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150 Jahre Wiener Hochquellenleitung
Trinkwasser mit Wohlfühldruck
Wie können wir uns denn die I. Hochquellenleitung, eingebettet in das Gesamtsystem der Wiener Wasserversorgung, vorstellen? Es sind ja letztlich viele Faktoren, die hier zusammenspielen und auch funktionieren müssen.
Wesentlich ist zunächst einmal, den Anfang des Wasserkreislaufs zu sehen. Unser Prozess beginnt mit dem Niederschlag in Form von Regen oder Schnee. Der Wassertropfen trifft an einer Oberfläche auf, im Idealfall Waldboden, das heißt Humus, weil hier schon eine enorme Reinigungsleistung stattfindet. Danach sickert das Wasser durch eine noch viel mächtigere Schicht: das Gebirgsmassiv aus Kalk oder Dolomit. Und hier passiert das Feintuning der Wasserqualität. Eine weitere intensive Reinigung setzt ein, bei der das Wasser manchmal über Jahrzehnte im Berg verbleibt, manchmal aber auch nur wenige Stunden, je nach Geologie, bevor es dann in der sogenannten Quellstube austritt. Insgesamt haben wir 70 Quellen für die Wiener Wasserversorgung zur Verfügung, die unterschiedlich ergiebig sind. Die Quelle mit der höchsten Schüttung ist die Kläfferquelle im Hochschwabgebiet mit bis zu 10.000 Liter pro Sekunde!
Kann man sagen, je länger das Wasser im Berg ist, umso sauberer ist es?
Jedenfalls. Längere Aufenthaltszeit im Berg bedeutet höhere Reinigungsleistung und damit auch größere Sicherheit in punkto Wasserqualität. Die Alpen sind hier wie ein riesiger Filter, gleichsam ein Schwamm, der sich mit Wasser vollsaugt und dieses dann – glücklicherweise – wieder abgibt. Und dann kam die großartige Idee und ebensolche Ingenieursleistung, dass man auf das natürliche Gefälle gesetzt hat, um dieses Wasser in Form einer kontinuierlich abfallenden Freispiegelleitung nach Wien zu transportieren. Die Hochquellenleitung ist also eigentlich ein überbauter Kanal. Topografische Hindernisse wurden mit Aquädukten überwunden, insgesamt 30 bei der I. und 100 bei der II. Hochquellenleitung.
Und in Wien münden die Leitungen dann in riesige Wasserbehälter …
Der Endpunkt der I. Hochquellenleitung ist das Reservoir Rosenhügel, jener der II. das Reservoir Lainz, und hier ist dann ein systemischer und technischer Wechsel. Von hier weg funktioniert die Wasserversorgung mit Druckleitungen, also keine Freispiegelleitung mehr. Wenngleich das Wesen des gravitativen Transports bleibt und heute rund 95 Prozent der Wiener Bevölkerung gravitativ versorgt werden. Nur wenige hoch gelegene Gebiete, etwa Kahlenberg, Cobenzl oder Wilhelminenberg, benötigen zusätzlich Pumpwerke. Von diesen ersten Wasserbehältern geht’s dann in weitere, insgesamt 29 in ganz Wien plus zwei in Niederösterreich (Moosbrunn und Neusiedl am Steinfeld). Sie alle fungieren als Puffer und Steuerungsinstrumente und geben damit eine gewisse Sicherheit bei der Wasserversorgung.
In die Haushalte und Betriebe kommt das Wasser somit allein durch die Gesetze der Physik?
So ist es. Der Druck, mit dem das Wasser aus der Leitung kommt, ist im Regelfall zwischen drei und sechs Bar, somit ein guter Wohlfühldruck, wie wir sagen, nicht zu leicht und nicht zu stark. All das funktioniert problemlos für die Bauhöhen zur damaligen Errichtungszeit, also bis in den vierten oder fünften Stock eines Altbaus; nur später errichtete Hochhäuser brauchen dann technische Unterstützung durch eine Pumpvorrichtung, die der jeweilige Gebäudeeigentümer installiert.
