Website Suche (Nach dem Absenden werden Sie zur Suchergebnisseite weitergeleitet.)

Hauptinhalt

Christian Maryška, 29.9.2023

Murray, Baedeker und ihre Epigonen

Mit dem Handy-Guide zur Wiener Weltausstellung

Bereits für die Weltausstellungen in London und Paris, die vor der Wiener Exposition universelle stattfanden, erschienen Bücher, mit denen man sich auf den Besuch der Ausstellung und des Veranstaltungsortes vorbereiten konnte. Im Notfall ergatterte man diese Ratgeber sogar im letzten Augenblick vor Antritt der Reise in einer der neuen Bahnhofsbuchhandlungen.

Die Weltausstellung in Wien fand gerade zu einem Zeitpunkt statt, als sich ein neues Leitmedium durchzusetzen begann, nämlich der klassische Reiseführer im Design des englischen Murray oder des deutschen Baedeker, wie er bis in die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts existierte und den Markt dominierte. 1835 erschien Karl Bädekers Rheinreise. Ein Handbuch für Schnellreisende in Koblenz. Im folgenden Jahr veröffentlichte John Murray in London sein Handbook für Travellers on the Continent. Die Sternchen für die Bewertung der Sehenswürdigkeiten und Unterkünfte führten beide 1846 ein, und Baedeker, wie er sich nun mit Rücksicht auf den englischen Markt schrieb, übernahm den stilprägenden roten Einband von Murray als Markenzeichen.

Sowohl den vormodernen Reishandbüchern als auch den modernen Reiseführern war es zu eigen, dass sie durch ihre Darstellung und Beschreibung den Blick der Leser auf die Stadt präfigurierten. Sie konstruierten Erfahrungsräume und eine Topografie des Ortes, indem sie bestimmte Dinge hervorhoben und andere nicht erwähnten. Der touristische Blick eines Reisenden nach der Lektüre eines Führers war ein anderer als der eines gänzlich unvorbereiteten Besuchers in einer ihm bis dahin unbekannten Stadt. „Als optisches Erschließungsmedium ist der Reise-Führer die Anleitung zu einer spezifischen Sehordnung“, schreibt Susanne Müller in ihrer Mediengeschichte des Baedekers, der sich „als Komplexe optische Apparatur“ erweist. Murray und Baedeker waren damals bereits Marktführer, weil sie eine Essenz aller Informationen über ein Reiseziel generierten: „Alles an ihm – äußere Form, Handlichkeit, Übersichtlichkeit, äußerste Knappheit der Informationen, Ausnutzung auch noch des letzten freibleibenden Raumes – deutet auf Zweckmäßigkeit.“ Diese Führer konzentrierten sich zunächst auf die Herausgabe von Länder- und Regionalguides.

Erst relativ spät erschienen auch spezielle Städteführer, häufig anlässlich von Weltausstellungen. Die Reiseführerverlage reagierten damit auf die Möglichkeit, die potenziellen Käuferschichten um die Weltausstellungsbesucherinnen und -besucher zu erweitern, daher korrelierten die Erscheinungsjahre einzelner Führer mit den Jahren der Weltausstellungen. Bei den Büchern von John Murray war es das Handbook for Modern London, das anlässlich der Great Exhibition 1851 veröffentlicht wurde. Ein Führer für Paris erschien erst 1879. Der erste Städte-Baedeker war der für die zweite Weltausstellung in Paris 1855, wobei das Palais d’Industrie mit einem einseitigen Eintrag gewürdigt wurde. Für die Wiener Weltausstellung hatten weder Murray noch Baedeker einen Führer in Planung. Allerdings gab es für die Baedeker-Bände Süddeutschland und Österreich von 1872 und Österreich, 1873, in deutscher, englischer und französischer Sprache einen nach Osten erweiterten Wien-Plan mit dem Gelände in der Krieau und ein zusätzliches 24-seitiges Gratis-Heftchen beim Kauf des Baedekers.

Die Gunst der Stunde durch die fehlende Marktpräsenz nützten das Bibliographische Institut sowie ein Wiener Verlag und brachten Führer im Stile des Baedekers heraus. Beide sind auch ein Beweis dafür, dass damals Schnellschüsse bereits State of the Art waren, entstanden doch beide in einer „beengenden Kürze der Zeit“, und die Vorworte stammen aus dem Frühjahr 1873 unmittelbar vor beziehungsweise nach der Eröffnung der Weltausstellung, um sie möglichst aktuell zu halten.

