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Amar Priganica, 18.12.2024

Notkirchen in Wien

Sakrale Provisorien in Zeiten der Not

Die sogenannten Notkirchen wurden insbesondere nach den Zerstörungen der Weltkriege gebaut, um den Gläubigen weiterhin einen Raum für religiöse Zusammenkünfte zu bieten. Als Übergangslösungen gedacht, überdauerten sie oft erstaunlich lang die Zeit.

Notkirchen zeichneten sich durch eine einfache Bauweise aus, die stark auf Funktionalität ausgerichtet war. Verwendet wurden Materialien wie Holz oder Wellblech – kostengünstig und schnell verfügbar. Oder es wurden bereits vorhandene Zweckbauten wie etwa Baracken oder Teile eines bestehenden Gebäudes für kirchliche Zwecke adaptiert. Das Ziel war stets, schnell und pragmatisch Raum zu schaffen, in dem die Menschen weiterhin ihren Glauben praktizieren konnten.

Bereits Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts stieß die katholische Kirche in Wien an die Grenzen ihrer Möglichkeiten, den wachsenden Anforderungen gerecht zu werden. Die Industrialisierung führte zu einem starken Bevölkerungsanstieg, insbesondere in den neu entstehenden Arbeiterbezirken, sodass bestehende Kirchenkapazitäten oft nicht mehr ausreichten. Weihbischof Godfried Marschall erkannte früh die Dringlichkeit dieses Problems und initiierte die Errichtung von Notkirchen in besonders dicht besiedelten oder abgelegenen Stadtteilen. Neben dem Bedarf an Seelsorge vonseiten der Menschen hatte das auch andere handfeste Gründe: Schließlich befürchtete die Kirche zurecht, den Zugriff auf die Masse der Stadtbevölkerung kontinuierlich zu verlieren, und wollte der erstarkenden Sozialdemokratie nicht kampflos das Feld überlassen.

Ein konkretes Beispiel aus dieser frühen Phase ist die „Kirche der Unbefleckten Empfängnis Mariä“ in Neumargareten. Sie wurde – ebenso wie die Allerheiligenkirche in Zwischenbrücken – 1905 errichtet, als Reaktion auf die „schreiende Wiener Kirchennot“. Die Einweihung erfolgte im Beisein hoher kirchlicher und staatlicher Würdenträger, darunter auch Kaiser Franz Joseph.

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs verschärfte sich die Lage, erneut mussten kreative Lösungen her. In dieser Zeit entstand etwa eine hölzerne Notkirche in Hasenleiten in Simmering, die inmitten eines Kriegsspitals errichtet wurde. Der Volksmund taufte sie später „Russenkirche“, da man annahm, russische Kriegsgefangene seien am Bau beteiligt gewesen. Tatsächlich aber waren österreichische und bulgarische Soldaten für die Errichtung verantwortlich. Die Kirche, die aus Fertigbauteilen bestand und von einer polnischen Firma gespendet wurde, diente zunächst den Soldaten als Gotteshaus. Nach dem Krieg verfiel sie, bis sie in den 1920er Jahren notdürftig renoviert wurde. 1961 brannte sie während der Demontagearbeiten vollständig ab.

Ein anderes provisorisches Gotteshaus, das ebenso Raub der Flammen wurde, war die Notkirche bei der Spinnerin am Kreuz in Favoriten. Fotos von dem Brand am 2. Jänner 1928 haben sich in der Sammlung des Wien Museums erhalten.

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Während die „Russenkirche“ in Hasenleiten wie bereits erwähnt nichts mit russischen Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs zu tun hatte, wurden letztere sehr wohl beim Bau einer Notkirche in Kaisermühlen eingesetzt. Der heute als „Koptische Markuskirche“ bekannte Bau erhielt daher nach seiner Fertigstellung 1917 ebenfalls die Bezeichnung „Russenkirche“, angeblich auch wegen seines „nordosteuropäischen“ Stils. Der Entwurf stammt übrigens von Hans Prutscher (dem Bruder des Architekten Otto Prutscher), der auch die oben erwähnte (abgebrannte) Kirche bei der Spinnerin am Kreuz entworfen hatte.

