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Shelly Kupferbergs biografische Annäherung an ihren Urgroßonkel Isidor Geller
„Das brutale Ende hat seine Spuren vernichtet“
Wie kamen Sie darauf, dass die Geschichte Ihres Urgroßonkels eine besondere ist und als Buch erzählt werden muss? War Isidor schon immer faszinierender Gesprächsstoff in Ihrer Familie?
Mein Wiener Großvater Walter erzählte, nein, spielte uns stets temperamentvoll vor, wie er als Jugendlicher in den 1930er Jahren jeden Sonntag in das Palais seines Onkels Isidor zum Mittagessen gehen musste, um dort zu „performen“. Er war ein sehr guter Schüler und ein Jahreszahlengenie. Aber viel mehr wusste ich eigentlich nicht, außer dass mein Urgroßonkel Isidor sehr wohlhabend war und von den Nazis sofort nach dem „Anschluss“ Österreichs verhaftet wurde. Viele Jahre nachdem mein Großvater bereits verstorben war, moderierte ich eine internationale Tagung zu Nazi-Raubkunst, Provenienzforschung und „20 Jahre Washingtoner Abkommen“ in Berlin. Und plötzlich erinnerte ich mich: Da gab es doch diesen Isidor in Wien, der angeblich in einem Palais lebte und sehr betucht gewesen sein soll. Was für Kunst hing eigentlich an den Wänden dieses Palais? Ich wusste, dass Isidor aus ärmlichsten Verhältnissen stammte – wie war er zu so viel Geld gekommen? Die Recherche hat ein detektivisches Gen in mir erweckt, ich wurde immer neugieriger, je mehr ich über ihn herausfand, und fing an, sein Leben zu rekonstruieren. Von der absoluten Armut im ostgalizischen Nirgendwo bis in die Donaumetropole zum Lebemann und erfolgreichen Kommerzialrat. Das war nicht ganz einfach, es gab zunächst wenig über ihn, und so musste ich, um an Informationen heranzukommen, mir ständig überlegen, wo ein Mensch wohl überall Spuren hinterlassen haben könnte. Was mich bei alledem besonders interessierte: Wie muss jemand beschaffen sein, der einen solchen Aufstiegswillen verspürt? Und so sehr auf das Inszenatorische Wert legt? Ich hatte ursprünglich vor, ein Radiofeature über meine Spurensuche zu machen. Aber das Material wurde mehr und mehr ...
Beschreiben Sie uns Isidor bitte kurz. Und gibt es etwas, was Sie ihn gern hätten direkt fragen können?
Soweit ich seinen Charakter anhand des wenigen, was sich von ihm selbst erhalten hat, rekonstruieren kann, glaube ich, dass er – gelinde gesagt – kein reiner Sympathieträger war. Fest steht: Er war unglaublich stolz auf seinen sozialen und finanziellen Aufstieg, sicherlich zu Recht. Er schien ein sehr autoritärer, herrischer Typ gewesen zu sein, trug gerne Verantwortung als Leiter diverser Wirtschaftsunternehmen, aber liebte eben auch das Schöne, die Bildung und den Genuss. Gleichzeitig hatte er auch etwas Rebellisches und war sehr großzügig, all das macht ihn für mich wiederum sympathisch. Vor allem liebte er die Oper – also auch hier wieder: die Inszenierung. Gerne hätte ich ihn gefragt, warum er die Zeichen der Zeit verkannt hat oder verdrängen wollte. Warum ist er nicht rechtzeitig geflohen, bevor die Nazis in Österreich einmarschierten? In den Kreisen, in denen er sich bewegte, wird er sicherlich gewarnt worden sein. Aber offenbar hat er all das nicht ernst genug genommen und war sich sicher, ihm würde nichts passieren. Bitter.
Stellte sich im Laufe der Spurensuche eine Art Erkenntnis ein, welcher Leitgedanke trieb Sie an?
Bei all meinen Recherchen und Erkenntnissen über Isidors Leben hatte ich das Gefühl, ich gebe ihm eine Geschichte – SEINE Geschichte zurück. Das brutale und abrupte Ende seines Lebens hat auch alle seine Spuren vernichtet. Diese wieder ans Licht zu bringen, sichtbar zu machen, zu erzählen, hat für mich fast etwas Tröstliches – wobei sich das Grauen und Leid natürlich nicht wiedergutmachen lassen. Aber es ist eine späte Anerkennung seines Lebensweges und seiner Träume. Darüber hinaus macht seine Lebensgeschichte vieles über die damalige Zeit deutlich: einen unbedingten Anpassungswille, das Vertuschen der eigenen Herkunft, das unbedingte Dazugehörenwollen, der Wunsch nach Anerkennung. Ich denke, diese Themen sind zeitlos. Aber es geht auch darum, welche Bedeutung Geschichten haben können. Für mich, aus einer jüdischen Familie kommend, in der nicht vieles überlebt hat, spielen sie eine enorm wichtige Rolle. Sie sind kostbar. Sie sind eine Art Erbe.
Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen?
