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Tom Koch, 2.7.2020

Die typografische DNA der Stadt

Mauer! Schau!

Der Verein Stadtschrift eröffnet bereits die zweite „Mauerschau“ und bringt längst demontierte, individuell gestaltete Schriftzüge zurück in den öffentlichen Raum.

Fernsehen, Fotohaus, Gaststätte: Nicht nur die Gestaltung der Schriftzüge an sich, auch die Angebote, die sie einst bewarben, wirken heute eigentümlich antiquiert. Doch weder Nostalgie noch die Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“ sind die Triebfeder für den Verein Stadtschrift, der diese Wiener Schriften sammelt, konserviert und in den öffentlichen Raum zurückbringt. Es ist die Sorge um die schwindende Individualität der Städte, um das mangelnde ästhetische Empfinden und die drastisch gesunkene Qualität der visuellen Kommunikation im heutigen Stadtbild.

Mit dem Einzug internationaler Ketten und ihre uniformen Kodierungen und der zeitgleichen Dominanz billiger Beklebung als handwerkliche Umsetzung der Wahl, sank der Anspruch an Individualität, an ausdrucksvolle Typografie, ja selbst an die Haltbarkeit der Geschäftsportale rapide.

Schriftzüge mit Charakter

Das ist insofern bedauerlich, als Geschäftsportale ganz wesentlich zum Flair einer Stadt oder eines Viertels beitragen. In Wien blieben im Vergleich zu anderen Städten viele Ladenbeschriftung aus den 50er- und 60er-Jahren recht lange erhalten, allerdings kam es gerade in den letzten Jahren zu massiven Schließungswellen. Die Firmenschilder wurden in der Vergangenheit nur allzu oft einfach entsorgt, heute sind sie begehrte Sammlerobjekte. Im Jahr 2012 begann der Verein Stadtschrift, historische Wiener Geschäftsbeschriftungen zu dokumentieren und vor der Verschrottung zu retten. Von Beginn an stand dahinter die Idee, die Schilder wieder in den öffentlichen Raum zurück zu bringen. Im September 2014 eröffnete schließlich die erste Mauerschau in der kleinen Sperlgasse im 2. Bezirk, im Herbst 2018 musste sie wieder abgebaut werden.

Video: Stephan Doleschal

Einzigartiges Format

Mittlerweile entstanden in vielen Städten Initiativen, die sich mit der Erhaltung, Sammlung oder zumindest der Dokumentation lokaler Beschriftungen beschäftigen. Man kann die Schriften in Büchern und online finden, oder sie in Museen bewundern, beispielsweise im Neon Muzeum in Warschau, dem Buchstabenmuseum Berlin oder im American Sign Museum. Doch mögen diese Ausstellungen noch so liebevoll gemacht sein, es schwingt immer auch ein wenig Wehmut mit, wenn Schriften „ins Museum wandern“. 

Denn diese Schriftzüge wurden für die Montage über Augenhöhe geschaffen, ihre volle Wirkung entfalten sie erst an der Fassade. Sie sind auch äußerst robust, trotzten jahrzehntelang den widrigsten Bedingungen: Hitze, Schnee, Regen. Im Grunde filigrane Neonanlagen flackerten Nacht für Nacht auf, viele tausende Zündungen lang. 

Der Wiener Ansatz, den Schriftzügen ein „zweites Leben“ im öffentlichen Raum zu ermöglichen, entspricht ihrem Wesen. Hoch oben an den Feuermauern sind die Schriften dezentral für alle zugänglich. Jeder, der daran vorbeikommt, kann sie wahrnehmen – oder auch nicht. Ganz genau wie in ihrem „ersten Leben“ an den Geschäftsportalen. Passanten, die täglich daran vorbeigehen werden sie nach einiger Zeit wohl gar nicht mehr beachten. Wie sie auch den Schriftzug des „kleinen Geschäfts um die Ecke“ nicht mehr beachtet haben – bis es dann eines Tages für immer geschlossen blieb.

