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Ilsa Barea-Kulcsar
Späte Rückkehr
In Österreich ist Ilse Kulcsar, Ilsa Barea oder Ilsa bzw. Ilse Barea-Kulcsar, wie sie sich im Lauf ihres Lebens nannte, kaum bekannt, auch wenn ihr Name hin und wieder in Biografien und Erinnerungen auftaucht oder im Zusammenhang mit dem antifaschistischen Exil genannt wird. In Spanien hingegen kennt man sie weitaus besser dank der Trilogie La forja de un rebelde ihres zweiten Ehemannes, Arturo Barea. In dieser Autobiografie, die zu den bedeutendsten Werken der spanischen Exilliteratur zählt, von Ilsa Barea ins Englische übertragen wurde und 1955 unter dem Titel Hammer oder Amboß sein auf Deutsch erschien, erzählt Arturo Barea die Geschichte ihrer Bekanntschaft und ihrer Liebe im belagerten Madrid des Jahres 1936, mitten im Spanischen Bürgerkrieg. Aber hier wie da ranken sich zahlreiche, nicht immer positive Gerüchte um ihre Gestalt, die manchmal den Blick auf die Frau dahinter verstellen.
Auch wenn sie mehr als dreißig Jahre ihres Lebens in anderen Ländern verbrachte, so spielte Wien für sie eine entscheidende Rolle. Hier wurde sie als Ilse Wilhelmine Elfriede Pollak am 20. September 1902 geboren. Ihr Vater Valentin Pollak (1871–1948) war jüdischer Abstammung, überzeugter Sozialdemokrat und ein bekannter Pädagoge. Seine Vorfahren kamen aus „zwei altberühmte[n] Judengemeinden“, Eisenstadt und Mattersburg. War Pollaks Großvater väterlicherseits Weinhändler und hatte sich in Wiener Neustadt niedergelassen, so war die Familie mütterlicherseits nach Wien gezogen, wo sie erfolgreich Handel betrieb. Dieser mütterliche Familienstrang war für Valentin prägend, wuchs er doch im Haus der Großeltern auf, da seine Eltern, die unterschiedlicher nicht sein konnten, bald getrennte Wege gingen. Nach seinem Studium arbeitete er als Mittelschullehrer, setzte sich für das Volksbildungswesen ein und wurde schließlich von 1920 bis zu seiner Pensionierung 1928 Direktor des angesehenen Wiener Wasa-Gymnasium.
Alice von Zieglmayer (1872–1948), Ilses Mutter, kam als älteste von sechs Töchtern aus einer wohlhabenden konservativen Familie, die dem niedrigen Adel angehörte. Während Alice 1901 den freisinnigen Juden Valentin Pollak ehelichte, heiratete ihre Schwester Helene den christlich-sozialen Politiker Johann Schober, der vor allem durch die tragischen Vorfälle rund um den Brand des Wiener Justizpalasts am 15. Juli 1927 im Gedächtnis geblieben ist. Das Verhältnis zwischen den beiden Schwägern war von gegenseitiger Abneigung geprägt, Valentin Pollak zählte Schober zu den „Totengräbern Österreichs“.
Dieser nicht unbedingt typischen Familienkonstellation entspross Ilse als älteste von drei Kindern. 1905 wurde ihr Bruder Willi, 1910 ihre Schwester Lotte geboren. Ilse besuchte die Schwarzwaldschule in Wien und begann 1920 ein Studium an der Fakultät für Politik- und Rechtswissenschaften der Universität Wien. Ein Kind ihrer Zeit, wandte sie sich unter dem Eindruck der sozialen Auseinandersetzungen dieser Jahre, aber auch geprägt von den Ideen ihres Vaters, früh der Politik zu – trotz ihrer bürgerlichen Abstammung einer konsequent linken, auf die Arbeiterschaft zentrierten Politik. So war sie erst Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP), später der Kommunistischen Partei, um schließlich erneut der SDAP beizutreten.
1922 heiratete sie ihren ersten Mann, Leopold Kulcsar (1900-1938), wie sie kommunistischer, später sozialdemokratischer Funktionär, mit dem sie ein für seine Brillanz und ideologische Unbändigkeit berühmt-berüchtigtes Paar formte, gemeinhin als „die Kulcsars“ bekannt. Ilse schrieb für die Parteipresse, arbeitete für Gewerkschaften und die Bildungszentrale der Partei, hielt Vorträge und gab Fortbildungskurse für Jugendliche und Frauen.
Zwischen 1931 und 1933 war sie als angesehene „Wanderlehrerin“ vor allem im Ostalpenraum unterwegs und machte sich als Rednerin auch beim politischen Gegner einen Namen. Zu dieser Zeit begann die Zusammenarbeit der Kulcsars mit der deutschen linken Splittergruppe Neu Beginnen: Als Gruppe Funke wollten sie mit einem Netz kleiner klandestiner Zellen gegen den Austrofaschismus und den Nationalsozialismus ankämpfen. Im Dezember 1934 flog ihre Untergrundtätigkeit auf, sie mussten in die Tschechoslowakei fliehen, wo sie im Umfeld des Auslandsbüros der österreichischen Sozialdemokraten arbeiteten.
