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Veronika Floch, 21.12.2023

Otto Kallir und die Neue Galerie 1923–1954

Mut und ein Blick für die Avantgarde

Der Kunsthändler Otto Kallir bereitete in New York den Weg für Künstler der Wiener Moderne wie Klimt, Schiele und Gerstl. Eine aktuelle Ausstellung in der Galerie nächst St. Stephan beleuchtet nun seine Tätigkeiten in Wien und rollt die Geschichte seiner Neuen Galerie in der Grünangergasse 1 auf.

„Die Erkenntnis, Egon Schiele sei einer der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts, erreichte Österreich in den späten fünfziger Jahren aus New York, 57th Street“, schrieb der Kulturpublizist Jan Tabor anlässlich der Ausstellung „Otto Kallir-Nirenstein. Ein Wegebreiter österreichischer Kunst“, die 1986 im Historischen Museum der Stadt Wien – dem heutigen Wien Museum – gezeigt wurde.

„New York, 57th Street“ war die Adresse der renommierten Galerie St. Etienne, die 1939 von dem vor den Nationalsozialisten geflüchteten Wiener Kunsthändler Otto Kallir gegründet wurde. Von hier aus verhalf er Künstlern wie Klimt, Schiele und Kokoschka zu Anerkennung in den USA. Tabor ist bezüglich Kallirs Wirken zuzustimmen, eine Bekanntheit erreichten die Vertreter der Wiener Moderne aber bereits im Österreich der Zwischenkriegszeit – unter anderem Dank Kallirs Neuer Galerie, die er vor 100 Jahren im November 1923 in der Grünangergasse 1 in Wiens Innenstadt eröffnete.

Die Galerie nächst St. Stephan Rosemarie Schwarzwälder nimmt das 100-jährige Jubiläum zum Anlass, sich der Geschichte der Neuen Galerie und damit der eigenen Galeriegeschichte zu nähern. Denn beide Galerien teilen denselben Ort – seit 1954 befindet sich die Galerie, damals noch unter dem Namen Galerie St. Stephan in den Räumlichkeiten in der Grünangergasse 1.

Ausgewählte Dokumente wie Korrespondenzen, Fotografien, Ausstellungsdokumentationen, Kataloge, Einladungskarten und Presseberichte aus dem Archiv der Neuen Galerie (Belvedere/Research Center) sowie dem Kallir Research Institute, NY, erzählen die Geschichte dieses Ortes entlang der historischen Wendepunkte. Politische Machtverschiebungen, gesellschaftliche Umbrüche und kunsthistorische Paradigmenwechsel sind an der Geschichte der Neuen Galerie ablesbar und werden in der Kabinettausstellung als Kontinuitäten, Bruchstellen und Netzwerke sichtbar, dargestellt in jenen Räumen, die selbst Thema der Präsentation sind.

Otto Kallir und die Neue Galerie 1923–1938

Otto Kallir wurde 1894 in eine großbürgerliche Wiener Familie hineingeboren. Bereits sehr früh interessierte er sich für Kunst und gründete 1919 den Verlag Neuer Graphik (später Johannespresse), der neben literarischen Drucken auch aufwendig gestaltete Ausgaben mit Originalen herausgab. Als Otto Kallir 1923 die Neue Galerie begründete, widmete er seine erste Ausstellung dem Werk Egon Schieles. Damit setzte er auf jenen Künstler, dessen Arbeiten ihn zeitlebens beschäftigen sollten, und legte zentrale Parameter für die Galerie fest – die Förderung der Avantgarde und den Mut zum Experiment. Rasch entfaltete die Neue Galerie eine rege Ausstellungstätigkeit und prägte das Wiener Kunstgeschehen. Dem Debüt schlossen sich in den darauffolgenden 15 Jahren 127 weitere Ausstellungen an. Otto Kallir bot eine Plattform für Künstler wie Egon Schiele, Gustav Klimt, Richard Gerstl und Oskar Kokoschka ebenso wie für Vertreter der Zwischenkriegsmoderne, darunter Alfred Kubin, Oskar Laske und Otto Rudolf Schatz. Künstler der Berliner Secession lassen sich ebenso im Programm finden wie internationale Positionen von van Gogh, Munch und Kandinsky. Große Erfolge verzeichneten auch Kallirs Themenausstellungen zu russischer Kunst, zu europäischer Grafik oder den italienischen Futuristen. Bezeichnend für seine breit gefächerten Interessen waren jene Ausstellungen, die sich vom gewohnten Format der Kunstschau abhoben. Das belegen etwa die Präsentation zum schwedischen Entdeckungsreisenden Sven Hedin 1935, mehrere Ausstellungen zur Fotografie oder die permanente Präsentation des Zimmers des Schriftstellers Peter Altenberg ab 1929. Kallirs Kooperation mit dem Hagenbund führte zu einer Reihe bemerkenswerter Ausstellungen, die sowohl in der Neuen Galerie als auch in der benachbarten Ausstellungshalle des Hagenbundes, gezeigt wurden.