Hinter dem Verein Stadtschrift stehen Birgit Ecker und Roland Hörmann. Sie beschreiben ihre Tätigkeit als durchaus arbeitsintensiv: Hinweisen zu Schließungen nachgehen, mit Hausverwaltungen verhandeln, Sponsoren zu finden und die Schilder wieder fit für die Wand zu machen sind nur einige der Tätigkeiten, die einer Mauerschau vorangehen. Im Fall das Ludwig-Hirsch-Platzes vergingen gut eineinhalb Jahre vom ersten Gespräch bis zur Montage.

Die Ideen gehen Ecker und Hörman nicht aus, ebenso wenig die Buchstaben.
Bereits im September 2018 brachten die beiden mit „Lieselott“, „Mona“ und „Gitti“ insgesamt zehn Frauennamen in Form von Schriftzügen auf die „Frauennamenmauer“ Ecke Hofmühlgasse/Mollardgasse. Derzeit arbeiten sie an einer Ausstellung in Zusammenarbeit mit dem GB*Stadtteilbüro im 15. Bezirk. In wenigen Wochen sind dann zu den Öffnungszeiten des GB*Stadtteilbüros Schriften aus den Bezirken 6, 12, 14 und 15 in deren Räumlichkeiten zu sehen.

Ein Herzensprojekt erwähnt Roland Hörmann im Gespräch: Nach den Frauennamen im 6. Bezirk und abstrakten Begriffen im Karmeliterviertel wäre es an der Zeit, den großen Wiener Handelsnamen wie Slama, Osei & Co eine Mauer zu widmen. Schriftzüge dafür wären jedenfalls genug da.

Die Geschichten hinter den Fassaden

Als einen weiteren, ebenso spannenden Aspekt ihrer Arbeit bezeichnen die beiden die Rekonstruktion der Geschichte der Schriftzüge und der dazugehörigen Geschäfte. Die Schriften zeugen oft von Familienbetrieben, die über Generationen ihre Waren und Dienstleistungen anboten. Viele waren Institutionen in ihrem Viertel, für andere trat man ob des speziellen Angebotes die Reise durch ganz Wien an. Eine Tafel an der Mauer gibt Auskunft über die Geschäfte und deren Geschichte(n) und zeigt die Schriftzüge in ihrer ursprünglichen Umgebung. Hier ein Auszug:

Bonbons

5., Reinprechtsdorfer Strasse 39
Demontage: 2005

Die Schaufenster üppig dekoriert, der Geruch beim Öffnen der Türe unvergesslich: Zuckerlgeschäfte waren der ultimative Kindertraum und oft taktisch klug in der Nachbarschaft von Kinos oder Theatern angesiedelt. Die Zuckerlecke existiert seit 2005 nicht mehr, ihr letzter Besitzer war Hans Jaul. Zum Zeitpunkt der Schließung war das „Schokoladen“ schon nicht mehr vollständig, weil Buchstaben auf Glaspanelen nicht gebohrt, sondern geklebt wurden – was zwar überraschend lange, aber nicht ewig hält. Der Schriftzug dürfte von der Firma Körner & Kloss (1897–2002) produziert worden sein, die auf diese Bauart der verspiegelten und bombierten Buchstaben bis in die 50er-Jahre ein Patent hatte. In einer Handvoll ursprünglich erhaltenen Bonbons-Geschäften kann man in Wien noch süße Zeitreisen antreten.

Elektro

16., Hasnerstraße 59
Demontage: 21. April 2012

Das „Elektro Heyhall“ war eine der ersten Schriftrettungen des Verein Stadtschrift und leuchtete bereits für vier Jahre an der ersten Mauerschau in der kleinen Sperlgasse. Der 1964 durch die Firma Ronovsky installierte futuristische Schriftzug, insbesondere das blitzförmige „E“, ist eine typografische Huldigung der Elektrifizierung. Die Neonanlage wurde von den Mitarbeitern eigenhändig instand gehalten. Bis Mitte der 1980er-Jahre war hier an sechs Tagen in der Woche geöffnet, danach wurde das Lokal als Lager genutzt. Das Unternehmen gibt es noch immer: seit 1985 firmiert Heyhall Elektroinstallationen als GmbH, von 2008 bis heute unter neuer Geschäftsführung.

