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Constance Litschauer, 12.10.2021

Illegale Druckschriften aus dem Jahr 1934

Ein Cold Case im Wiener Untergrund

Einen noch nie dagewesenen Fund illegal hergestellter Druckschriften aus dem Jahr 1934 konnte zuletzt die Stadtarchäologie Wien erforschen. Dass sich dieses bemerkenswerte Zeugnis der Zeitgeschichte Österreichs auch zu einem vielseitigen „Cold Case“ im Keller eines Bürgerhauses in der Wiener Innenstadt entwickeln würde, war eine weitere Überraschung.

Während eine archäologische Fundstelle in der Wiener City zumeist das rasche Dokumentieren von bei Bauarbeiten aufgedeckten mittelalterlichen oder gar römerzeitlichen Überresten bedeutet, ging dieser Grabung eine Fundmeldung an die zuständige Abteilung für Archäologie des Bundesdenkmalamtes voraus.

In der Folge war es erstmals möglich, Belege für ein wertvolles Kommunikationsmittel der unter Dollfuß ab 1933 in die Illegalität gedrängten sozialistischen Organisationen in Form von Flug- und Tarnschriften in situ – also in Originallage – archäologisch zu dokumentieren und damit eine möglichst große Aussagekraft gewinnen zu können. Auch bot es sich aufgrund des Materials und seiner optimalen Versorgung hinsichtlich Erhaltung und Aufarbeitung an, mit der Wienbibliothek im Rathaus eine Kooperation einzugehen.

Tarn- und Flugschriften als archäologische Funde

Wichtige Informationen ergaben sich bereits beim Freilegen der obersten Drucke, die sich in einer mit Schutt verfüllten Mulde fanden und durch Angabe von Titel und Impressum ihre Herausgeber preisgaben. Sie ermöglichten die Zuordnung zum im März 1933 verbotenen, jedoch weiterhin in der Illegalität tätigen – vormals Republikanischen – Schutzbund sowie zu den nach den Februarkämpfen 1934 und dem Verbot der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs (SDAPÖ) neugegründeten Revolutionären Sozialisten (R.S.).

Unter den Tarnschriften fanden sich Exemplare der Nr. 4 der „Flugschriftenreihe des Schutzbundes: Bewaffneter Aufstand, Bürgerkrieg und Diktatur des Proletariats“ mit scheinbar harmlosen „Anleitungen zum Skifahren im Alpengelände“ und eigentlichem Inhalt „Über die Arbeiter- und Bauernräte“ Lenins, aber auch der Folgeausgabe Nr. 5. Sie verspricht mit dem Titel „Konstruktion des Flugzeuges“ die Vermittlung von technischem Know-How, klärt jedoch „Über die Diktatur des Proletariats“ auf. Auch hier ist Lenin als Autor angegeben, wobei es sich beide Male um Ausschnitte aus seinen meist Polemiken, Briefe und Zeitungsartikel oder Broschüren wie „Staat und Revolution“ (1917) umfassenden Werken handeln dürfte. Vergegenwärtigt man sich der auf den Vertrieb oder auch nur den Besitz derartiger Literatur drohenden Strafen, wie Gefängnis, Anhaltelager oder Verlust des Arbeitsplatzes, überrascht die Verwendung derartiger Scheinumschläge also keineswegs.

Die ebenfalls aufgedeckten und mit November 1934 datierten Belege der Nr. 6. der 1934/35 periodisch edierten Flugschrift „Der Schutzbündler“ vom Organ des österreichischen Schutzbundes ermöglichten schließlich die genaue zeitliche Einordnung. Zugleich drängen die ungefalzt und unbeschnitten erhaltenen Druckbögen mit jeweils 4 Druckseiten (recto/verso) Fragen zur Raumfunktion auf, da sie auf einen mitunter aufgegliederten Arbeitsprozess bei den ansonsten häufig in Brünn hergestellten Schriften schließen oder sogar eine bisher nicht verifizierbare Druckwerkstätte vermuten lassen.

Als gesichert kann hingegen angenommen werden, dass die zuletzt in großen Mengen und mitunter gebündelt erhaltenen, immer noch gleichen drei Schriften auf die Lagerung illegaler Lektüre zum Vertreiben und Verteilen im November 1934 zurückgehen, und dass die geplante Distribution – warum auch immer – nicht mehr stattfinden konnte. Während ein derartiges, von Josef Cmejrek bis zu seiner Verhaftung Anfang 1935 mit seiner Frau Helene betreutes Depot in der Kärntner Straße 4 überliefert ist, konnte dies durch das Fehlen entsprechender Akten und der durch Zeitzeugen überlieferten Berichte für das Gebäude und dessen unmittelbare Umgebung bisher nicht nachgewiesen werden.

