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Erinnerungen an Hilde Spiel
Weltbürgerin aus Wien
Eine scharfsinnige Beobachtungsgabe und eine unbändige Neugier, diese Eigenschaften hatte Hilde Spiel von Kindheit an. Sie führte schon früh Tagebuch, schlich sich ins Laboratorium des Vaters, um mit dem Fernrohr die Menschen in den umliegenden Wohnungen zu beobachten. „Ich wollte ohnehin eines Tages Bücher schreiben“, sagte sie später in einem Radio-Interview (Diagonal, 1989).
Hilde Spiel wurde am 19. Oktober 1911 in Wien geboren und wuchs in einer assimilierten jüdischen Familie auf. Die Mutter, Marie Spiel, geborene Gutfeld, war schön, humorvoll und 21 Jahre jung, als Hilde geboren wurde. Der Vater, Hugo Spiel, war promovierter Naturwissenschaftler und diente im Ersten Weltkrieg als k.u.k-Leutnant der Reserve. Er war bereits 1912 zum Katholizismus konvertiert, in dessen Geist Hilde Spiel aufwuchs.
Eine Frau und viele Männer
Bücher schreiben wollte sie. Das war Hilde Spiels Wunsch, so begann sie in der 1. Klasse der Schwarzwald-Schule nebenbei zu schreiben und besuchte an den Nachmittagen das Café Herrenhof. Hier saß sie durchwegs unter männlichen Schriftstellern, die nach einer Verlagsmöglichkeit suchten. Hans Békessy war es, der ihr auffiel, später besser bekannt unter dem Namen Hans Habe. Er war ihre erste Liebe, „calf love“ bezeichnete sie diese Beziehung später. Noch vor der Reifeprüfung kam die Trennung von Hans Habe und sie badete in ihrem Schmerz, wie sie sagte – doch der sollte sich literarisch überwinden lassen.
Erste literarische Erfolge
Ihre publizistisch-literarischen Anfänge gelangen bei der Neuen Freien Presse. Unter dem Pseudonym „Grace Hanshaw“ erschienen mehr als dreißig Geschichten, „übersetzt von Hilde Spiel“. Die oben erwähnte Liebesbeziehung zu Hans Békessy/Habe führten zum ersten Roman „Kati auf der Brücke“, der 1933 bei Zsolnay erschien und mit dem Julius-Reich-Preis und 1.000 Schilling ausgezeichnet wurde. Friedrich Torberg, einer der literarischen Gäste des Café Herrenhof, hatte zuvor seinen Roman „Der Schüler Gerber“ geschrieben. Dass die Newcomerin ausgezeichnet wurde und der etwas ältere Torberg nicht, war der Ausgangspunkt zu einem lebenslang angespannten Verhältnis zwischen den beiden.
Es folgten der Roman „Der Sonderzug“ (1934), in dem es um die Pariser Unruhen vom 6. Februar 1934 ging. Aufgrund der politischen Verhältnisse in Deutschland fand sich allerdings keine Möglichkeit, das Buch zu publizieren (Wiesinger-Stock 1996, S. 115). 1935 veröffentlichte der Verlag Ralph A. Höger dann Hildes Spiels dritten Roman „Verwirrung am Wolfgangsee“ (1935).
1929 hatte Spiel an der Universität Wien ihr Philosophie-Studium begonnen (das sie 1936 mit der Promotion abschloss und zu dessen Finanzierung sie von 1933 bis 1935 in der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle von Paul Lazarsfeld arbeitete, wo sie mit dem Sozialismus in Kontakt kam. 1934 lernte sie in einem Kaffeehaus den deutschen Schriftsteller und Historiker Peter de Mendelssohn kennen, der 1933 vor den Nazis nach Wien geflohen war, allerdings zu dieser Zeit schon in Paris lebte und nur zu Besuch in der Stadt war. Zwei Jahre später erklärte er dann einem befreundeten Ehepaar, er fahre nach Wien, um ein Mädchen namens Hilde Spiel zu heiraten („Die hellen und die finsteren Zeiten“, S. 110). Im Oktober 1936 heirateten Hilde Spiel und Peter de Mendelssohn in England und standen am Anfang eines neuen Lebens.