Gaststätte

22., Breitenleer Straße 244
Demontage: 15. April 2014

In den letzten Jahren mussten einige Traditionswirtshäuser in der Donaustadt schließen, so dass in der Bezirkszeitung von einem „Gasthaussterben“ die Rede war. Betroffen war auch die „Gaststätte Kopp“, seit 1997 besser bekannt als „Breitenleerhof“. Das langgestreckte Areal des seit den 1880er-Jahren bestehenden Wirtshauses wurde 2013 von der Wohnbauvereinigung für Privatangestellte gekauft. Auf dem Grundstück enstanden geförderte Mietwohnungen in mehreren Bauteilen, der bestehende schöne Festsaal wurde erhalten. Es gab Bestrebungen, die originale Beschriftung nach dem Umbau wieder anzubringen, wegen ihrer breiten Ausdehnung ließ sich aber keine geeignete Stelle finden. Eine charakteristische Eigenheit dieses Schriftzugs ist seine nachgiebige Grundlinie – sie scheint am Wortende dem Torbogen auszuweichen.

Kaffee

3., Radetzkystraße 24
Demontage: 2. März 2016

Als Hubert Horky das Café 1964 von seiner Mutter übernahm, blickte der Standort bereits auf eine lange Kafeehaustradition zurück. Der Schmäh seines Betreibers und die bis zuletzt unveränderte Möblierung machten das Kaffee Urania zu einem der kuriosesten Lokale der Stadt. Im Jänner 2016 kam es zur Schließung, wenig später verstarb Horky. Die Beschriftung, eingangsseitig mit Neonröhren und ums Eck unbeleuchtet ausgeführt, stammt aus 1964. Der zweite Teil des Signs, die Muse Urania, hat ihr Zuhause an der „Frauennamenmauer“ in der Hofmühlgasse im 6. Bezirk.

Metalle

2., Taborstraße 35
Demontage: 15. Jänner
2016

Dieser Schriftzug stammt aus der unmittelbaren Umgebung. Das 1836 gegründete Geschäft hatte drei Standbeine: Zur Taborstraße hin konnte man Eisenwaren, Schrauben und Nägel per Stück kaufen. In der Großen Pfarrgasse befand sich die Haushaltswarenabteilung mit exotischen Artikeln wie Honigspendern und elektrischen Brotmessern. Wer seinen Dampfdruckkochtopf auf Sicherheit überprüfen lassen wollte, war in Blasser’s KELOmat Servicestelle richtig. Ausserdem war „der Blasser“ auch Urgestein am österreichischen Wassersportmarkt. Bootsbeschläge, Leinen und Taue gab es vis-à-vis in der Großen Pfarrgasse. Schon 1905 scheint Ernst Bathelt als Emmerich Blasser’s Nachfolger auf. Aus dieser Zeit könnten auch die verchromten Buchstaben stammen. Ende der 1970er-Jahre übernahm Ing. Peter Hahn das Geschäft. Der letzte Eigentümer war Herbert Felfernigg ab 2004, ein stolzer, fachkundiger „Ladner“ der alten Schule. Der Frage, was sich heute in dem Eckgeschäft befindet, kann man wenige Gehminuten von der Feuermauer entfernt nachgehen.

Informationen zu den Projekten:
www.stadtschrift.at

Tom Koch, ist Wiener Grafiker und Schrift-Afi­ci­o­na­do. Der Autor des Buches „Ghostletters Vienna“ und Initiator der Sign Week Vienna publiziert auf typetraveldiary.com typografische Fundstücke aus aller Welt. Zuletzt erschienen seine Bücher „Mid-Century Vienna“ (Falter Verlag, 2021) und „finding Forte“ (Slanted Publishers, 2022).

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Kommentare

Karin Svadlenak-Gomez

Ein wunderbares Projekt, was für eine gute Idee! Ich bin begeistert, dass diese schönen alten Geschäftsschriften nicht einfach entsorgt werden sondern so als Kunst- und Erinnerungsprojekt bewahrt werden!

Martin Mucha

Da geht mir nun richtig das Herz auf! Vielen Dank für diese Initiative und dafür, dass diese typografischen Kostbarkeiten im öffentlichen Raum erhalten bleiben.
Bitte weiter dran bleiben!