Nochmals zu den Dimensionen dieser städtischen Infrastruktur. Wie viele Behälter gibt es dabei für die I. Hochquellenleitung und wie viele Kilometer an Rohrleitungen?
Der größte Behälter ist jener in Neusiedl mit 600 Millionen Liter Fassungsvermögen und dann gibt es noch andere, wie eben Rosenhügel oder Schmelz, die ausschließlich zur I. Hochquellenleitung gehören. Aber manche Behälter werden von beiden Hochquellenleitungen gespeist. Die Gesamtlänge des Wasserrohrnetzes in Wien beträgt etwa 3.000 Kilometer, hinzu kommen dann noch etwa 800 Kilometer an sogenannten Anschlussleitungen, die von der Mitte der Straße bis zu den Wasserzählern im Haus gehen.
Wie stark verändert sich da der Querschnitt der Leitungen?
Der Durchmesser beträgt bei den überregionalen Transportleitungen bis zu 1,40 Meter und verringert sich dann sukzessive auf rund 15 Zentimeter bei den Anschlussleitungen.
Also alles in allem eine extrem differenzierte, im Lauf der Jahrzehnte sich immer weiter verzweigende Infrastruktur.
Gerne wird vergessen, dass parallel zur Errichtung der Hochquellenleitung auch das innerstädtische Leitungsnetz errichtet werden musste; eine mindestens ebenso große technische Leistung. Und dann gehört auch noch das riesige Entsorgungsnetz durch die Kanäle dazu ...
Und dieses hoch komplexe System ist in Wirklichkeit in vielen Etappen errichtet und optimiert worden, und wird es letztlich bis heute.
Das ist das Los einer technischen Infrastruktur mit weit zurückliegenden historischen Wurzeln. Man muss sie kontinuierlich weiterentwickeln, ständig weiter investieren und langfristig denken, um den folgenden Generationen ein gutes und sicheres System zu übergeben.
Eine Ihrer Aufgaben ist auch die regelmäßige Reinigung und Wartung der I. Hochquellenleitung. Wie geht dies konkret vor sich?
Pro Jahr finden vier sogenannte Abkehren statt, zwei im Frühling und zwei im Herbst. Die Wasserleitung wird dabei außer Betrieb genommen, bewusst in den Übergangszeiten, weil wir da einerseits gut Zugang zu den Quellen im Gebirge haben und andererseits kein Spitzenverbrauch vorhanden ist. Die Quellen fließen dann in den Vorfluter, d.h. in die Schwarza, und die Hochquellenleitung wird entleert. Es folgt eine Begehung und Inspektion der gesamten Strecke im Inneren der Leitung. Gibt es Schäden, die wir noch nicht kennen und wo wir Handlungsbedarf haben? Gibt es geplante Baumaßnahmen, die jetzt durchgeführt werden? Dieser wichtige persönliche Augenschein wird natürlich begleitet von Fotodokumentationen, Laserscans und vermessungstechnischen Untersuchungen. Und dann folgt die Reinigung, d.h. die Feinsedimente, die sich im Leitungskanal ablagern, werden mit einer sogenannten Stollenwaschmaschine entfernt, ein Gerät, das wir selbst entwickelt haben. Diesen Vorgang nennen wir dann Waschabkehr. Bei diesen Abkehren stehen wir unter großem Zeitdruck, da ja die Wasserversorgung der Stadt aufrecht zu erhalten ist. Eine Abkehr dauert rund eine Woche, länger geht nicht. In dieser Zeit greifen wir auf die Reserven in den Wasserbehältern zurück. Die fehlenden Wassermengen werden von den Grundwasserwerken kompensiert. Die II. Hochquellenleitung muss während der Abkehr an der I. Hochquellenleitung voll in Betrieb sein. Auch bei dieser findet natürlich eine Abkehr statt, aber nie gleichzeitig mit der I. Hochquellenleitung. Eine von beiden muss immer voll zur Verfügung stehen. Gute Planung, gute Ausführung und rechtzeitige Inbetriebnahme sind hier extrem wichtig.
