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Wolfgang Kos, 14.10.2020

Zum Tod von Elfriede Mejchar

„Ich finde interessant, was die Menschen liegen lassen“

Die große österreichische Fotografin Elfriede Mejchar, deren Werk in der Kunstsammlung des Wien Museums prominent vertreten ist, verstarb am vergangenen Sonntag im Alter von 96 Jahren. Das folgende Interview mit der Künstlerin hat Wolfgang Kos 2008 anlässlich einer Ausstellung im Wien Museum geführt. 

Elfriede Mejchar

Bevor wir beginnen, möchte ich sagen, dass ich meinem verstorbenen Mann sehr zu Dank verpflichtet bin. Weil er war ein richtiger Wiener, ein Kind des 10. Bezirks, aus einer Kapskutscher-Familie.

Wolfgang Kos

Was war ein Kapskutscher?

EM

Die führten mit zweirädrigen Wagen mit armen Pferden vorn, die schon richtig ausgepowert waren, die Ziegel vom Wienerberg zur Ringstraße.

WK

Wenn man heute die Ringstraße mit ihren prachtvollen Palästen bewundert, vergisst man allzu leicht, wie die Zuwanderer in den Ziegelwerken am Wienerberg geschuftet haben.

EM

Mein Mann hat mir oft erzählt, die haben nur Zettelchen bekommen statt Geld, und durften damit nur in den Geschäften der Ziegelwerke einkaufen. Die wurden dort unter Kontrolle gehalten.

WK

Ich hab Sie unterbrochen. Sie sprachen davon, wie wichtig die Favoritner Wurzeln Ihres Mannes für Sie waren.

EM

Er war ein begeisterter Wiener und erzählte mir viele Dinge, auch vom Rand der Stadt. Das war ja die Gegend, die mich dann am meisten interessiert hat. Dort, wo Land und Stadt zusammenstoßen. Er war Städter, und ich kam von draußen, vom Land.

WK

Ihre gemeinsame Landschaft war also dort, wo Wien „ausfranst“.

EM

Ja, und dort lagen die Orte, die mich auch fotografisch interessiert haben. Ich bin dann auf eigene Faust losgezogen, zu den Fabriken, von einer Straße zur nächsten. Ich bin einfach immer weiter gegangen. Da half mir das Wissen meines Mannes, der Beamter der Wiener Verkehrsbetriebe war und dabei auch mit Gebieten in Simmering zu tun hatte, wo eine Gärtnerei nach der anderen aufgelöst wurde. Er hat sehr viel gewusst.

WK

Wenn Sie dann dorthin fotografieren gegangen sind, gingen Sie zu zweit oder allein?

EM

Fast immer allein.

WK

Ihr erster Langzeitzyklus entstand in der Simmeringer Haide und im Erdberger Mais. Es waren für mich immer auch solche alte Flurnamen, die der Bebauung dieser Gebiete einen besonderen Charakter gaben. Dort stehen heute ja Park & Ride-Anlagen, Wohnsiedlungen oder das Staatsarchiv. Noch heißt es „Mais“, aber viele, die dort wohnen oder arbeiten, wissen nicht mehr, dass „Mais“ ein altes Wort für Feld ist.

EM

In Erdberg gibt es auch den Franzosengraben, das war ein Schwemmland, wo sich schon die Türken bei ihrem Angriff auf Wien festgesetzt haben. Das war dann lange Zeit ein unklares Gebiet für alle möglichen Dinge. Auch Leute wurden dort aufgehängt.

WK

Und in Simmering befinden sich bis heute die Entsorgungs- und Versorgungsbetriebe, also Sachen, die Großstädte irgendwo hingeben mussten, zumeist eben ans East End. 

EM

Also, mich hat das alles sehr fasziniert und fasziniert mich immer noch. Es waren die Veränderungen, mit denen ich mich befasst habe. Wie plötzlich eine Kiesgrube entstand und dann wieder etwas ganz anderes. Von der Sprengung einer alten Fabrikshalle bis zum Haus, das dann dort gebaut wird. Mit den großen Wohnanlagen änderte sich natürlich der Charakter der Gegend, weil ja nun ein gemischtes Publikum in den Bezirk kam. Das Ortstypische ging verloren, es wurden ganz normale Stadtgebiete. Aber mich interessieren nicht so sehr die Menschen, sondern das, was die Menschen machen, ihre Spuren, ihre Orte. Vielleicht hab ich das auch von der Arbeit im Bundesdenkmalamt, von den Ausgrabungen. Wenn da jemand einen Scherben findet, deutet der immer auf irgendetwas hin. Ich fotografiere das Verschwindende, bevor es verschwindet, das, was halt bald nicht mehr da ist. 