Im Herbst 1936 beschloss Ilse, nach Spanien zu gehen, um die junge Republik zu unterstützen, gegen die im Juli dieses Jahres mehrere Generäle geputscht hatten. Eigentlich wollte sie als Journalistin arbeiten, doch wurde ihr dank ihrer Sprachkenntnisse ein Posten in der Zensurstelle in der Madrider Telefónica angeboten. Ihr Vorgesetzter war Arturo Barea, ihr zweiter Mann. Gemeinsam versuchten sie, die antiquierte Arbeitsweise der Zensurstelle zu modernisieren, was jedoch allgemein auf Unverständnis stieß. Nach Auseinandersetzungen mit einigen ihrer Vorgesetzten und in steter Gefahr, als Trotzkisten oder wegen Kollaboration mit dem faschistischen Feind festgenommen zu werden, verließen die beiden Spanien im Februar 1938, kurz nach ihrer Hochzeit, und gingen nach Frankreich ins Exil. In Paris verbrachten sie unter finanziell sehr schwierigen Umständen ein Jahr, in dem Ilsa ihren Roman Telefónica verfasste und Arturo seine Autobiografie in Angriff nahm. Im Februar 1939 konnten sie sich nach England einschiffen.
Ilsa begann im Abhördienst der BBC zu arbeiten und hörte im Zweiten Weltkrieg den nationalsozialistischen Funkverkehr ab, Arturo schrieb an seiner Autobiografie und wurde bald in England und in Lateinamerika bekannt. Nach Kriegsende zogen die Bareas in ein kleines Landhaus in der Nähe von Oxford. Gemeinsam schrieben sie Bücher über spanische Themen, Ilsa arbeitete als Übersetzerin und Dolmetscherin bei Gewerkschaftskongressen und wurde für die Labour Party Gemeinderätin ihrer Ortschaft, während Arturo für das lateinamerikanische Programm der BBC Sendungen gestaltete. Es war wohl die glücklichste und produktivste Zeit der beiden, die abrupt zu Ende ging, als Arturo am 24. Dezember 1957 unerwartet an einem Herzinfarkt starb – für Ilsa ein traumatischer Verlust.
Sie zog nach London, wo sie zu einer bedeutenden Mittlerin zwischen der deutschsprachigen, spanischen und englischen Literatur wurde. Hier erschien 1966 auf Englisch ihre einzige Buchveröffentlichung, eine umfassende Kulturgeschichte Wiens: Vienna: Legend and Reality, zwei Jahre später kamen Übersetzungen ins Dänische und Spanische heraus. Das feuchte Londoner Klima, aber auch stete finanzielle Sorgen, die sie zu übermäßiger Arbeit nötigten, die ihre ohnehin angegriffene Gesundheit zusätzlich beeinträchtigte, waren der Grund dafür, dass sie 1965 in ihre Geburtsstadt Wien zurückkehrte. Hier schrieb sie für die Zeitung der Eisenbahnergewerkschaft, war, wie in den Jahren vor dem Exil, als Lehrerin und Ausbildnerin tätig und versuchte, ihre Schreibprojekte zu verwirklichen: eine Autobiografie, ein Buch über Franz Schubert, die deutsche Fassung von Vienna und die Veröffentlichung in Buchform ihres Romans Telefónica. Sie konnte aber keines dieser Projekte ausführen, schwerkrank starb sie am 1. Jänner 1973.
Dank der Edition Atelier sind nun zwei dieser Projekte dennoch erschienen. 2019 kam Telefónica heraus, achtzig Jahre nach der Entstehung und siebzig Jahre nach dem Erstdruck 1949, als der Roman in siebzig Folgen in der Wiener Arbeiter-Zeitung veröffentlicht worden war. Telefónica beschreibt vier Tage der Belagerung von Madrid im Dezember 1936 und verarbeitet fiktional den Beginn der Liebesgeschichte zwischen Ilsa und Arturo Barea.
Wien. Legende & Wirklichkeit ist hingegen eine persönliche Annäherung der Autorin an Wien, nicht nur ein kulturhistorischer Aufriss der Stadtgeschichte, sondern auch eine mit autobiografischen Anekdoten durchsetzte Spurensuche ihrer Herkunft. Verarbeitet Telefónica einen entscheidenden Wendepunkt im Leben Ilsa Barea-Kulcsars, so stellt ihr Wien-Buch eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Hintergrund dar, vor dem sich ihre Existenz geformt hat und ein Gutteil ihres Lebens verlaufen ist.
Von Ilsa Barea sind in der Edition Atelier der Roman „Telefónica“ sowie „Wien. Legende & Wirklichkeit“ in der Übersetzung von Julia Brandstätter und Gernot Trausmuth erschienen.
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