Am 14. Februar 1938 eröffnete Otto Kallir die Schau „Die Künstlerfamilie Ender“. Es sollte seine letzte sein. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Dritte Reich im März 1938 flohen Otto Kallir und seine Familie im Juni 1938 zunächst in die Schweiz.

Die Neue Galerie im Nationalsozialismus

Vor seiner Flucht überschrieb Otto Kallir die Galerie an seine langjährige Mitarbeiterin Vita Künstler – es war der seltene Fall einer „freundlichen Arisierung“. Die Kunsthistorikerin Vita Künstler hatte seit 1924 mit Otto Kallir zusammengearbeitet und es gelang ihr, die Neue Galerie während des NS-Regimes weiterzuführen und für ihn zu bewahren. Von 1938 bis 1943 fanden zehn Ausstellungen statt. Die Kunst vieler der bis dahin im Programm vertretenen Künstler galt als „entartet“, darunter Kokoschka, Schiele und Gerstl. Vita Künstler konzentrierte sich auf Präsentationen mit Vertretern der Zwischenkriegsmoderne sowie Werken des 19. Jahrhunderts. Sie zeigte Ausstellungen mit Titeln wie „Barock der Ostmark“ und „Das Wiener Heim vom Empire bis zur Jetztzeit“. Trotz eines reduzierten Ausstellungsprogramms führte Künstler den Kunsthandel weiter. Private Sammler:innen zählten ebenso zu ihren Kund:innen wie Kunsthandlungen und Museen. Ab 1943 blieb die Neue Galerie aufgrund der Kriegsereignisse für Ausstellungen geschlossen.

Emigration nach New York

Im Juni 1938 floh Otto Kallir mit seiner Familie aus Österreich. In Paris eröffnete er die Galerie St. Etienne – der Name in Anlehnung an den Wiener Stephansdom. Da seine Familie keine Aufenthaltsgenehmigung für Frankreich erhielt, emigrierte sie 1939 schließlich in die USA, wo Kallir eine Dependance der Pariser Galerie eröffnete. Er fokussierte in der Folge auf Künstler:innen, die in den USA noch nicht bekannt waren und deren Werk er ins dortige Bewusstsein holen wollte. Die Etablierung der Wiener Moderne in den USA ist das Resultat des Wirkens von Otto Kallir und war begleitet von zahlreichen Ausstellungen und Ankäufen, unter anderem durch das MoMA und das Guggenheim Museum, New York, sowie von einer Reihe viel beachteter wissenschaftlicher Publikationen. Otto Kallir leitete die Galerie St. Etienne bis zu seinem Tod im November 1978. Seine Enkelin Jane Kallir übernahm die Galerie, bis die Galerie-Tätigkeit 2021 schließlich eingestellt wurde. Das Archiv und die Bibliothek befinden sich seither im Kallir Research Institute in New York.

