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Andreas Brunner, 20.2.2023

Wie Dorothea Neff ihre Freundin Lilli Wolff vor den Nazis versteckte

Mutig für zwei Leben

Am 21. Februar jährt sich der Geburtstag von Dorothea Neff (1903 – 1986) zum 120. Mal. Sie war nicht nur eine der größten Schauspielerinnen der Nachkriegszeit, sondern auch eine mutige Frau, die mit ihrer Liebe der jüdischen Modeschöpferin Lilli Wolff das Leben rettete. Mehr als drei Jahre versteckte Dorothea Neff ihre Freundin in ihrer Wohnung in der Annagasse. Wären sie entdeckt worden, hätte es beiden das Leben gekostet. 

Selten ist von Liebe die Rede, wenn die Geschichte von Dorothea Neff und Lilli Wolff erzählt wird. Von Mut und menschlicher Größe, von Nächstenliebe und Opferwille wird gesprochen, aber nicht von Liebe. Selbst die Freundschaft der beiden Frauen wird in biografischen Darstellungen kleingeredet, wenn der Neff-Biograf Peter Kunze über ihre gemeinsame Zeit in Köln von wenig mehr als vom „herzlichen Kontakt mit Lilli Wolff“ erzählt. Hier wirkt die Diffamierung einer Liebe nach, die es auch Dorothea Neff unmöglich machte, offen über ihr Verhältnis zu Lilli Wolff aber auch jenes mit Eva Zilcher, mit der sie bis zu ihrem Tod zusammenlebte, zu sprechen.

Fast ihr ganzes Leben lang waren Liebesbeziehungen zwischen zwei Frauen strafrechtlich verfolgt, drohten Gefängnis, Ausgrenzung und gesellschaftliche Ächtung. So schwiegen sie: Dorothea Neff, Lilli Wolff und Eva Zilcher sprachen nie öffentlich über ihre Beziehung oder wählten Worte der Camouflage, die Eingeweihte verstanden und richtig lesen konnten. Oder sie äußerten sich nur im privaten Bereich, wie Eva Zilcher in einem Brief an Rosa Jochmann mehr als ein Jahr nach dem Tod von Dorothea Neff: „Seit dem 27. Juli 86 an dem mein wirkliches Leben zu Ende ging, habe ich immer wieder versucht, Sie zu erreichen. […] Ich bin wie amputiert. Ohne diesen einzigartigen Menschen (42 Jahre Verbundenheit...) ist alles sinnlos geworden. […] Aber jetzt ‚lebe‘ ich halt so dahin... Wozu weiss ich nicht.“

Dorothea Antonie Neff wurde am 21. Februar 1903 in München in ein bürgerliches Elternhaus geboren. Sie interessierte sich schon früh fürs Theater und studierte zunächst in München, wo sie 1921 auch debütierte. Ihre Ehe mit dem Antiquitätenhändler Max Schmidt verlief unglücklich, weil sich dieser, hoch verschuldet noch im ersten Ehejahr umbrachte. Diese Ehe sollte sich später noch als nützlich erweisen. Auch für die Abwesenheit männlicher Partner in Dorothea Neffs Leben fand der Biograf Peter Kunze – die Frauenbeziehungen ignorierend – eine passende Erklärung: „Sie wollte nicht mehr heiraten. Ihr Freund war das Rollenbuch, ihr Verhältnis die Präzision, ihr Wegbegleiter die Einsamkeit.“ Nach Stationen in Gera, Aachen und München wurde Dorothea Neff in Köln engagiert, wo sie 1934 Lilli Wolff kennen und lieben lernte.

Wilhelmine „Lilli“ Wolff wurde am 14. Mai 1896 in Köln in eine jüdisch-orthodoxe Familie geboren und führte dort seit 1920 mit ihrer Freundin Meta Schmitt einen Modesalon. Im Jahr 1932 begann auch Martha-Maria „Mati“ Driessen für das florierende Atelier mit bis zu 40 Mitarbeiter:innen zu arbeiten. Lilli Wolff und Dorothea Neff begegneten sich in einer Zeit, als nach der Machtergreifung der Nazis 1933 immer mehr Kundinnen den erfolgreichen Salon der „Jüdin“ Wolff zu meiden begannen. Nach dem Novemberpogrom 1938 wurde sie enteignet und der Modesalon ihrer Geschäftspartnerin Meta Schmitt als Alleineigentümerin zugesprochen, die sie aber gemeinsam mit Martha Driessen weiterhin unterstützte. Dorothea Neff kam Anfang September 1939 nach Wien und fand rasch eine Wohnung in der Annagasse 8. Wann genau Lilli Wolff hier eintraf, ist unklar, unterschiedliche Quellen nennen September 1939 bis zum Frühjahr 1941.  Lilli Wolff fand ein Untermietzimmer bei einer jüdischen Familie in der Ferdinandstraße im zweiten Bezirk. „In der kleinen Wohnung der Familie Blum hausten acht Juden in drei kleinen Zimmern. Lilli verbrachte nur die Nacht bei den Blums, tagsüber war sie bei Dorothea Neff in der Annagasse“,schrieb Nadine Hauer. Bis sie im Oktober 1941 den Deportationsbescheid erhielt.