WK

Meinen Sie damit, dass, wenn sie zum Beispiel in den ehemaligen Wienerberger Ziegelwerken fotografierten, dass Sie da auch die Spuren der Menschen, die hier barabert haben oder der Kinder, die später hier herumgelaufen sind, irgendwie mit ins Bild kriegen wollten?

EM

Vielleicht. Mir lag es ja nicht, Reportagen über Menschen zu machen, ich bin kein Reportage-Fotograf. Meine Arbeit begann erst dann, wenn die Menschen weg waren. Bei Ausstellungen wurde ich oft gefragt, warum ich so grausliche Orte fotografiere, so einen Mist. Das hat mich überrascht, denn ich finde das gar nicht grauslich. Ich finde interessant, was übrig bleibt und was die Menschen liegen lassen.

WK

Sind Sie eigentlich traurig oder wütend, wenn etwas abgerissen wird, was Sie vorher fotografiert haben? Oder sagen Sie, das ist der Gang der Welt?

EM

Weder noch. Ich habe es fotografiert, das genügt. Aber ich möchte für die späteren Generationen festhalten, was einmal war. Vielleicht verdanke ich das meiner Arbeit beim Denkmalamt.

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WK

Haben Sie immer mit Stativ gearbeitet?

EM

Fast immer, ja. Ich habe keine sehr ruhige Hand, und ich hab zum Teil im 4 x 5 Inch-Format gearbeitet. Diese Apparate sind ja Kisten. Nein, die Schnelligkeit liegt mir nicht. Ich brauche ein Stativ, ich brauche eine Kamera, ich brauche eine Mattscheibe. Da steht alles am Kopf. Ich hab oft im Spaß gesagt, ich habe eine Mattscheibe.

WK

Wie wichtig war die Arbeit für das Bundesdenkmalamt für Ihre Arbeitsmethode? Worauf kam es da an? Auch Ihre Stadtfotos sind ja Archivbilder, die Zustände festhalten.

EM

Da kommt es vor allem darauf an, dass die Fotos ganz scharf sind, dass man alles sieht. Und dass man ein Gefühl für die Form der fotografierten Gegenstände bekommt. Ob es sich um ein Gebäude oder eine Plastik handelt, es sind ja immer dreidimensionale Gegenstände. Das soll zum Ausdruck kommen. So, als würde man davor stehen. Das ist schwierig, es kommt vor allem auf die richtige Beleuchtung an. Das war mir beim Fotografieren von Kirchen immer wichtig. Man musste ja die Dinge zum Sprechen bringen. Viele Kirchen sind nach Osten ausgerichtet und haben damit bestimmte Zeiten, zu denen das Licht ideal ist. Ich war immer auf der Suche nach der richtigen Beleuchtung, ob Natur- oder Kunstlicht. Ich versuche, mit Licht zu zeichnen, um eine plastische Wiedergabe des Objekts zu erreichen. Da spielt auch die Jahreszeit eine Rolle. Da kam es schon vor, dass ein Kunsthistoriker, mit dem ich unterwegs war, mich drängte, schnell zu fotografieren, und ich ihm sagte, dass geht erst im nächsten Jahr, weil dann das Licht richtig ist. Heute ist das anders, denn man arbeitet mit Farbe. Da macht die Farbe die Plastizität. Bei Schwarzweiß muss man das mit Licht erzeugen. Und mit Filter.

WK

Die Arbeit für das Bundesdenkmalamt war Auftragsfotografie. Es gab Listen von Gebäuden oder Kunstwerken, die aufgenommen werden mussten. Sie waren also keine Autorenfotografin, die ihre Agenda bestimmt. Wann kam der entscheidende Schritt zur Selbstermächtigung?

EM

Wenn man in einem Amt ist, muss man sich an amtliche Vorgaben halten. Das Eigene entstand und lief parallel dazu. Sicher waren es vor allem die Arbeiten an der Wiener Peripherie, mit denen ich mich frei spielte. Otto Breicha hat immer gesagt, das wäre mein Anfang als Autorenfotografin gewesen. Weil ich mir bei der Simmering-Arbeit selbst mein Thema vorgegeben habe. Als ich 1967 damit begann, hatte ich bald den Wunsch, es möglichst komplett zu machen, alles abzugehen, also eine ganze Geschichte. Eine Fabrik zu fotografieren war nicht allzu verschieden vom Fotografieren einer Kirche, aber das eine machte ich im Auftrag, das andere in Eigenregie. 

