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Gabriel Kuhn, 31.10.2022

Vagabundieren in Wien

Zwischen Wanderleben und Obdachlosigkeit

1930 war in Wien ein „Internationaler Vagabundenkongress“ geplant, der letztlich nicht zustande kam. „Vagabundieren“ war in Wien aber schon länger ein heiß diskutiertes Thema. Und es steht im Mittelpunkt eines neuen Sammelbandes, der die historischen wie aktuellen Facetten unterschiedlicher „vagabundierender“ Randgruppen beschreibt.

Der Duden verortet den Ausdruck „Vagabondage“ für „Landstreicherei“ und „Herumtreiberei“ in Österreich. Es ist also passend, wenn im Wiener Sonderzahl Verlag ein Buch mit dem Titel Vagabondage. Historische und zeitgenössische Facetten des Vagabundierens in Wien erscheint.  „Vagabundieren“ bleibt dabei ein vager Begriff. Im Buch wird er in Verbindung gebracht mit „Migrieren, Nomadisieren, Umherziehen“, historisch auch mit unstetem Broterwerb und Heimatlosigkeit. Er vereint letztlich alle Menschen, die auf permanenter Wanderschaft sind, mit unterschiedlichen Zielen und Motivationen.

Herausgegeben von Andreas Pavlic und Eva Schörkhuber vereint Vagabondage mehrere Beiträge, die eine Kulturgeschichte des Wanderlebens in und um Wien ergeben – wobei durchaus auch weiter ausgeholt wird. In den Texten zur Vagabundenbewegung der 1920er und 30er Jahre stoßen wir beispielsweise auf die in Deutschland gegründete „Bruderschaft der Vagabunden“ und den Vagabundenkongress von Stuttgart 1929. In späteren Beiträgen werden Brücken geschlagen vom historischen Wanderleben zu Straßenmusik und Obdachlosigkeit heute, zur Stadtzeitung Augustin und zu Plänen für ein Migrationsmuseum in Wien.

Vagabundieren wurde in Wien nicht immer gutgeheißen. Bereits im 15. Jahrhundert gab es eine Verordnung, die Betteln nur mit einem behördlich ausgestellten Bettelzeichen erlaubte. Im 16. Jahrhundert gab es eine Stadtguardia, die unter anderem für die Vertreibung von „herrenlosem Gesinde, Banditen und müßiggehenden Spielern“ sorgen sollte. 1873 kam es zu einem Gesetzeserlass „wider Arbeitsscheue und Landstreicher“, der Haftstrafen von bis zu drei Monaten vorsah. Im Wiener Extrablatt stand am 18. Mai 1875 zu lesen: „Wenn man in Betracht zieht, daß Wien nicht nur den Zentralpunkt für Politik, Handel und Verkehr, sondern auch für Landstreicher aller Art bildet, und wenn man bedenkt, das die ganze Thätigkeit unserer Polizeibehörden durch die Undurchführbarkeit des Vagabunden-Gesetzes paralisirt wird, so wird man leicht einsehen, daß die Hauptstadt Wien dem Vagabunden-Unwesen wehrlos preisgegeben ist, gleich dem letzten Bauerndorf.“

Trotz aller Widerstände blieb Wien als Hauptstadt der Habsburgermonarchie ein Anziehungspunkt für „Vagabunden“. Menschen aus allen Himmelsrichtungen und Gesellschaftsschichten kamen in die Stadt, verließen sie und kehrten wieder in sie zurück. „Vagabunden“ fühlten sich im kulturellen Schmelztiegel wohl.