Ersteres war eine umfangreiche Publikation von Baedekers schärfstem Konkurrenten, dem von Joseph Meyer 1826 in Gotha gegründeten Bibliographischen Institut. Wenn man nicht das Buchcover oder das Titelblatt vor Augen hat, konnte und kann man diesen Führer nicht von einem Baedeker unterscheiden. Das erste dieser Meyer’schen Reisebücher erschien 1862 für die Schweiz. Diese braun gebundenen Tourismusführer sollten nach den roten Baedekern die erfolgreichsten Publikationen ihrer Art werden. Nur die äußere Aufmachung deutet auf die Besonderheit des Anlasses hin, sind doch am Cover das Haupteingangsportal der Weltausstellung in Gold geprägt, am Vorsatzblatt ein Wien-Plan mit dem hervorgehobenen Ausstellungsgelände und auf dem Frontispiz ein Kupferstich vom „Weltausstellungspalast“ zu finden. Der in Wien beheimatete Autor Franz Stehlik schreibt im Vorwort vom Mai 1873 verärgert, dass man bei der Erstellung eines solchen Spezialführers nicht mit der Unterstützung des Weltausstellungsbüros rechnen dürfe, obwohl es Werbung für die Veranstaltung wäre, sind doch „meine beharrlichen Bemühungen bei der Generaldirektion der Wiener Weltausstellung von Anfang bis zu Ende gänzlich fruchtlos geblieben. Der Herr Präsidialreferent hat mich wochenlang mit leeren Versprechungen hingehalten und mich so rücksichtslos um einen guten Theil meiner kostbaren Zeit gebracht.“ Dem Führer vorangestellt sind gelbe Seiten mit detaillierten Fahrpreisen und der Fahrtdauer für die Anreise mit Bahn und Schiff. 18 Stunden benötigte man etwa für die Fahrt von Berlin nach Wien. Aus diesen Plänen geht auch hervor, dass der Führer explizit für ein deutsches Publikum geschrieben wurde, da zum Beispiel die Anreise aus der Schweiz nicht erwähnt wird.

Ein Fixpunkt dieser Führer war es, die Reisenden vor bestimmten unangenehmen Erlebnissen zu warnen. In Wien wurde vor unverschämten Kutschern gewarnt, die die Fremden übervorteilen. Im Notfall sollte man sich an den nächsten Wachposten wenden, „welcher verpflichtet ist, auf Verlangen die Nummer des renitenten Kutschers aufzuschreiben und zur Anzeige zu bringen“. In puncto Sicherheit gab der Führer Entwarnung für ängstliche Besucher und Besucherinnen: „Hier sind die Raubattentate grosse Seltenheit, und der Fremde hat in Wien nicht mehr zu befürchten als der Einheimische.“ Im Kapitel „Geld, Wechsler, Börse, Banken“ wird auf den Börsenboom ausführlich hingewiesen und darauf, dass der Schottenring, wo sich das provisorische Gebäude der Börse befand, das Zentrum des „Börsenschwindels“ und der „Kernpunkt des wirklich neuen Wiens“ ist. „Auf dem Ring längs der Börse fortwährendes Gewoge und Gewimmel von Männern, nicht endendes Gesumme, lebhafte, leidenschaftliche Geberden, dazwischen laute Rufe, Gedränge, Lärmen und Toben: es ist der Hexensabbath der Börse auf der Strasse.“ Auch auf den Boom der Bankengründungen – zu Beginn 1871 gab es 19 Banken, Ende 1872 bereits 69 – wird ausführlich hingewiesen. Am Schluss konnte man in einem ausführlichen Kapitel über die Weltausstellung, die Geschichte ihrer Entstehung, die Finanzierung, den Bau und ihre 26 Ausstellungsgruppen lesen. Zum Schluss gab es Tipps zu kulinarischen Höhepunkten der Schau. Empfohlen wurden die Liesinger Bierhalle im Schweizerhaus-Stil (zwei Sterne) und die Schweizer Konditorei von Possard aus Zürich (ein Stern) mit folgenden Worten: „Bedienung durch hübsche Mädchen im National-Kostüm. Hohe Preise!“ Das Steirische Weinhaus (ein Stern) erregte die Aufmerksamkeit durch einen männlichen Protagonisten: „Der Wirth eine steirische Originalität; schöner Mann von sehr freundlichem Wesen.“

