viel Aufmerksamkeit geschenkt. In diesem Roman sucht die Hauptfigur Gretchen während eines Kuraufenthaltes nach der legendären Gaura Darcului. Die Geschichte spielt auch an einem realen Ort, dem Băile Herculane (Herkulesbad). Viele Schriftsteller, die Rumänien vor den Gerard-Schwestern bereisten, besuchten die Mineralbäder Siebenbürgens, und das Wasser von Borsec wurde beispielsweise auch in Wien als Luxusgut verkauft. Wie in The Land beyond Forest, in dem sich eine junge Frau aufmacht, entlegene Dörfer Rumäniens zu besuchen und deren Sitten, Bräuche und Aberglauben zu erforschen, fließen immer wieder reale historische Ereignisse ein, so dass Bram Stoker auch in diesen Werken auf kenntnisreiche Beschreibungen hätte zurückgreifen können.

Eine weitere indirekte Verbindung zu Bram Stoker soll nicht unerwähnt bleiben. Er war der Agent von Mark Twain, und als dieser 1897 nach Wien kam, freundete er sich mit Emily Gerard an. Diese widmete ihm auch ihren Roman The Extermination of Love, der 1901 erschien. Mit der Zeit ließ das Interesse an ihren Werken jedoch nach, und 1901 schrieb Emily Gerard an den Blackwood-Verlag: „My stories belong to a particular type which has had its day and has now gone out of fashion“.

Fünf Wochen nach dem Tod ihres Mannes, am 11. Januar 1905, starb auch Emily Gerard und wurde auf dem Grinzinger Friedhof beigesetzt.

Ihr 120. Todestag im kommenden Jahr könnte Anlass sein, sich dieser Schriftstellerin und ihrem facettenreichen Werk über die Verbindung zu Bram Stoker hinaus intensiver zu widmen. In ihrem Werk kulminiert europäische Geschichte, aber auch, was die Zusammenarbeit mit ihrer Schwester betrifft, das Phänomen des gemeinsamen Schreibens zweier Frauen.

Ausgewählte Literatur und Quellen:

E.D. Gerard: The Waters of Hercules, Edinburgh and London: William Blackwood and Sons, 1885.

Emily Gerard: The Land Beyond the Forest: Facts, Figures, and Fancies from Transylvania, New York: Harper & Brothers, 1888.

Emily Gerard: Transylvanian Superstitions. In: The Nineteenth Century Vol. 18, (1885) S.128–144

Lokke Heiss: Madame Dracula. The Life of Emily Gerard. In Journal of the Fantastic in the Arts, 10 (1999), S. 174–186.

S. Levetus: What Women are doing in Austria. In: Womanhood Vol. XIII December 1904 to May 1905, S. 154

Helen C. Black: Pen, Pencil, Baton and Mask. Biographical Sketches, London 1896, S. 144 - 161

Bette London: Writing Double: Women's Literary Partnerships, 1999

Jane Stoddard:  Mr. Bram Stoker: A Chat with the Author of „Dracula“ in The British Weekly, 1.7.1897, S. 185

Teresa Luger hat Kunstgeschichte in Wien und Münster studiert. Ist seit 2010 im Wien Museum tätig, derzeit in der Abteilung Kommunikation & Development im Bereich Fotoredaktion.

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Kommentare

Fritz Lange

Das Familiengrab am Grinzinger Friedhof hat die Nummer 75 in der Gruppe 4 und existiert hoffentlich noch. In der Verstorbenensuche auf "Friedhoefewien.at" wird es leider nicht mehr gefunden. 1986 wird es wie folgt beschrieben:

"In der Flachnische des hochgesockelten Bildstocks Christus Pantokrator aus farbig glasierter Keramik."
Quelle: Ruth Jirka, Handbuch der Grabstätten von Persönlichkeiten auf dem Grinzinger Friedhof zu Wien. Selbstverlag Ruth Jirka, Köln 1986.

Eveline Pasiecznik

Ein sehr interessanter Beitrag, hat mir gut gefallen. Ich machte auch schon eine Rumänien Rundreise und besuchte alle diese Orte. Es ist zu empfehlen.

Thomas Fröhlich

Ein hochinteressanter, toll recherchierter Beitrag, der nicht nur Vampir-Aficionados in seinen Bann ziehen wird. Bin begeistert!

Peter

Der Sterbebucheintrag ist online via Matricula bei der Pfarre St. Rochus einzusehen:
https://data.matricula-online.eu/de/oesterreich/wien/03-landstrasse-st-rochus/03-32/?pg=6