Das macht eine Frage, die zu Beginn des Buches aufgeworfen wird, besonders interessant: Warum fand 1930 in Wien kein Vagabundenkongress statt, obwohl ein solcher beim Kongress in Stuttgart im Jahr zuvor angekündigt worden war? Die Frage wird in Vagabondage nicht restlos aufgeklärt, doch ein Text von Mitherausgeber Pavlic und Historiker Peter Haumer legt nahe, dass dem Kongress Spannungen zwischen drei zentralen Figuren der Vagabundenbewegung im Wege standen: Gregor Gog, Gründer der „Bruderschaft der Vagabunden“ und Initiator des Kongresses von Stuttgart; Hugo „Sonka“ Sonnenschein, nahe Brünn geborener Dichter, der 1907 nach Wien zog und sich mit den „Vagabunden“ eng verbunden fühlte; und Rudolf Geist, aus Mähren stammender Schriftsteller, der in sozialistischen Kreisen verkehrte und beim Vagabundenkongress in Stuttgart eine aufsehenerregende Rede mit dem Titel „Der Kunde als revolutionärer Agitator“ gehalten hatte.

Als Gog sich 1930 in Wien niederließ, um mit den Kongressvorbereitungen zu beginnen, hatte er große Sympathien für die Sowjetunion entwickelt, die der Freidenker Sonnenschein und der anarchistisch orientierte Geist nicht teilten. Die Vermutung liegt nahe, dass sich das Trio, das wohl für die Organisation des Kongresses hauptverantwortlich gewesen war, inhaltlich überwarf. Am 6. Mai 1930 verkündete das Neue Wiener Journal, dass „einer der Propagatoren des Vagabundismus, der Stuttgarter Gregor Gog, die Nachricht verbreitet, daß der Wiener Pfingstkongreß der Landstreicher und Kunden abgesagt sei und um diese Zeit nicht stattfinden werde.“

Zu Treffen von Umherziehenden kam es in Wien trotzdem. Im Juli 1929 versammelten sich rund 2.500 Wandergesellen, sogenannte Tippler, anlässlich des Internationalen Sozialistischen Jugendtreffens in der Stadt. Sie wurden freundlich empfangen und untergebracht „in der Wärmestube auf dem Buchsbaumplatz in Favoriten, in der Erdbergstraße im Bezirk Landstraße, in der Burghardigasse in der Brigittenau, in der Robilegasse in Rudolfsheim, in der Seebockgasse in Ottakring sowie in einer Schule in der Nikolsdorfergasse“. Am 13. Juli 1929 bedankten sich die Tippler in der Arbeiter-Zeitung bei der Wiener Bevölkerung:

„Nach all unseren Erfahrungen in anderen Ländern und Städten sind die Kunden und Tippler, die zu Fuß zum Jugendtreffen kamen, am allerfreundlichsten in Wien aufgenommen worden. Wofür sich der internationale Sepp und die internationale Friedel im Namen sämtlicher Kunden und Tippler bedanken. Zu bemerken ist noch, dass die Kundenveranstaltung am Buchsbaumplatz zu unser aller Zufriedenheit ausgefallen ist und wir danken auch dem Publikum für ihr zahlreiches Erscheinen. 15.000 Menschen waren dort.“

Auch anlässlich der Arbeiterolympiade 1931 kamen viele Wandernde nach Wien. Pavlic und Haumer beschreiben die Szenerie so: „Im Stadtbild Wiens zeigten sich braun gebrannte Burschen und Mädeln, bepackt mit Tornistern, Rucksäcken, zuweilen auch mit Kochgeschirr behängt. Sie zogen aus allen Windrichtungen durch die Straßen zum Olympiade-Sekretariat, wo sie sich zu ganz beträchtlichen Gruppen zusammenscharten. Das Olympiade-Sekretariat hatte für sie, die oft monatelang auf der Wanderschaft waren – es waren auch zwei Letten darunter, die seit 15. April unterwegs waren –  eigene Massenquartiere geöffnet, wie die Schule in der Nikolsdorferstraße oder auf dem Columbusplatz, in denen die Tippler*innen untergebracht wurden. Bis zum 18. Juli waren bereits zwölfhundert Tippler*innen in Wien, ‚zumeist junge, wanderlustige Burschen, die arbeitslos sind, brave Parteigenossen, die bei dem großen proletarischen Fest dabei sein wollen. ... Ihr Sport ist das Wandern, zu dem sie die Wirtschaftskrise verurteilt hat.‘ (Arbeiter-Zeitung, 19. Juli 1931) Wegen der wachsenden Zahl der Tippler*innen wurde die Wärmestube in der Quellengasse, eine Schule in der Phorusgasse und eine weitere am Czerninplatz geöffnet und als Quartiere zur Verfügung gestellt.“