WK

Haben Sie manchmal das Gefühl, dass gerade der Stadtrand, der jetzt schon für einige Generationen von Künstlern interessant geworden ist, ob Filmemacher, Autoren oder Fotografen, dadurch, dass er zum Genre wird, auch zum Kitsch werden kann?

EM

Da ist eine schwierige Frage. Kann eine Gstätten kitschig sein? Eigentlich meidet der Kitsch eher solche Orte. Für mich beginnt der Kitsch eher dort, wo es richtig städtisch wird und Sehenswürdigkeiten ins Bild kommen. 

WK

Es war die von Otto Breicha initiierte Ausstellung im Museum des 20. Jahrhunderts, in der Ihre Zyklen erstmals öffentlich zu sehen waren. Wie war die Reaktion?

EM

Mein Mann war ein paar Mal dort und hat gehört, wie die Leute schimpften. Wie kommt die dazu, so was zu fotografieren? Das hat mich schon verletzt. Zu mir hat ja niemand so etwas gesagt. Es war tatsächlich so, wie Sie sagten: Meine Arbeit hat damals kaum jemand gekannt außer ein kleiner Kreis, der sie aus den von Otto Breicha herausgegebenen Zeitschriften kannte. Das waren meine „Urfotografien“. Es gab damals ja nur wenige, die Ähnliches machten: Manfred Willmann vor allem, natürlich auch Heinz Cibulka. Mein Manko war immer, dass ich mich nicht selbst pushen kann. Eine blöde Eigenschaft. So saß ich immer auf meinen Arbeiten wie eine Henne auf dem Ei. Breicha kam halt und schaute sich alles an, was ich bis dahin hatte.

WK

Sie haben am Anfang gesagt, Ihr Blick auf den Stadtrand war ursprünglich der von außen, vom Land. Wo sind Sie aufgewachsen? Wann kamen Sie nach Wien?

EM

In St. Leonhard am Forst und in Ruprechtshofen. Das ist unterhalb von Melk, im Mostviertel. 1945 bin ich zum ersten Mal nach Wien gekommen, mit einem Kofferl in der Hand. Kein Zimmer, keine Wohnung, kein gar nichts. Ich hatte auch nichts, was man am Schwarzmarkt hätte tauschen können, Fotoapparat besaß ich damals auch noch keinen, den konnte ich mir erst später leisten. Und dann, so blöd war ich, wollte ich zum Film, als Kamerafrau. Ich hatte sogar schon einen Vorstellungstermin, als plötzlich meine Mutter in der Tür stand und entsetzt war, wie verhungert ich ausschaute. Also ging ich mit ihr für ein paar Jahre nach Norddeutschland, bis wir als lästige Ausländer zurückgeschickt wurden. Und zum Schluss sind wir in Markersdorf in Niederösterreich gelandet, weil meine Mutter einen Mann gehabt hat, der dort Beziehungen hatte. Doch mit dem habe ich mich nicht verstanden und so bin ich abermals mit meinem Kofferl nach Wien gefahren. Da hatte ich wieder nichts. Bei meinem Mann, den ich damals kennenlernte, war es ähnlich. Seine Mutter war ausgebombt und er lebte in einem kleinen Zimmer in Favoriten. Ein regelmäßiges Einkommen hatte ich erst, als ich Aufträge vom Bundesdenkmalamt bekam. Ich habe dort auch die Fotowerkstätte aufgebaut, die war im Arsenal, natürlich nicht in der Hofburg, wo die Hofräte amtierten.

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WK

Edith Almhofer hat über Ihre Arbeit einmal geschrieben, Sie hätten eine gleichermaßen neutrale wie monumentale Bildsprache. Neutral, gut, das kommt auch sicher aus Ihrer Erfahrung mit präziser Sachfotografie. Aber monumental?

EM

Das Monumentale kommt vielleicht von den beeindruckenden Fabriken, die ich fotografiert habe. Aber das war mir manchmal zu monumental. Ich hatte ja immer auch eine Vorliebe für in der Gegend herumstehende Hütten. Die habe ich gesammelt und in Serie fotografiert.

WK

Jetzt haben wir schon ein Lexikon der zivilisatorischen Reste: Autowracks, Schilder, herumstehende Möbel, nun noch die windschiefen Hütten…

EM

…und die Vogelscheuchen! Ich bin halt industriegeschädigt. Aber ich mache auch ganz andere Dinge, zum Beispiel eine Serie über das Stück „Pere Ubu“. Oder „Das Pelzchen“, eine schöne Frau. Und wieder was ganz anderes ist die Blumenfotografie. Allerdings mag ich nur ganz bestimmte Blumen, vor allem die Amaryllis.