Kommen wir nochmals zu einem Vergleich der beiden Hochquellenleitungen. Unterscheiden sich diese in der Bautechnik oder anders gefragt: Hat man von der I. etwas gelernt, was man bei der II. dann angewandt hat?
Beide trennt ja eine Entstehungszeit von rund 40 Jahren. Ein wesentlicher Unterschied ist, dass es bei der II. auch 19 Düker (Talunterquerungen) gibt, bei der I. noch gar keine. Dann die Aquädukte: Sie wurden bei der I. in Ziegelbauweise errichtet, bei der II. aus Natursteinblöcken, die natürlich langlebiger und robuster sind. Die Ziegelaquädukte haben einen deutlich höheren Sanierungsbedarf, wobei hier natürlich auch der Denkmalschutz zu berücksichtigen ist. Einen hohen Sanierungsaufwand erfordert leider auch der Behälter Neusiedl. Er stammt aus den späten 1950er Jahren und damals hat man erstmalig Stahlbeton verwendet, allerdings unterdimensioniert.
Die I. Hochquellenleitung ist also grundsätzlich sanierungsbedürftiger als die Zweite?
Das ist leider nicht so. Denn die Zweite verläuft ja durch das Alpenvorland, also die Flyschzone. Diese ist eine Mischung aus verschiedenen Gesteinsformationen, die kriecht und sich bewegt und zu einer allmählichen Deformation der Hochquellenleitung führt. Bei Abschnitten in Flyschhängen waren wir daher schon mehrmals gezwungen, einen Bypass zu bauen, einen Umgehungstunnel weiter ins Gebirge hinein, um hier auf der sicheren Seite zu sein.
Die Vorteile der Hochquellenleitungen hat jemand einmal in drei Schlagworten zusammengefasst: Einfache technischen Prinzipien – alterungsfähig – nachhaltig. Wie würden Sie die Nachhaltigkeit beschreiben?
Es ist aus meiner Sicht schon bemerkenswert, dass diese Bauwerke damals mit soviel Weitblick errichtet wurden, nämlich nicht nur hinsichtlich Qualität und Gesundheit, sondern auch im Sinne der Quantität. Denn die Dimensionierung der Hochquellenleitungen ist im Einklang mit der Schüttungsmengen der Quellen – und nicht zuletzt auch mit den vorhandenen rechtlichen Konsensen.
Die Qualität des Wassers wird ja international immer wieder hervorgehoben. Wie wird denn das „Rohwasser“, das aus dem Berg austritt, auf seinem Weg nach Wien weiter behandelt?
Es passiert eigentlich relativ wenig, das Wasser bleibt naturbelassen bis zur Stadtgrenze. Direkt vor dem Wasserbehälter findet dann eine Desinfektion statt und zwar mit UV-Licht in Kombination mit Chlordioxid. Also eine minimale Behandlung, die hygienische Sicherheit gewährleistet. Ab dann ist das in Wien zirkulierende Wasser kein „Rohwasser“ mehr, sondern ein behutsam desinfiziertes Trinkwasser. Geschmacklich macht das so gut wie keinen Unterschied, zumal das Wasser ja auch eine relativ konstante Kühle von sieben Grad aufweist. Wenn es im Haushalt dann doch einmal wärmer wahrgenommen wird, so liegt das daran, dass es länger in den Leitungen gestanden ist.
Die beiden Hochquellenleitungen gehören zur kritischen Infrastruktur. Wie schützen Sie sich in Krisensituationen, also etwa bei Umweltkatastrophen oder im Kriegsfall? Es sind ja doch viele Kilometer, die hier ständig im Auge behalten werden müssen.
Wir haben ein komplexes Risikomanagementsystem entwickelt, im Rahmen dessen analysieren und evaluieren wir ständig etwaige Gefahren. Und planmäßig findet ein Mal pro Woche eine Kontrolle der gesamten Strecke statt – an jeder Hochquellenleitung.
Was ist denn aus Ihrer Sicht das größte Risiko?