Gestapelt oder verstreut – die Aussagekraft der Originallage

Eine nicht minder historisch relevante und tragische Geschichte präsentierte die erweiterte Grabungsfläche. Die Druckschriften fanden sich nicht wie für eine geplante Deponierung anzunehmen gestapelt, sondern ungeordnet oder verstreut unter dem Lehmboden in einer Art „Baugrube“ einplaniert. Was hier vor uns lag, war damit etwas bereits Entdecktes, dessen man sich wieder entledigte – und ein neues Rätsel für uns: Was war geschehen und wer steckte dahinter?

Wie so oft spielte bei der weitgehenden Klärung der Zufall – oder besser gesagt ein beim Anlegen von Probeschnitten aufgedeckter Zufallsfund – eine nicht unwesentliche Rolle: Eine etwas abseits der Grabungsfläche auf dem Stampfboden gelegene singuläre Tarnschrift wies verräterische Kalkspritzer auf dem Einband auf. Sie kam also hier zu liegen, als die daneben situierte Mauer im Zuge großräumiger Maler- und Bauarbeiten getüncht wurde, womit wiederum ein Zusammenhang mit der immer noch erkennbaren Funktion und Einrichtung des Kellers zum Schutzraum am Ende des 2. Weltkrieges anzunehmen ist. Die Vermutung bestätigte sich durch die ebenfalls während der Tätigkeiten auf der Wandtünche angebrachten und damit zeitlich jüngeren Stränge der elektrischen Beleuchtung, Beschriftungen und Wegweiser. Gleichzeitig erinnerten Form und Ausmaße der mit den Druckschriften verfüllten „Baugrube“ an einen nahe gelegenen und in der Nachkriegszeit wieder vermauerten Fluchtstollen des zwischen 1943 und 1945 angelegten Wiener Schutzraumnetzes. Während hier tätige Zwangsarbeiter auch im Bereich der Fundstelle einen aus unbekannten Grund nicht weiter ausgeführten Fluchtweg anlegen mussten, scheinen sie auf das nie verteilte illegale sozialistische Propagandamaterial gestoßen zu sein und es gleich wieder – unauffällig unter dem Boden – entsorgt zu haben. Demnach zu vermuten ist, dass sich das ursprüngliche Versteck möglicherweise unterhalb der Mulde in einem derzeit nicht vollständig freigelegten, aber erkennbaren Schacht befand.

Dass noch ein ungestörtes Versteck der Schutzbündler und Revolutionären Sozialisten aufgedeckt werden könnte, war aufgrund der Menge und Ausmaße der verlagerten Schriften nicht mehr anzunehmen. Eine am Grabungsende neben der Lage aus verstreuten Schriften freigelegte rechteckige Grube mit gestapelten Flugschriften „Der Schutzbündler“ Nr. 6 legte letztlich aber eine Ansprache als Hortung in ursprünglicher Verbergungslage nahe.

Neues Wissen – neue Fragen

Die sich im Lauf der Ausgrabung rund um den Fund sozialistischer Druckschriften aus dem Jahr 1934 abzeichnenden Geschehnisse konnten durch die professionelle Vorgehensweise des Expertenteams der Stadtarchäologie Wien in die politischen Entwicklungen vor und während des 2. Weltkrieges eingeordnet werden. Das stratigrafische Freilegen und die Dokumentation der Fundstelle erbrachten die wesentlichen Hinweise zum Zustandekommen, zur zeitlichen Einordnung und zu den Verursachern der Hinterlassenschaften. Es eröffneten sich aber auch neue Fragen zur damaligen Raumfunktion, den darin verwickelten Personenkreisen, oder aber auch zur Distribution und Auflagenstärke derartiger Kommunikationsmittel – und natürlich zur Einrichtung des Schutzkellers am Ende des 2. Weltkrieges. Diese gilt es nun in Form der wissenschaftlichen Aufarbeitung durch die Wienbibliothek und Stadtarchäologie zu beantworten, aber auch vor Ort. Legt die aktuelle Grabung doch nahe, dass unter dem Boden des Kellers im Ledererhof weitere Informationen verborgen sind. Wir schließen uns also gerne der schon im Frühjahr 1934 von den Revolutionären Sozialisten genutzten Parole„WIR KOMMEN WIEDER!“ an.

Wer ebenfalls forschen will, kann sich im 3D-Modell von „Crazy Eye“ versuchen und besagte Tarnschrift-Titel suchen!

Constance Litschauer, Studium der klassischen Archäologie und Numismatik an der Universität Wien sowie postgraduale Ausbildung zur Papierrestauratorin an der Kunsthochschule Bratislava. Seit 1999 bei den Museen der Stadt Wien – Stadtarchäologie beschäftigt. Tätigkeiten: Grabungsleitungen und wissenschaftliche Aufarbeitung, Bestimmung der Fundmünzen.

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