In den Wirren der Zwischenkriegszeit entstanden inmitten der politisch komplizierten Verhältnisse weitere Notgottesdienststätten. Anfang der 1930er Jahre betrat der Priester, Theologe und Publizist Josef Gorbach die Bühne, dessen Engagement für den Bau von Wiener Notkirchen eine entscheidende Rolle spielte. Gorbach, ursprünglich aus Vorarlberg stammend, nutzte die Erlöse des von ihm gegründeten „Zweigroschenblatts“, um die Errichtung neuer Gotteshäuser zu finanzieren (mit dem „Anschluss“ 1938 wurde das Blatt verboten). Dabei war es Gorbach besonders wichtig, dass diese Kirchen nicht nur spirituelle, sondern auch soziale Ankerpunkte für die Gemeinschaft waren.

Ein Beispiel seiner Bemühungen ist die Namen-Jesu-Kirche an der Philadelphiabrücke. Gorbach fand den Standort während eines Spaziergangs durch die Stadt, als er gezielt nach geeigneten Plätzen für neue Kirchen suchte. Das kleine Notkirchlein wurde letztlich 1932 auf einem von Gorbach erworbenen Fabriksgelände gebaut, wobei sich der Theologe nicht nur um die finanzielle Seite kümmerte, sondern auch aktiv in die Bauplanung und Seelsorge eingebunden war, was seinen persönlichen Einsatz und seine Hingabe verdeutlicht.

Im „Schwarzen Wien“ richtete der christlich geprägte Ständestaat dann in verschiedenen Gemeindebauten, wie im Sandleitenhof in Ottakring, Notkirchen ein, um die religiöse Präsenz weiter zu stärken und die Verflechtung von Staat und Kirche zu verfestigen.

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In den letzten beiden Jahren des Zweiten Weltkrieges wurden beträchtliche Teile von Wiens kirchlicher Infrastruktur beschädigt, weshalb in den Jahren danach provisorische Lösungen wieder Konjunktur hatten. Einer dieser Bauten, der heute noch erhalten ist, ist die ebenfalls von Josef Gorbach initiierte „Fatimakirche“ in Penzing. Im Jahre 1959 errichtet, besteht sie aus zwei Holzbaracken – eine als Gotteshaus und eine kleinere als Nebengebäude. Ein hölzerner, freistehender Glockenturm, der nachträglich hinzugefügt wurde, vervollständigt das Bild. Die Fatimakirche diente den Gläubigen in einem neu entstandenen Siedlungsgebiet, das überwiegend von Arbeiterfamilien bewohnt war. Nach einem Brand im Jahr 1993 wurde die Kirche bis 1995 wieder aufgebaut, sie wird bis heute genutzt.

Die Notlage nach dem Zweiten Weltkrieg brachte in Wien auch besonders kreative Lösungen hervor, wie die „LKW-Kapelle“ in der Donaustadt am Ulanenweg. Dabei wurde ein Lastwagen so umgebaut, dass er als mobile Kirche diente, um in verschiedenen Teilen der Stadt Gottesdienste abzuhalten. Der Altar konnte bei Bedarf ausgeklappt werden, und der Priester hielt die Messe unter freiem Himmel ab. 

Ein besonders bemerkenswertes Beispiel dafür, wie die Geschichte der Notkirchen bis heute weiterlebt, ist die „Notgalerie“ in der Seestadt Aspern. Die ungewöhnliche Geschichte dieser Institution beginnt mit der Notkirche in Glanzing, die 1946 errichtet und später nach Aspern verlegt wurde, wo sie als quasi-Nachfolgerin der LKW-Kapelle mit dem Namen „St. Josef am Ulanenweg“ bis 2001 fungierte. Der Wiener Künstler Reinhold Zisser entdeckte im Jahr 2015 die mittlerweile verfallene Holzkirche und verwandelte sie als „notgalerie“ in eine Gesamtinstallation. Als sie vom Abriss bedroht war, wurde die Notgalerie 2017 an einen neuen Standort bei der U2-Station „Aspern Nord“ umgesiedelt. „Die Notkirche funktionierte wie eine gefundene Schale, um am Rand des Wiener Kulturbetriebs einen autonomen Raum zu öffnen“, so Zisser. 

Nach einer dreijährigen Präsenz in der Seestadt erfolgte der vollständige Abbau der Notgalerie. Die einzelnen Teile wurden systematisch nummeriert und registriert, ähnlich wie es in der Sammlungsverwaltung von Museen üblich ist, und schließlich verteilt. Der Abbauprozess selbst wurde als eine kollektive Performance in acht Akten inszeniert, die von Juli bis Oktober 2020 stattfand.
 