Der Autor des Führers, Franz Stehlik, berief sich im Vorwort ausdrücklich auf den Wiener Baedeker von 1868, denn er als Quelle nutzte. Dieses Werk von Karl Weiss und Bruno Bucher, Kunsthistoriker und Kustos des Österreichischen Museums, erschien 1873 anlässlich der Weltausstellung in einer Neuauflage. Der Führer war gelehrter und mehr auf Kunst und Kultur fokussiert als das Meyer-Reisebuch. Auch formal unterschied es sich: Es war rot gebunden wie der Baedeker mit dem geprägten Wappen der Stadt Wien auf dem Umschlag. Da Baedeker als Markenname nicht geschützt war, aber einen hervorragenden Ruf genoss, nannte man dieses Vademekum für den Wien-Besuch einfach Wiener Baedeker, obwohl er sich formal vom Vorbild unterschied. Er war sehr handlich, halb so groß wie sein Vorbild und durchgehend einspaltig gedruckt. Dieser Führer war so erfolgreich, dass im Juni 1873 bereits eine Neuauflage erscheinen musste.

Nicht nur der eigentliche Führer war für Fremde interessant, auch die beigebundenen Annoncen waren teilweise instruktive Handreichungen für die Touristinnen und Touristen. So machte etwa das Künstlerhaus auf die Ausstellung von Hans Makarts Großgemälde Die Huldigung der Caterina Cornaro in seinem Haus während der Weltausstellung aufmerksam, dass von den Kunsthändlern Miethke & Wawra um 90.000 Gulden erworben wurde. Tatsächlich bildeten sich vor dem Künstlerhaus Menschenschlangen, die dieses Riesengemälde des damaligen Maler-Superstars sehen wollten. Dieser Wiener Baedeker erschien im Jahr der Weltausstellung auch in einer englischen Edition als Handy-Guide to Vienna im Londoner Verlag Longmans & Co.

Überspringe den Bilder Slider
Springe zum Anfang des Bilder Slider

Auf dem amerikanischen Buchmarkt erschien 1873 in Philadelphia ebenfalls ein Führer zur Weltausstellung. Er beginnt mit den transatlantischen Schiffsverbindungen nach Europa. Danach folgen die Bahnverbindungen von London und anderen Städten. Dabei wird auf die komfortable Zugsreise hingewiesen. „The through trains from London and Paris to Vienna, are fast und well organized, and afford the best means of conveyance for such as have only Vienna for their object.“ Von der Victoria Station in London über Paris, Straßburg und Stuttgart reiste man rund 50 Stunden, ab Paris waren es 37 Stunden. Wie der Historiker Karl Schlögel richtig bemerkte, sind diese Fahrpläne in den Reiseführern und Kursbüchern in jenen Jahren „Protokolle über den Fortschritt bei der Verkürzung von Distanzen und die Verdichtung von Raum“. Dieser Reiseführer betonte dazu die Möglichkeiten der neuen Telegrafie. Ein Telegramm innerhalb von Wien kostete 20 Kreuzer, eines innerhalb Österreichs 60 Kreuzer, eines nach London bereits zwei Gulden 80 Kreuzer und eine Nachricht nach New York mittels Unterseekabel stolze 22 Gulden 80 Kreuzer – jeweils für 20 Worte.

Die übrigen der rund ein Dutzend Wien-Führer, die im Jahr der Weltausstellung teilweise in mehreren Sprachen erschienen, waren stilistisch noch eher in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verhaftet und betonten vor allem kunstgeschichtliche Aspekte, während die Ausstellung kaum Erwähnung fand. Bemerkenswert sind allerdings Special-Interest-Führer, die für bestimmte Zielgruppen geschrieben wurden. Speziell für technisch Interessierte gab es einen detailreichen Führer über architektonische Innovationen und Höhepunkte der Ingenieurskunst. Er entstand mit Unterstützung des Ingenieur- und Architekten-Vereins und wurde durch bekannte Ringstraßen-Architekten wie Theophil Hansen oder Heinrich Ferstel gefördert. Wie in vielen anderen Führern wird hier das neu errichtete Römische Bad neben dem Hotel Donau besonders lobend erwähnt. Andererseits gab es einen Low-Budget-Reiseführer für Besucherinnen und Besucher mit schmaler Geldbörse, wie er eigentlich erst im letzten Drittel des 20. Jahrhundert zu finden ist.