Die Neue Galerie 1945–1954      

Die erste Ausstellung, die Vita Künstler nach dem Krieg zeigte, war programmatisch – „Das unzerstörbare Wien“ wurde am 17. Juli 1945 mit Wiener Veduten eröffnet. Das Ausstellungsprogramm des folgenden Jahrzehntes war bemerkenswert divers und spiegelte die Entfaltung einer neuen Kunst im postnazistischen Österreich wider. Zum einen setzte Künstler auf bereits bewährte Positionen, zum anderen fanden Schauen mit jungen österreichischen und internationalen Künstler:innen statt, die durch Kooperationen mit Otto Kallir und der Galerie St. Etienne, der Österreichischen Kulturvereinigung, dem Französischen Kulturinstitut, dem Art Club und dem United States Information Service (USIS) zustande kamen. Da einige Ausstellungshäuser in Wien noch Kriegsschäden aufwiesen, boten die im Wiener Kunstleben etablierten Räume in der Grünangergasse 1 eine geeignete Alternative für Kooperationen. Die Präsentationen waren von unterschiedlichen Interessen geleitet, bei denen die Entstehung einer neuen Avantgarde, alliierte Kulturpolitik und identitätsstiftende kulturelle Erzählungen ebenso eine Rolle spielten wie rein wirtschaftliche Überlegungen.

Nachkriegsavantgarde und Kulturtransfer

Im Jahr 1947 konstituierte sich in Wien die österreichische Sektion des Internationalen Art Clubs, der bestimmend für die Entwicklung der Nachkriegsavantgarden in Österreich wurde. Unmittelbar nach Kriegsende hatten Künstler diesen Zusammenschluss antifaschistischer Intellektueller in Rom gegründet, mit dem Ziel, die Avantgardekünstler:innen international zu vernetzen.  Für seinen ersten Auftritt in der Öffentlichkeit wählte die österreichische Sektion des Art Clubs die Neue Galerie. Im April 1947 wurden Arbeiten von 28 Künstler:innen gezeigt, darunter Wander Bertoni, Maria Biljan-Bilger, Gerhild Diesner, Ernst Fuchs und Wolfgang Hutter. Eine weitere Ausstellung des Art Clubs in der Neuen Galerie folgte 1948 mit Werken der italienischen Sektion. Es war die erste Schau junger italienischer Kunst seit mehr als zehn Jahren in Wien und zeigte Arbeiten unter anderem von Alberto Burri, Marino Marini und Gino Severini.

Die dritte Ausstellung des Art Clubs in der Neuen Galerie zeigte 1951 in Zusammenarbeit mit dem United States Information Service (USIS) abstrakte Werke von Alexander Calder, einem der renommiertesten US-amerikanischen Künstler der Zeit. Das USIS unterstützte im Rahmen der Soft Power kulturelle Aktivitäten, teilweise finanziert durch den Marshallplan. Die Ausstellung in der Neuen Galerie war beispielhaft für die Kulturpolitik der USA. Dem Katalog ist zu entnehmen, dass das Museum of Modern Art, NY, wesentlich zu ihrem Gelingen beitrug. Dem MoMA kam mit seinem International Program of Circulating Exhibitionseine maßgebliche Bedeutung hinsichtlich eines transatlantischen Kulturtransfers zu. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges sollten die zahlreichen weltweiten Wanderausstellungen der Vermittlung gemeinsamer kultureller und gesellschaftspolitischer Werte dienen.

Rückstellung der Neuen Galerie an Otto Kallir

Otto Kallir und Vita Künstler standen kurz nach Kriegsende in brieflichem Kontakt, er hatte jedoch kein Interesse, die Geschäfte der Neuen Galerie wieder zu übernehmen. Das österreichische Gesetz für arisierte Vermögenswerte sah es vor, dass bis Ende 1948 nicht rückerstattetes Eigentum in den Besitz des Staates übergehen sollte. Vor Ablauf dieser Frist gab Vita Künstler die Neue Galerie offiziell an Otto Kallir zurück, übernahm aber weiterhin die gesamten Galeriegeschäfte. Die beiden vereinbarten Ausstellungskooperationen, die Kallir mit Leihgaben aus New York unterstützte. So kamen in den folgenden Jahren Präsentationen mit Werken von Georges Rouault, Lovis Corinth, Walt Disney und Grandma Moses zustande, die beiden letzteren in Zusammenarbeit mit dem United States Information Service.

Otto Kallirs und Vita Künstlers Zusammenarbeit endete 1952, als sich Künstler aus dem Galeriegeschäft zurückzog. Ihr folgte Otto Kallirs Tochter Evamarie, die von 1952 bis 1954 die Galerie leitete.