Diskussionen über „Vagabunden“ wurden damals ähnlich geführt wie heute. Für manche war das Wanderleben eine Notwendigkeit, sie hatten kein Zuhause und keine feste Arbeit, zu romantisieren gab es dabei nichts. Für andere war das Vagabundieren Resultat einer freien Entscheidung, eines Wunsches, bürgerlichen Zwängen zu entkommen und Momente der Freiheit auf der Landstraße zu genießen. Dieses Spannungsverhältnis zwingen Zwang und Selbstbestimmung besteht immer noch.

Es gab wiederholt Versuche, die „Vagabunden“ zu politisieren. Anarchisten sprachen gerne vom „fünften Stand“, den die anarchistische Wiener Monatsschrift Contra 1931 als Sammelbecken der „Überflüssigen aus den verschiedensten Gesellschaftsschichten“ beschrieb. Die Versuche der politischen Organisierung der „Überflüssigen“ scheiterten immer wieder, doch eine sozialrevolutionäre Aura haftet dem Vagabunden-Dasein bis heute an.

Die Offenheit, mit der Umherziehende in den 1920er und 30er Jahren in Wien empfangen wurden, nahm mit dem Austrofaschismus ein Ende. Sinnbildlich dafür findet sich in Vagabondage ein Zitat des Rechtsanwalts Heinrich Foglar-Deinardtstein, der nach der austrofaschistischen Machtübernahme im Rat der Stadt Wien den Stand der freien Berufe vertrat. Er erklärte: „Die seit Jahren stets zunehmende Wirtschaftskrise hat als Begleiterscheinung ein Bettler- und Landstreicherunwesen gezuchtet, das zu einer wahren Landplage geworden ist. Die Gewohnheit, von milden Gaben zu leben, hat diese Klasse von Menschen der Arbeit völlig entwöhnt und viele von ihnen zu arbeitsscheuen Individuen gemacht.“

Für die Nazis zählten die „Vagabunden“ zu den „Asozialen“, sie wurden verfolgt, eingesperrt und ermordet. Eine Vagabundenbewegung, wie es sie vor dem Faschismus gegeben hatte, kam nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr auf. Doch die Faszination am Wanderleben bleibt. Das belegt nicht zuletzt der letzte Beitrag in Vagabondage, in dem der Historiker Georg Fingerlos (buchstäblich) dem Wanderweg der „Warden“ folgt, einer Gruppe von 156 Heimatlosen, die 1928 in einem Camp in der Lobau lebten und sich entschlossen, von dort nach Äthiopien zu wandern. Dort, so glaubten sie, würde sie ein besseres Leben erwarten. Doch die Warden kamen nicht weiter als bis nach Kärnten: Die Italiener wollten sie nicht über die Grenze lassen und aus Äthiopien erreichte sie die Nachricht, dass sie dort nicht erwünscht seien. Die Wanderung endete anders als erhofft. So geschieht es des Öfteren.

Das Buch Vagabondage. Historische und zeitgenössische Facetten des Vagabundierens in Wien (Hg. Andreas Pavlic und Eva Schörkhuber) ist vor kurzem im Sonderzahl Verlag erschienen.

Es versammelt Beiträge von Averklub Collective, Lisa Bolyos, Ljubomir Bratić, Natalie Deewan, Enesi M., Georg Fingerlos, Peter Haumer, Anna Leder, Alexander Machatschke, Elena Messner, Andreas Pavlic, Maren Rahmann, Georg Rosenitsch, Eva Schörkhuber und Christa Stippinger.

Gabriel Kuhn, geboren in Innsbruck, lebt als Autor und Übersetzer in Schweden. Jüngste Buchpublikation: Die Linke in Schweden (Wien: Mandelbaum, 2021). Blog: www.lefttwothree.org.

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