„Ich ging 1936 ins Exil, weil mir der Ständestaat Übelkeiten machte“, schrieb Hilde Spiel in einem Essay („In meinem Garten schlendernd“, 1981). „Sie heirateten in London und ließen sich in Wimbledon nieder, während andere Emigranten sich hauptsächlich in Nordlondon ansiedelten“, erzählt Christine Shuttleworth, die Tochter von Hilde Spiel und Peter de Mendelssohn. „Ich wurde 1939 in Cambridge geboren – meine Mutter war eine der schwangeren Frauen, die aus London evakuiert wurden. Mein Bruder, Anthony Felix, wurde 1944 in London geboren und wurde später Psychoanalytiker in Wien.“
In London versuchte das Paar akribisch, sich einen Platz in der britischen Gesellschaft zu sichern. Peter de Mendelssohn arbeitete zunächst beim Prager Tagblatt, danach für die Nachrichtenagentur Exchange Telegraph und schließlich als britischer Regierungsbeamter. Hilde Spiel trat dem Londoner P.E.N-Club bei, 1936 schrieb sie in „Flöte und Trommeln“ von ihrer Italienreise, 1938 wagte sie es erstmal, mit „The Fruits of Prosperity“ in englischer Sprache zu schreiben. Schließlich gelang es ihr, beim New Statesman, einem renommierten, linksliberalen Blatt, Fuß zu fassen. Hier entstanden ihre Meisterwerke der Prosa. Für Hilde Spiel war das ein großer Aufstieg, denn für eine Ausländerin war es nicht leicht, in die „britischste aller Zeitungen“ Eingang zu finden.
„Meine Eltern arbeiteten beide von zu Hause aus“, erzählt Christine Shuttleworth, „mein Vater in seinem eigenen Büro, meine Mutter in einem Zimmer, das gleichzeitig ihr Büro und unser Esszimmer war. Wenn mein Bruder und ich nicht in der Schule waren, haben wir alle gemeinsam gegessen. Die Bürotüren waren geschlossen, wenn sie arbeiteten, und wir mussten anklopfen, bevor wir eintraten. Mein Vater war ein brillanter, aber schwieriger Mann, dessen Leidenschaft für seine Arbeit an erster Stelle stand. Unsere Beziehung war zeitweise angespannt. Meiner Mutter war ich näher, sie unterstützte mich in meinem privaten und beruflichen Leben. Sie bat mich, ihre ´Fanny von Arnstein` [ein Buch über die Wiener Intellektuelle und Salonnière in Wien um 1800] zu übersetzen, und ermutigte mich auch, andere Bücher zu übersetzen.“
Von Kindheit an war Christine bewusst, dass ihre Eltern Emigranten waren, der Vater aus Deutschland und die Mutter aus Österreich: „Nach dem Krieg verbrachten wir zwei Jahre in Berlin, wo mein Vater für die Alliierten beim Wiederaufbau der Berliner Zeitungsindustrie arbeitete und meine Mutter Theaterkritikerin war. Ich war damals noch ein kleines Kind, und mein Bruder war fünf Jahre jünger. Hier habe ich zum ersten Mal richtig Deutsch gelernt, aber meine Eltern sprachen zu Hause immer eine Mischung aus Englisch und Deutsch.“ Im geräumigen Haus in Grunewald empfing das Ehepaar prominente Gäste und Kulturoffiziere, unter ihnen Klaus und Erika Mann, Peter Suhrkamp, Erich Kästner und Berthold Viertel.
Hilde Spiel beteiligte sich am kulturellen Aufschwung der Stadt und hatte die Theaterkritik der Welt übernommen. Auch für den Monat begann sie zu schreiben, während Peter de Mendelssohn die von ihm lizensierte Zeitung Telegraf und Tagesspiegel betreute. („Welche Welt ist meine Welt“, S. 17). Das Ehepaar bewegte sich nunmehr in einem angesehenen gesellschaftlichen Kreis unter Presseleuten und „Lizenzträgern“, also Personen, die nach dem Zweiten Weltkrieg von den Alliierten eine Lizenz zur Herausgabe einer Zeitung innehatten.