Monsignore Otto Mauer

1954 schloss Otto Kallir mit der Erzdiözese Wien einen Untermietervertrag für die vorderen Räume der Galerie ab. Der Katholische Akademikerverband zog ein, eine Institution für Erwachsenenbildung, geleitet von Monsignore Otto Mauer. Der katholische Priester galt als führender Intellektueller des österreichischen Katholizismus und trat als Förderer und Vermittler der Kunst in Erscheinung.  Im November 1954 eröffnete Mauer in der Grünangergasse 1 die Galerie St. Stephan mit einer Ausstellung von Herbert Boeckl. Ein neuer Abschnitt österreichischer Galeriegeschichte, der an Kallirs Förderung der Avantgarde und seinen Mut zum Experiment anknüpfte, begann.

Die Schließung der Neuen Galerie – ein Ende und ein Ausblick

Otto Kallir behielt nach 1954 einige der Büroräumlichkeiten in der Grünangergasse für sich und nutzte sie bei seinen gelegentlichen Besuchen in Wien. 1973, kurz vor Mauers unerwartetem Tod, überschrieb ihm Kallir die Galeriekonzession und die Neue Galerie hörte offiziell auf zu existieren. Die Ordner und Unterlagen wurden der Österreichischen Galerie Belvedere übergeben, die den gesamten Archivbestand aufgearbeitet und online zugänglich gemacht hat. Damit entsprachen sie Otto Kallirs Wunsch, das Gedächtnis der Galerie zu bewahren und die Erinnerung an die Neue Galerie aufrechtzuerhalten.

Die Ausstellung „Grünangergasse 1. Otto Kallir und die Neue Galerie in zeithistorischen Dokumenten. 1923–1954“ ist bis zum 27. Jänner 2024 in der Galerie nächst St. Stephan Rosemarie Schwarzwälder, Grünangergasse 1, 1010 Wien zu sehen. Sie entstand auf Anregung von Jane Kallir, der Enkelin Otto Kallirs. Das Belvedere sowie das Kallir Research Center, NY, haben die Präsentation mit ihren Leihgaben ermöglicht. Ausstellungsdisplay: Matthias Klos.

Zur Ausstellung erscheint eine 56-seitige Broschüre mit Abbildungen und Texten von Jane Kallir, Stefan Lehner, Monika Mayer und Veronika Floch.

 

Literatur:

Günter Bischof und Peter Ruggenthaler, Österreich und der Kalte Krieg. Ein Balanceakt zwischen Ost und West, Wien 2022, S. 89–102.

Bernhard A. Böhler, Monsignore Otto Mauer. Ein Leben für Kirche und Kunst, Wien 2003.

Robert Fleck, Avantgarde in Wien. Die Geschichte der Galerie nächst St. Stephan Wien 1954–1982, Wien 1982.

Hochschule für angewandte Kunst, Otto Mauer 1907–1973, Symposium, Wien 1993.

Oliver Rathkolb, Die paradoxe Republik: Österreich 1945 bis 2015, Wien, erweiterte Auflage 2015, S. 315–351.

Günter Rombold, Otto Mauer. Über Kunst und Künstler, Wien 1993.

Anmerkung der Autorin: Als Otto Nirenstein geboren, legte er 1933 den antisemitisch konnotierten Namen Nirenstein ab und nahm den seit vielen Generationen in seiner Familie bestehenden hebräischen Nachnamen Kallir an. In dem vorliegenden Text wird vereinheitlichend der Name Otto Kallir verwendet.

Veronika Floch ist Kunsthistorikerin und hat an mehreren Kulturinstitutionen zeitgenössischer Kunst gearbeitet, darunter das MAK – Museum für angewandte Kunst, tba21–Thyssen Bornemisza Stiftung, Lentos Linz und Haus am Waldsee, Berlin. Im Rahmen ihrer Dissertation im Fach Geschichte an der Universität Wien forscht sie gegenwärtig zu europäischer Identitätsbildung, Westernisierung und Kulturtransfer im Kalten Krieg. Seit 2020 arbeitet Veronika Floch in der Galerie nächst St. Stephan Rosemarie Schwarzwälder.

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