Zunächst bereitete sich Lilli Wolff auf die Reise ins Ungewisse vor: „Es hieß, man dürfte maximal 20 Kilo Gepäck mitnehmen. Dorothea Neff besorgte eine Reiseapotheke, einen Petroleumkocher, Schaftstiefel, alles Dinge, von denen man damals naiverweise annahm, sie könnten den ‚Verschickten‘ das Leben erleichtern.“ Ausführlich beschrieb Nadine Hauer in ihrem ersten Bericht die Bemühungen der Freundinnen, dem Unvermeidlichen einen Sinn zu geben. „Wir bereiteten alles vor, in einem seltsamen, ohnmächtigen Fatalismus“, erzählte Dorothea Neff später ihrem Biografen Peter Kunze. Während sie „das Gepäck abwogen, um die Gewichtsgrenze nicht zu überschreiten, kam der Moment, in dem Dorothea Neff, als sie ihrer Freundin Lilli in das graue, schmale Gesicht sah, plötzlich sagte: ‚Nein, räum‘ alles wieder weg. Du wirst nicht fahren. Du tauchst bei mir unter.‘“Es waren just jene Tage, an denen am 24. Oktober 1941 das Verbot des freundschaftlichen Kontakts zwischen „Ariern“ und Juden in Kraft trat.

Der Entschluss mag schnell getroffen gewesen sein, die daraus erwachsenden Konsequenzen waren im Herbst 1941 nicht absehbar. Über dreieinhalb Jahre sollte es bis zur Befreiung am 9. April 1945 dauern – Jahre, die geprägt waren von der ständigen Angst vor Entdeckung, der Enge des Verstecks, aber auch den Einschränkungen im täglichen Leben, die die Beziehung enorm belasteten. Unter den Bewohner:innen in der Ferdinandstraße 4 streute Dorothea Neff das Gerücht, dass Lilli Wolff verschwunden sei und möglicherweise Selbstmord begangen habe. Wenige Tage später wurde die gesamte Familie Blum deportiert. Die Wohnsituation bei Dorothea Neff war günstig. Zwar lebte auf der 1. Stiege des Barockhauses ein fanatischer Nationalsozialist, auf der 2. Stiege, auf der Dorothea Neff im 1. Stock wohnte, herrschte ein nazifeindliches Klima. „Diese gesamte 2. Stiege hielt jedenfalls ihrer Überzeugung und ihrem Glauben an Österreich auch die Treue. […] Man bestärkte sich gegenseitig mit Worten und vielsagenden Blicken in der Hoffnung, daß dieses schreckliche Zwischenspiel nicht lange dauern werde“, erinnerte sich später der Arzt und Psychiater Erwin Ringel, der als Medizinstudent im 4. Stock über Dorothea Neff lebte. Um keinen Verdacht zu erwecken, konnte sich Dorothea Neff nicht gänzlich einem sozialen Leben mit ihren Theaterkolleg:innen verschließen und musste diese manchmal auch zu sich einladen. Waren Gäste im Haus, musste sich Lilli im Schlafzimmer verstecken. Zudem gab es die „kleine ‚Pawlatschen‘, die sie für Notfälle als Versteck vorgesehen hatten.“ Eine „Nische führte in den Lichthof und war mit einem Vorhang verdeckt. Den Routiniers der Gestapo wäre das Versteck aber nicht verborgen geblieben.“ Der Hausmeisterin erzählte Dorothea Neff, dass Lilli Wolff eine Freundin aus Köln sei, die dort ausgebombt worden war und die sie ab und zu besuchen würde.