„Meine Eltern waren beide als Schriftsteller bekannt. Für mich war das normal, denn ich kannte keine andere Situation. Ich lernte in ihrem Freundeskreis einige bekannte Autoren kennen und begleitete sie zu den jährlichen Kongressen des Internationalen PEN. Ich war immer sehr stolz auf die literarischen Leistungen meiner Eltern“, so Christine Shuttleworth.
Häufig berichtete Hilde Spiel ihrer Mutter von den Partys im großen Haus und dass Peter und sie in Berlin „in Saus und Braus“ lebten („Welche Welt ist meine Welt“, S. 19, 31). Den Umgang mit den russischen Alliierten legte ihr Friedrich Torberg später zur Last und bezeichnete sie als Sympathisantin der Kommunisten.
Spannungen zwischen den Westalliierten und den Sowjets in Berlin veranlassten Hilde Spiel dazu, erneut nach England zu gehen. Sie mochte das „Grüne Grab von Wimbledon“ („Welche Welt ist meine Welt“, S. 102) nicht, wie sie ihren Wohnort nannte, für sie roch es nach Langeweile. Sie begann daher, ihre Kontakte zu deutschen Blättern zu forcieren und schrieb u.a. für Zeitungen und Zeitschriften wie Monat, Neue Zeitung, Neues Österreich, Weltwoche oder Süddeutsche Zeitung. Es war nur ein „Brotberuf“, wie sie ihre journalistische Arbeit verächtlich nannte. Im Jänner und Februar 1946, noch vor ihrer Berliner Zeit, wurde sie vom New Statesman als „War Correspondent“ nach Wien geschickt, die Hassliebe zu ihrer Heimat erwachte erneut. In London vermisste sie das „heimelige Wien“, in Wien sehnt sie sich „zurück nach englischer Diskretion, Disziplin, Distanz“. („Die hellen und die finsteren Zeiten“, S. 222).
„Nach unserer Rückkehr nach London machten wir bis zum Tod meiner Mutter jährlich Urlaub in Österreich", so Christine Shuttleworth. „Zwischen dem Schulabschluss und dem Beginn des Studiums verbrachte ich einige Monate in Wien, wobei ich zwar nicht bei meiner Mutter wohnte, aber ständig in ihrer Gesellschaft war. Mein Bild von Österreich stammt also aus direkter Erfahrung. Ich liebte meine häufigen Besuche in Österreich, wollte aber nie dort leben, da ich das Vereinigte Königreich als meine Heimat betrachtete und Englisch meine erste Sprache war. Ich spreche immer noch nicht wirklich fließend Deutsch, im Gegensatz zu meinem Bruder, der völlig zweisprachig war.“
FAZ-Kulturkorrespondentin in Wien
Im „Haus am Bach“, wie das Haus der Familie am Wolfgangsee liebevoll genannt wurde, etablierte Hilde Spiel einen literarischen „Salon“, Gäste und Freunde, wie Alexander Lernet-Holenia, Heimito von Doderer, Berthold Viertel, P.E.N.-Präsident Theodor Csokor und später Thomas Bernhard gehörten zum prominenten Kreis. Der Wunsch nach Wien zurückzukehren festigte sich zusehends. Für Quellenstudien zu „Fanny von Arnstein“ kam Spiel ab 1958 häufig nach Wien. Ein langjähriger Freund, Hans Flesch-Brunningen, war mittlerweile BBC-Pensionär und kehrte 1963 in seine Heimat Österreich zurück. Und auch Hilde Spiels private Situation verstärkte ihren Wunsch zur Rückkehr: Ihre Ehe mit Peter de Mendelssohn war heillos zerrüttet. Als ihr die Frankfurter Allgemeine Zeitung das Angebot machte, als Kulturkorrespondentin nach Wien zu gehen, entschloss sie sich zu Rückkehr in ihre Heimatstadt (wo sie 1971 Hans Flesch-Brunningen heiratete). Für Hilde Spiel war die Tätigkeit für die FAZ ein hoher Prestigegewinn. Darüber hinaus hatte sie mit 52 Jahren erstmals ein „fixes Standbein“. An ihren mittlerweile vertrauten Freund Heimito von Doderer schrieb sie, dass sie „gegen auskömmliches Salaire“ und zur Exklusivität – mit Ausnahme der Weltwoche – verpflichtet war. Gemäß dem damaligen Redaktionsleiter Günther Rühle verdiente sie 3.000 Mark pro Monat, ein relativ gutes Honorar in dieser Zeit. Die liberal-konservative Blattlinie dürfte die links orientierte Hilde Spiel nicht gestört haben.