Symbolische Bedeutung der Notkirchen

In vielerlei Hinsicht erinnern Notkirchen an die Kirchen der ersten Christen. Ähnlich wie bei den sogenannten „Urgemeinden“, die sich oft in einfachen Privathäusern oder Katakomben versammelten, um ihren Glauben zu leben, entstanden die Notkirchen aus der Notwendigkeit, trotz widriger Umstände einen Ort der Zusammenkunft zu schaffen. Beides ist Ausdruck eines tief verwurzelten Glaubens, der sich auch unter schwierigen Bedingungen behaupten wollte: Die frühen Christen mussten Verfolgungen ertragen und fanden in einfachen, oft versteckten Räumen einen Platz für Gebet und Gemeinschaft. Ebenso symbolisieren die Notkirchen das „Wiederaufleben“ nach den Zerstörungen der Weltkriege. Notkirchen stehen damit ebenso wie die Kirchen der ersten Christen für einen widerstandsfähigen Glauben.

Die Geschichte der Wiener Notkirchen ist nicht nur eine des Mangels, sondern auch eine der Kreativität und des Einfallsreichtums. Sie zeigt, wie es den Menschen in schwierigen Zeiten gelang, Orte der Zusammenkunft zu schaffen, die sowohl ihre religiösen als auch sozialen Bedürfnisse erfüllten. Obwohl viele dieser provisorischen Gotteshäuser mittlerweile durch „feste“ Kirchen ersetzt worden sind, erinnern sie daran, dass selbst die einfachsten Lösungen in Krisensituationen funktionieren können.

Doch wieviel Notkirchen gab es eigentlich in Wien? „Eine genaue Zahl der Notkirchen kann wohl nur schwer ermittelt werden, da die meisten von ihnen nicht mehr existieren und auch nicht alle mit entsprechenden Dokumenten und Fotos greifbar sind“, erklärt Nicole Kröll vom Diözseanarchiv Wien (DAW). „Im DAW existiert kein geschlossener Bestand zu den Notkirchen, der eine systematische Erschließung auf rasche Weise ermöglichen würde.“ Einen Überblick zu den bislang erfassten Wiener Notkirchen bietet Wien Geschichte Wiki auf Basis der Recherchen von Kröll und ihren Kolleg:innen.

 

Weitere Quellen und Literatur

Josef Gorbach: Das Wiener Notkirchenbauwerk. In: Beiträge zur Wiener Diözesangeschichte. Beilage des Wiener Diözesanblattes 11 (November 1975), Nr. 6, 16. Jahrgang, S. 45-48
Josef Gorbach: Das Wiener Notkirchenbauwerk. Fortsetzung. In: Beiträge zur Wiener Diözesangeschichte. Beilage des Wiener Diözesanblattes 1 (Jänner 1976), Nr. 1, 17. Jahrgang, S. 4-8
Franz Loidl: Auffallende Schicksalsgemeinschaft zweier Notkirchen. In: Beiträge zur Wiener Diözesangeschichte. Beilage des Wiener Diözesanblattes 3 (März 1972), S. 11 f.
Hedwig Matzke-Jähnl: Prälat Dr. Josef Gorbach und seine Notgottesdienststätten in der Wiener Erzdiözese (eine vorläufige, von ihm beglaubigte Bestandsaufnahme bis Dezember 1970). In: Beiträge zur Wiener Diözesangeschichte. Beilage des Wiener Diözesanblattes 5 (1971), S. 23 f.

Notgalerie Website

Amar Priganica ist Schriftsteller und Musiker. Er studierte Betriebswirtschaft an der Universität Wien sowie Malerei an der Akademie der bildenden Künste Wien bei Daniel Richter. Von 2018 bis 2023 arbeitete er im Wien Museum in den Abteilungen Ausstellungsproduktion, Sammlung und Archiv. Aktuell promoviert er in Philosophie unter der Leitung von Elisabeth von Samsonow an der Akademie der bildenden Künste Wien. Im Zentrum seiner Forschung steht die Querverbindung aus Kultus, kriegerischer Handlung und dem invasiven Einsatz von Klang.

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Kommentare

Anton Kuhn

Sehr geehrte Damen und Herren,
in der Aufzählung fehlt für mich die Notkirche am Laaerberg (1100 Wien, Laaer-Berg-Straße 222), welche 1925 errichtet worden ist, bis in die 60er-Jahre existiert hat. Nach dem Abriss ist der Pfarrsaal zur Kirche umgebaut worden.
Dieses Provisorium hat bis in den Jänner 1984 bestanden.
Mit freundlichen Grüßen
Anton Kuhn