Eine „Freundin aus Köln“ 

Im Juli 1944 bekam Lilli Wolff starke Schmerzen in der Brust. Es waren nicht die üblichen Magenschmerzen, die Lilli Wolff seit langem quälten. Diesmal hatte sie eine Geschwulst in der Brust. Dorothea Neff bewies erneut Mut und gute Nerven. Sie stellte Lilli einem bekannten Arzt wie der Hausmeisterin als Freundin aus Köln vor, die dort ausgebombt worden war und in Wien zu Besuch war. Sie benutzte dabei den Namen Antonie Schmid, auf den sie auch alte Ausweispapiere hatte. Nach ihrer Heirat 1925 hieß Dorothea Neff nach ihrem Mann Dorothea Schmid, Antonie war ihr zweiter Vorname. Die Täuschung gelang. Lilli Wolff wurde mit Krebsverdacht in ein Krankhaus eingeliefert und sofort operiert. Der Tumor war gutartig und so wurde sie bald wieder entlassen.

Mit Fortdauer des Krieges bestand außerdem die Gefahr von Einquartierungen. Dorothea Neff wohnte offiziell alleine auf 130 m2. Sie erzählte selbst, dass es „eine Katastrophe gewesen [wäre], wenn wir jemand hätten unterbringen sollen.“ Doch sie wusste sich zu helfen: „Ich habe der Sekretärin von Baldur von Schirach eine Bonbonniere und zwei Theaterkarten gebracht. Daraufhin war sie gewonnen und hat zu mir gesagt: ‚Natürlich brauchen Sie als Schauspielerin ein Arbeitszimmer. Ich werde dafür sorgen, daß man sie nicht belästigt.‘“ Später, im Herbst 1944, übersiedelten Meta Schmitt und Martha Driessen aus Köln zu Dorothea Neff nach Wien. Ihre Wohnungen in Köln waren tatsächlich von Bomben getroffen worden. Waren Dorothea Neff und Lilli Wolff zu zweit, konnten sie sich bei Spannungen in der großen Wohnung aus dem Weg gehen. Nun waren sie zu viert, und Dorothea Neff vermisste außerdem die Freiräume, die ihr das Theater bot. Seit 1. September 1944 waren alle Theater von Joseph Goebbels kriegsbedingt geschlossen worden, die meisten wehrfähigen Schauspieler mussten an die Front, viele Schauspielerinnen in kriegswichtigen Betrieben arbeiten. Dorothea Neff wurde einer Fabrik im 15. Bezirk zugeteilt, wo sie Uniformteile und Hemden herstellen musste. Dort lernte sie eine junge Schauspielerin kennen, die zuletzt im Theater an der Josefstadt engagiert gewesen war: Eva Zilcher. Wieder ist in den biografischen Darstellungen nicht von Liebe die Rede. Und auch Eva Zilcher umschrieb die Beziehung: „Wir haben gespürt, daß wir auf der gleichen Wellenlänge waren.“ Bald vertraute sich Dorothea Neff ihrer neuen Freundin an: „Ich war wie betäubt von der Tatsache und von dem Vertrauenserweis. Von dieser Stunde an waren wir unerschütterlich verbunden.“ Und sie sollten es bis zu Dorothea Neffs Tod 1986 bleiben.

Am 9. April 1945 wurden sie befreit. Vergessen waren in diesem Moment die endlosen Stunden der Angst, wenn Lilli Wolff in der Wohnung bei jedem verdächtigen Geräusch fürchtete, dass Gestapo-Beamten sie holen kämen, vergessen waren die Tage, in denen Lilli Wolff bei Bombenangriffen in der Wohnung ausharrte, weil sie sich nicht in den Luftschutzkeller wagte, vergessen waren aber auch jene bangen Momente, wenn sie sich als ausgebombte Freundin von Dorothea Neff in den Luftschutzkeller wagte und die Erde von den nahen Bombeneinschlägen bebte. Die Ängste sollten wiederkommen und Lilli Wolff noch lange plagen. Selbst in den USA sollte sie nachts schweißgebadet aufwachen, weil sie fürchtete, abgeholt zu werden.

Dorothea Neff hat mit Mut ihrer Freundin Lilli Wolff das Leben gerettet, ihre Beziehung war aber in den Jahren des Ausnahmezustands zerbrochen. Und sie hatte mit Eva Zilcher eine neue Liebe gefunden. Meta Schmitt und Matha Driessen gingen zurück nach Köln. Lilli Wolff blieb zunächst in Wien, ging aber im April 1947 in den USA und ließ sich in Dallas, Texas, nieder.

Meta Schmitt starb schon 1951 in Köln. Lilli Wolff holte ihre Freundin Martha Driessen nach Dallas nach und führte mit ihr gemeinsam wiederum einen Modesalon, der bald überregional bekannt wurde. Die Neff, wie man sie kurz und respektvoll nannte, schrieb in der Nachkriegszeit österreichische Theatergeschichte. Mit Haltung und einer unvergleichlichen Stimme, später sogar trotz ihrer Erblindung, stand sie bis ins hohe Alter auf den Bühnen des Volkstheaters, des Akademietheaters oder der Burg. Im Jahr 1966 zog sie mit Eva Zilcher in eine gemeinsame Wohnung in der Taubstummengasse 13 im 4. Bezirk.