Es fiel ihr als Weltbürgerin allerdings schwer, sich wieder in den alten Theatertrott hineinzufinden, der sich nach alten Mustern „weiterentwickelte“, während in Deutschland weit mehr Impulse eines neuen Theaters begrüßt wurden. Die österreichische Theaterlandschaft hingegen blieb bis in die 1960er-Jahre vielfach in alten Traditionen verhaftet, Brecht wurde beispielsweise bis 1966 nicht an Österreichs Staatstheatern gespielt (woran u.a. der bereits erwähnte Konkurrent Friedrich Torberg gehörigen Anteil hatte).
Förderin von Thomas Bernhard
Hilde Spiel war eine der ersten, die Thomas Bernhards Talent erkannten. Sie lernte Bernhard 1968 kennen, als sie in der Jury des österreichischen Förderungspreises des Unterrichtsministeriums saß, Bernhard erhielt die Auszeichnung für sein Buch „Frost“. In den Folgejahren lieferte sie großartige Kritiken zu Bernhards damals umstrittenen Stücken, im Laufe der Zeit entwickelte sich aus der literarischen Bindung eine enge Freundschaft zwischen den beiden.
1983 war Hilde Spiel nahe daran, den kraftraubenden „Brotberuf“ aufzugeben, doch die FAZ machte ihr neuerlich ein Angebot: Sie sollte als Korrespondentin wieder nach London gehen. Spiel nahm das Angebot zwar an, ihre Kräfte waren jedoch aufgrund einer beginnenden Krebserkrankung reduziert. Dennoch schrieb sie weiter, „Viennas Golden Autumn“, ein Rückblick auf die Stadt von 1866 bis zum „Anschluss“ 1938, erschien zunächst in London, dann in Wien. 1988 brachte Claus Peymann ihr Auswanderungsdrama „Anna und Anna“ auf die Bühne des Burgtheaters – eine Anerkennung als Autorin, die ihr viel bedeutet haben muss, stand doch ihr literarisches Schaffen oft im Schatten ihrer publizistischen Karriere. In den letzten Lebensjahren schrieb Hilde Spiel noch ihre zwei autobiografischen Bände „Die hellen und die finsteren Zeiten“ und „Welche Welt ist meine Welt?“, ehe die Grande Dame der Literatur am 30. November 1990 in Wien einem Krebsleiden erlag.
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Kommentare
Sehr geehrter Herr Zeilinger, vielen Dank fürs Teilen Ihrer Erinnerung! Das war eine großzügige Geste von Hilde Spiel...! Herzliche Grüße, Peter Stuiber (Wien Museum Magazin)
Ich hatte mein Büro Ende der 80er Jahre im Schottenhof nebst der Freyung und entschloss mich nach der Arbeit gleich im 1. Bezirk ins Kino zu gehen, weil ich von Charlie Chaplin bis dahin nur eher auf Klamauk getrimmte Zusammenschnitte von lustigen Szenen gekannt hatte und mir nur "The Kid" ansehen wollte. Leider gab es keine Karte mehr und als ich mich dem Ausgang zuwandte, kam Hilde Spiel, die mir offenbar die Enttäuschung angesehen hat, auf mich zu und schenkte mir ihre Karte mit der Bemerkung, dass sie diesen Film sowieso schon gesehen habe.
So ist mir dieser Abend in doppelt guter Erinnerung, weil der Film ergreifend war und ob der Großzügigkeit dieser Frau, die ich zwar aus den Medien kannte, sie mich aber natürlich nicht