WK

Sie arbeiteten fast immer in Schwarzweiß. Eine Ausnahme ist ein Teil aus den „Wienerberger Ziegelöfen“. Warum haben Sie da in Farbe fotografiert?  

EM

Die Antwort ist simpel. Das hängt auch damit zusammen, ob ich Geld hatte oder nicht. Schwarzweiß konnte ich selber ausarbeiten, da brauchte ich keine teuren Firmen. C-Prints konnte ich mir nicht leisten. Natürlich wirkte das Schwarzweiß irgendwann altmodisch. Es gibt einen wichtigen Unterschied: Ohne Farbe haben die Schatten immer die gleiche Farbe wie die Umgebung.

WK

In den Jahrzehnten in denen Sie mit dem Fotoapparat verschwindende Gebäude und Gebäudereste festgehalten haben, ist ja auch Ihr eigenes Medium altmodisch geworden. Heute gibt es kaum mehr „richtige“ Fotoapparate im Geschäft zu kaufen, dafür Geräte, die viel mehr können. Auch mit dem Handy kann man fotografieren. Also ist auch der Apparat, den Sie auf Ihr Stativ geschraubt haben, eine Ruine der Moderne. 

EM

Ja, das Fotografieren, wie ich es betrieb, ist verschwunden. Analog ist tot. Aber es gibt immer ein paar Trottel, die das noch machen.

WK

Dann wird es wieder exzentrisch, wie ganz zu Beginn? 

EM

Und kompliziert, weil man immer schwerer Fotopapier zum Ausarbeiten findet. Aber ich habe ja jetzt meine Werkstätte verloren, die in einer eigenen zweiten Wohnung war. Immobilienhändler haben das Haus gekauft und der Zins ist mir zu hoch. Also habe ich mein Atelier nach dem Tod meines Mannes aufgegeben und habe alles in meine Wohnung geräumt. Mit dem Selberentwickeln ist es vorbei. Und jetzt kaufe ich mir auch so eine digitale Kamera, die man einfach nur hinhält. Warum nicht? 

WK

Machen Sie viele Bilder, um dann aussuchen zu können?

EM

Nein, ich habe ja mein Handwerk gelernt. Ich muss nicht zehn Mal auf den Auslöser drücken, damit ich ein Bild bekomme.

WK

Sind sie Handwerkerin oder Künstlerin?

EM

Ich liebe die Technik und die Kunst. Und durch die Technik bin ich zur Kunst und durch die Kunst zur Technik gekommen. Ich habe mir immer eingebildet, ich bin ein alter Meister, ich kenne mich aus bei dem, was ich mache. Und dann habe ich mir wieder gesagt, den alten Meister kannst Du Dir auf den Hut stecken. 

WK

Ist das, was Sie fotografiert haben, für Sie immer noch eine fremde Welt?

EM

Ja, immer noch. Ich bin ja unter Apfelbäumen aufgewachsen. Es ist nur insofern meine Welt, dass ich es fotografiert habe. All die merkwürdigen Orte waren ja Arbeitsplätze. Ich war wie ein Installateur, der irgendwo etwas tut. Wenn man ihn fragt, ob die Wohnung schön war, wird er sagen, das er sie nicht gesehen hat. 

WK

Manche sagen, es sind vor allem die Bilder vom Wiener Stadtrand, die man auch in Zukunft mit Elfriede Mejchar verbinden wird. 

EM

Keine Ahnung, warum das so ist. Von den Amerikanern sieht man ja in den Journalen auch immer das Gleiche, was mich oft ärgert. Und ich werde eben permanent zu den Simmering-Bildern angesprochen. Vielleicht, weil es das erste Mal war, dass so etwas bei uns gemacht wurde.

WK

Gibt es dort noch einen Punkt, wo es noch genauso ausschaut wie damals, als Sie dort fotografiert haben?

EM

Nein.

Dieses Interview erschien erstmals im Katalog zur Ausstellung Elfriede Mejchar. Fotografien von den Rändern Wiens" (Wien Museum, 2008). Für diese Veröffentlichung wurde der Originaltext gekürzt.

In der Sammlung des Wien Museums befinden sich über 500 Arbeiten von Elfriede Mejchar – neben Ankäufen auch zahlreiche Schenkungen der Künstlerin. 

Wolfgang Kos, Kulturhistoriker, Autor und Ausstellungskurator. Von 1968 bis 2003 Radiojournalist beim ORF (Ö3-Musicbox, Ö1), von 2003 bis 2015 Direktor des Wien Museums. Zahlreiche Publikationen, zuletzt „99 Songs. Eine Geschichte des 20. Jahrhunderts". 

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