Über ihren mutigen Einsatz für das Leben von Lilli Wolff schwieg sie bis 1978, als sie die Journalistin Nadine Hauer dazu befragte. Die daraus entstandenen Zeitungsartikel erregten die Aufmerksamkeit des israelischen Botschafters in der Schweiz, der Dorothea Neffs Ehrung als „Gerechte unter den Völkern“ in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem vorschlug. Als Gerechte werden Menschen geehrt, die sich uneigennützig für Jüdinnen und Juden in der Zeit des Nationalsozialismus einsetzten, sei es, dass sie diesen zur Flucht verhalfen, falsche Papiere und Identitäten verschafften, Lebensmittel zukommen ließen, die ihnen das Überleben sicherten, oder sie versteckten, wie Dorothea Neff dies tat, ohne jemals eine Gegenleistung dafür zu verlangen.

Gemeinsam mit Meta Schmitt (posthum) und Martha Driessen wurde Dorothea Neff 1979 bei einem Festakt im Wiener Akademietheater geehrt. Mit Unterstützung ihrer Lebensgefährtin Eva Zilcher pflanzte sie selbst einen Baum im „Garten der Gerechten unter den Völkern“. „Ich bin ihr unsagbar dankbar", sagte Lilli Wolff 1979 über ihre Freundin, auch wenn sie seit langer Zeit nur mehr lose mit ihr in Kontakt stand. „Sie hat alles getan, was sie konnte, um mir das Leben zu erleichtern, um mir das Gefühl zu geben, dass ich ein Mensch bin (gegen die Nazi-Propaganda), dass ich ihrer Fürsorge wert bin, die sie mir so warmherzig zukommen ließ.“

Lilli Wolff starb 1983 in Dallas, Texas, Dorothea Neff 1986 in Wien. Sie wurde in einem Ehrengrab der Stadt Wien am Wiener Zentralfriedhof bestattet, in dem auch Eva Zilcher, die 1994 verstarb, beigesetzt wurde.

Quellen und Literatur:

Nadine Hauer: „Nein: Du tauchst bei mir unter!“ In: Die Furche Nr. 45, 10. 11. 1978, S. 6

Peter Kunze: Dorothea Neff. Mut zum Leben. Wien 1983

Website Yad Vashem über Dorothea Neff: https://www.yadvashem.org/righteous/stories/neff.html

Website Yad Vashem, Aussage von Lilli Wolff: https://www.yadvashem.org/righteous/stories/neff/lilli-wolff-testimony.html

Lilli Wolff Papers im United States Holocaust Memorial Museum (USHMM):

https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn502150#?rsc=138299&cv=0&c=0&m=0&s=0&xywh=-1756%2C-158%2C4786%2C3135

Lilli Wolff Collection an der University of North Texas:

https://digital.library.unt.edu/explore/collections/LWOLF

 

Hinweis: „Als homosexuell verfolgt“ – so lautet der Titel eines demnächst erscheinenden Buches von Andreas Brunner über Wiener Biografien in der NS-Zeit. Es erzählt Geschichten der Verfolgung und Drangsalierung, verortet in den 23 Bezirken Wiens.  

Andreas Brunner, Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik, daneben auch als Möbelrestaurator, Filmproduzent, Kellner, Koch, Buchhändler oder Literaturagent tätig. Seit Ende der 1980er-Jahre in der Wiener Schwulen- und Lesbenbewegung engagiert, in der Rosa Lila Villa, Mitarbeiter der ersten schwulen Buchhandlung „Löwenherz“, Gründung der Regenbogen Parade, Ko-Kurator der Ausstellung „geheimsache:leben. schwule und lesben im wien des 20. Jahrhunderts“ (2005) und von „Sex in Wien. Lust. Kontrolle. Ungehorsam“ (2016), Ko-Leiter von QWIEN - Zentrum für queere Geschichte, Forschungen und Publikationen zur schwul/lesbischen Stadtgeschichte, Entwicklung schwul/lesbischer Stadtführungen, Aufbau eines Archivs für die Geschichte von LGBTI* in Wien.

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Brigitte Pellar

Die Totenmaske von Dorothea Neff befindet sich in Bezirksmuseum Wieden. Sie ist in der von Prof. Philipp Maurer neu gestalteten Dauerausstellung zur Geschichte des Bezirks zu sehen.