Ich bin zunächst über das Österreichische Staatsarchiv fündig geworden. Die Nazis waren ja unglaublich gründlich, wenn es um Bürokratie ging ... Ich stieß sofort auf Isidors „Vermögenserklärung“, also die Auflistung seines kompletten damaligen Besitzes, die jeder Jude, jede Jüdin zu tätigen hatte. Anhand derer konnte ich bereits einiges rekonstruieren: wie und wo er wohnte, welche Kunst er bevorzugte, was sich alles in seinem Haushalt befand. In der Vermögenserklärung waren auch zwei Eheringe verzeichnet. Mein Großvater erzählte immer, Isidor habe lediglich „Mätressen“ gehabt und sei unverheiratet gewesen. Das stimmte also nicht. Ich habe in alten Trau- und Scheidungsbüchern seine Exfrauen ausfindig gemacht. Im Archiv der Universität Wien entdeckte ich seine alten Studienbücher, die mir verrieten, auf welche Schulen er in Galizien gegangen war und wie sein späteres Studium verlief. Ich habe auch alte Kurlisten gefunden, aus denen hervorgeht, in welchen Orten und Hotels und in welcher Begleitung er Urlaub machte. Parallel zum Archivmaterial suchte ich nach seinem verschollenen Besitz. Viel konnte ich nicht aufspüren. Lediglich ein kleines Büchlein aus seiner ausufernden Sammlung. Das befand sich wiederum in Nürnberg in einer Bibliothek, deren Geschichte ich auch unbedingt erzählen wollte: die sogenannte „Stürmer- und Streicherbibliothek“ des NSDAP-Funktionärs Julius Streicher, Gründer und Herausgeber des antisemitischen Hetzblattes „Der Stürmer“. In der Wohnung in Tel-Aviv, die einst meinen Großeltern gehörte und weiterhin im Familienbesitz ist, fand ich auf dem Hängeboden zudem zahlreiche Briefe und diverse persönliche und offizielle Dokumente und Fotos aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das war der Auslöser für das Schreiben, denn die Briefe meiner Familie aus mehreren Jahrzehnten, begonnen um 1920, eröffneten eine neue, eine persönliche Sicht auf vieles, auch das Leben Isidors in Wien.
Was war das Überraschendste, auf das Sie gestoßen sind?
In den Familienbriefen wurde kurz von Isidors letzter Geliebten berichtet – die wiederum ein weiteres Fenster in meiner Geschichte aufstieß. Da hieß es, sie wäre eine Schauspielerin und Sängerin gewesen, die später in die USA ging. Mehr stand da nicht, immerhin: Ihr Name wurde erwähnt. Also begann ich, nach ihr zu forschen, und staunte nicht schlecht, als ich die ganze Wahrheit über ihr Leben erfuhr. Sie wurde zu einem Hollywood-Star in den 30er-, 40er-Jahren. Darauf begann ich, ihr Leben zu recherchieren, denn auch Ilona stammte aus ärmlichsten Verhältnissen und hat sich ehrgeizig hochgearbeitet. Ich glaube, das verband die beiden in gewisser Weise. Und beide hatten durchaus leicht hochstaplerische Züge an den Tag gelegt – um ihrer Karriere willen. Das machte die beiden Figuren noch interessanter für mich.
Welche Aktualität verbirgt sich in dem Stoff bis heute?
Aktualität insofern, als vieles noch nicht erzählt ist. Und dass sich Geschichte anhand einzelner Menschen und Biografien noch einmal ganz anders darstellt, sie greifbar macht. Ich konnte im Laufe meiner Recherche sehr klar nachvollziehen, wie der Akt der Vernichtung sich anhand bürokratischer Prozesse manifestiert. Das weiß man alles, aber wenn man es anhand eines Lebens schwarz auf weiß vor Augen hat, wird es plastisch und berührt ganz anders. Und mir wurde auch hier wieder einmal bewusst, wie sehr die Schatten der Vergangenheit bis ins Hier und Jetzt ragen. Ich fand bei meinen Recherchen ganze Listen von Dingen, die in den Archiven und Depots von Museen lagern und von denen man annimmt, dass es sich um von den Nazis geraubte Dinge handelt. Wem sie gehörten und heute gehören könnten, bleibt ein großes Rätsel.
Sie sind freie Journalistin, Moderatorin und nun auch Autorin. Wie fühlt sich das an?
Der Schreibprozess war für mich unglaublich beeindruckend und beglückend. Besonders faszinierend fand ich es, in Wien zu recherchieren und gleichzeitig zu versuchen, mit den Augen Isidors und meines Großvaters durch die Stadt zu gehen. Was haben sie gesehen, wie haben sie empfunden? Vieles in Wien sieht ja noch genau so aus wie vor 100 oder mehr Jahren. Ich bin alle Wege abgelaufen, die die Figuren meines Buches zurückgelegt haben könnten. Und habe es glücklicherweise geschafft, in das Palais und die Wohnräume meines Urgroßonkels zu kommen, bin seinen Spuren gefolgt – bis hin zum Friedhof. Auf der Suche nach seinem Grab geschah dann etwas Sonderbares, das der Geschichte eine weitere Dimension gab: Es war ein wunderbarer Sommertag, ich war ganz allein auf diesem großen, schönen Jüdischen Friedhof und ließ meinen Gedanken freien Lauf. Wundersamerweise erwartete mich bereits jemand an Isidors Grab – ein Reh. In diesem Bild steckte so viel Poesie und Surreales. Für all diese Dinge Worte zu finden, dies alles in eine literarische Form zu bringen, war in der Tat eine neue Erfahrung für mich. Als Journalistin bin ich es gewohnt zu schreiben. Journalistische Texte fallen mir in der Regel sehr leicht. Allerdings ist das literarische Schreiben völlig anders. Eine Art anderer Bewusstseinszustand. Woher stammt das alles, was ich da aufgeschrieben und später gelesen hatte? Es war ein fiebriges Schreiben, ein Mysterium. Ich wusste vorher nicht, dass mir das Schreiben einen solchen Spaß bereitet und so viel aus mir hervorholt.
© Diogenes Verlag AG Zürich
Hinweis: Shelly Kupferberg präsentiert ihr Buch „Isidor“, das im Diogenes Verlag erschienen ist, am 13. März um 18.30 Uhr im Wien Museum. Anmeldung erfolderlich!
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