Dazu kamen Reisebücher, die fast prophetischen Charakter hatten und in denen man Anzeigen zur Vorbeugung gegen die Cholera finden konnte. Im konkreten Fall die Liechtenthaler Bitter-Liqueur-Essenz, die „schon Wunder gewirkt hat, indem es Personen, die von der Cholera befallen und selbst von den Ärzten schon aufgegeben waren, dem sicheren Tod entriss“. Den Ausbruch der Cholera konnte sie dann doch nicht verhindern. Wohlbekannte Klischees durften bei der Beschreibung der Charaktereigenschaften der Wiener und Wienerinnen nicht fehlen: „Während der Engländer und speciell Londoner kalt, ruhig und berechnend, der Pariser leichtfertig und oberflächlich, der Berliner kühl und zurückhaltend, ist der Ausdruck der Wiener Bevölkerung vorwiegend gemüthlich und zutraulich.“ Für Besucherinnen und Besucher mit norddeutschem Akzent gab es einen ganz besonderen Tipp, nämlich politischen Konversationen auszuweichen, „damit nicht der durch unangenehme Rückerinnerungen hervorgerufene Unmuth die frohe Laune verscheuche“. Gemeint war damit die beschämende militärische Niederlage von Königgrätz 1866 gegen Preußen.

Überspringe den Bilder Slider
Springe zum Anfang des Bilder Slider

Und schließlich erschien noch ein Baedecker, der sich zwar so nannte, aber keiner war, sondern eine humoristische Parodie auf das Wien im Weltausstellungsjahr. Aufs Korn genommen wird etwa der Generaldirektor der Schau: „Baron Schwarz heißt der Mann, der trotz seines dunklen Namens sehr weise ist und hell sieht, wenn er auch von vielen so verschwärzt wurde, so ist der Baron Schwarz doch kein überspannter Rauchfangkehrer, sondern ein industrieller Fortschritts-Mensch. Er ist zwar kein großer Mann, aber seine Ideen sind großartig, wenn sie auch viele Millionen kosten.“ Höhepunkt diese Textsammlung ist das letzte Kapitel mit dem Titel „Wiener Bädeker bei der Weltausstellung als Cicerone, Fremdenführer und Wegweiser“, in dem der Sprachduktus der Reiseführer geistreich persifliert wird.

Mit dem Boom an Wien-Führern zur Weltausstellung wurde auch ein Fokus auf zeitgenössische Kunst und Architektur gelegt. Damit hatte sich ein neuer Pflichtkanon an Sehenswürdigkeiten gebildet. Der gotische Stephansdom wurde fast gleichwertig wie die noch nicht fertiggestellte Votivkirche als Top-Attraktion präsentiert. In der Top-Ten-Liste der abgebildeten Bauwerke befanden sich fast nur historistische Novitäten: Kursalon, Hofoper, Museum für Kunst und Industrie, Synagoge, Akademisches Gymnasium, Warenhaus Philipp Haas, Nationalbank (Palais Ferstel) und Künstlerhaus. Biedermeier und Klassizismus scheinen in diesen Handreichungen für Touristinnen und Touristen niemals existiert zu haben.

Der Text erschien erstmals in veränderter Form im Katalog zur Ausstellung „Experiment Metropole. 1873: Wien und die Weltausstellung“ 2014 im Wien Museum.
 

Literatur:

Susanne Müller: Die Welt des Baedeker. Eine Medienkulturgeschichte des Reiseführers 1830–1945, Frankfurt a. M./New York 2012

Reinhard Öhlberger: Mit Baedeker zur Weltausstellung, in: Mitteilungen für Baedeker-Freunde, H. 2, 1980

Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München/Wien 2003

Christian Maryška, geboren 1960 in Wien. Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Wien. Kulturwissenschaftler, Historiker und Ausstellungskurator. Mitarbeiter von Bildarchiv und Grafiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek.

Kommentar schreiben

* Diese Felder sind erforderlich

Kommentare

Keine Kommentare