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Anton Holzer, 5.3.2020

Erholung im Ausland für Kinder 1920

Endlich wieder etwas Warmes zum Essen

Nach 1918 konnte die Hungerkrise in Wien durch internationale Unterstützung zumindest gelindert werden. Doch nicht die Hilfsprogramme vor Ort haben sich rückblickend in das Gedächtnis der Stadt und des Landes eingeprägt, sondern eine andere internationale Hilfsaktion: jene, die Not leidende österreichische Kinder zur Erholung ins Ausland brachte. 

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Zehntausende Wiener Kinder, aber auch zahlreiche Kinder aus anderen österreichischen Städten kamen in den Genuss dieser Erholungsprogramme, die bis Anfang der 1920er Jahre andauerten. Bereits während des Kriegs waren Kinder aus verarmten, Hunger leidenden Familien zur Erholung in ländliche Gebiete innerhalb Österreichs geschickt worden. Nach Kriegsende wurden diese Erholungsprogramme mit Unterstützung ausländischer Hilfsorganisationen in weit größerem Ausmaß fortgeführt und ausgebaut. Die meist mehrmonatigen Erholungsaufenthalte führten zahlreiche Wiener Kinder nach Dänemark, Norwegen, Schweden, England, in die Niederlande, nach Spanien, Italien, Deutschland und in die Schweiz. Die Unterbringung erfolgte mit privater Unterstützung in Kinderheimen oder in Pflegefamilien.

Der erste Kindertransport startete am 3. Februar 1919 in Wien und ging in die Schweiz. Der Ottakringer Volksschullehrer Oskar Kahn, der an diesem Tag eine Gruppe von Wiener Kindern begleitete, erinnerte sich an diese Fahrt. Als Verpflegung konnte wegen der Not „nichts als Käsebrot“ mitgeführt werden, und die „Nacht mussten die Kinder im Eisenbahnwaggon verbringen“.

Kaum hatte der Zug die Schweizer Grenze überquert, gehörte der Hunger der Vergangenheit an. Im Grenzort Buchs „bekamen die Kinder zum ersten Mal etwas Warmes, Schokolade und Kuchen, reichlich und vorzüglich. Gleichzeitig wurden sie von Geschenken aus der Bevölkerung heraus überhäuft, meist Schokolade, so dass die armen Kindermägen, die nur ans Fasten, aber nicht ans Fressen gewöhnt waren, mehr zu leisten hatten als je in ihrem Leben.“ Schließlich erreichte die Gruppe den Bestimmungsort, die Schweizer Hauptstadt: „Der Empfang in Bern war das Großartigste von allem. In dichtem Spalier stand die Bevölkerung hinter einer Kette von Schutzleuten. Diese Kette wurde durchbrochen und die Waggons gestürmt, und wieder wurden die Kinder überhäuft mit Gaben.“

„Wenn man die Eltern sieht, denkt man an ausgepreßte Zitronen.“

Diese Kindertransporte ins Ausland fanden ein enormes Echo in der österreichischen Öffentlichkeit. In den Zeitungen wurde ausführlich über die Abreise der Kinder berichtet. Eine dieser Abfahrten hat Joseph Roth in einer Reportage für die Zeitung Der Neue Tag beschrieben. „Die Proletariereltern“, schreibt er, „die die Kinder zum Zug begleitet haben, stehen dicht gedrängt, dünn und ausgemergelt vor der Tür, die zum Perron führt. Wenn man die Eltern sieht, denkt man an ausgepreßte Zitronen.“ Auch in der illustrierten Wochenpresse wurde immer wieder über die Kindertransporte ins Ausland berichtet, etwa über den Jubel und die Herzlichkeit, mit denen die Kinder aus Wien in England empfangen wurden.
 

Aus der Perspektive der Kinder waren die monatelangen Aufenthalte in der Fremde nicht immer nur schön und aufregend. Die Grazerin Annemarie Fossel, die im Frühjahr 1920 als 15-Jährige nach Schweden kam, erinnerte sich an die zwiespältigen Gefühle. „Ich durfte am 1. März nach Schweden fahren, mit den besten Sachen und schrecklich vielen Ermahnungen im Gepäck.“

Und weiter berichtet sie: „Am Bahnhof war ein toller Wirbel von Eltern und Kindern. Wir bekamen eine Tafel mit Namen und Adresse der Pflegeeltern und Mutter notierte sich diese.“ Als sie nach langer Reise in Stockholm ankam, mischten sich Gefühle des Verlassenseins und der Angst in die Vorfreude. „In der Halle warteten die neuen Pflegeeltern. Name um Name wurde aufgerufen. Unsere umgehängten Zettel wurden von Frauen jeden Alters inspiziert. Es wurden immer weniger Kinder, und ich konnte mich vor Schlaf und Müdigkeit kaum mehr auf den Beinen halten. Schließlich blieb ich mit etwa zwei Dutzend Kindern übrig. Wir mussten in einen Bus einsteigen und wurden in ein Kinderheim gebracht.“ 

Dank an Schweden

Österreich zeigte sich überaus erfreut über die internationale Hilfe. Zu Weihnachten 1920 fand vor der Hofburg, in der die schwedische Hilfsmission ihren Sitz hatte, eine Dankeskundgebung statt. Zahlreiche Kinder, die in den letzten Monaten zur Erholung in Schweden gewesen waren oder die in den Genuss schwedischer Hilfsaktionen in Wien gekommen waren, hatten sich mit Tafeln und Transparenten versammelt, um den Schweden zu danken.

Dieser Text stammt aus dem Katalog zur Ausstellung „Die erkämpfte Republik. 1918/19 in Fotografien“, die von Anton Holzer kuratiert und im Wien Museum im Herbst/Winter 2018/19 wurde. 

Schwerpunkt Flucht/Krieg

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Anton Holzer arbeitet als Fotohistoriker, Ausstellungskurator und Publizist in Wien, seit 2001 ist er Herausgeber der Zeitschrift „Fotogeschichte“. www.anton-holzer.at

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