Das ist relativ schwer zu beantworten. Denn, wie die Corona-Krise uns gelehrt hat, können oft überraschende Ereignisse eintreten, mit denen man nicht wirklich rechnet. Wir unterscheiden grundsätzlich zwischen intentionalen Gefahren, etwa Terroranschlägen, und Naturereignissen und versuchen die Eintrittswahrscheinlichkeiten und den möglichen Schaden abzuschätzen. Unser Krisenmanagement wird permanent beübt, ist streng strukturiert und auch penibel dokumentiert. Damit haben wir ein gutes Werkzeug, um auf Störfälle reagieren zu können.
Vor welchem Ereignis haben Sie die größte Angst? Sind das Erdbeben, die ja entlang der Thermenlinie immer wieder vorkommen, oder das derzeit medial viel diskutierte Blackout?
Vor Letzterem fürchten wir uns sicher nicht. Da sind wir vorbereitet und da wird es bei der Wasserversorgung keine großen Probleme geben.
Kommen wir zu den Zukunftsaussichten. Wie begegnen sie dem Klimawandel? Besteht die reale Gefahr, dass der Wiener Bevölkerung einmal nicht mehr genug Wasser zur Verfügung stehen wird?
In unserer Zukunftsstrategie prognostizieren wir aufgrund des Bevölkerungsanstiegs eine Zunahme des Verbrauchs um 15 Prozent, das sind etwa 60 Millionen Liter Wasser pro Tag mehr. Wir arbeiten daher an einer Vergrößerung des Angebots durch Bau eines neuen Grundwasserwerks auf der Donauinsel. Die zweite wichtige Maßnahme ist die Erhöhung des Speichervolumens. Aktuell wird der Behälter Schafberg vergrößert, ab 2024 der Behälter Neusiedl. Bei Letzterem werden riesige neue Kammern errichtet, die bestehenden werden sukzessive saniert, sodass am Ende der größte Wasserspeicher Europas mit einem Fassungsvermögen von einer Milliarde Liter Wasser entsteht. Die dritte Maßnahme ist der Ausbau der Transportkapazitäten, insbesondere in Wien. Das ist bereits voll im Gange. Hier werden vor allem überregionale Transportleitungen verstärkt, bestehende Engstellen beseitigt und die aktuellen Stadterweiterungsgebiete in den Blick genommen. Wenn wir diese drei Hauptmaßnahmen, kombiniert mit einer Vielzahl an anderen Projekten, abarbeiten, dann sind wir für die nächsten Jahrzehnte gut abgesichert.
Neue Quellen für die Hochquellenleitungen werden keine mehr erschlossen?
Hier gibt es wenig Potential. Wir planen aber bestehende Hochquellen auszubauen, um die verfügbaren Wassermengen zu erhöhen. Ein zusätzlicher Rohrstrang in der Höllbachquelle ermöglicht es künftig, mehr Wasser vom Hochschwabgebiet nach Wien fließen zu lassen.
Die Gefahr, dass aus dem Gebirge einmal deutlich weniger Wasser kommt, sehen Sie derzeit nicht?
Nein, das sehe ich nicht. Die Niederschlagsmengen sind in den letzten Jahren im Gebirge, nämlich über das ganze Jahr hinweg betrachtet, relativ konstant geblieben. Allerdings muss man dazu sagen, dass die Wissenschaft derzeit gute Prognosen über die Temperaturentwicklung abgeben kann. Was die Niederschläge anbelangt, so können diese regional so unterschiedlich sein, dass hier Prognosen deutlich schwieriger sind. Dementsprechend sehe ich hier eine gewisse Unschärfe, die aber für Wien immer noch verkraftbar ist, weil wir die Sicherheit über die Grundwasserwerke haben. Die wir ja, wie gesagt, künftig noch verstärken werden. Damit hoffen wir, für alles gerüstet zu sein, was auch immer vom Klimawandel noch kommen wird.
Das Interview ist die gekürzte Fassung eines Beitrages aus dem soeben erschienenen Buch „Gebirgswasser für die Stadt. Die I. Wiener Hochquellenleitung“ von Peter Payer und Johannes Hloch (Fotografien), das im Falter Verlag erschienen ist. Am 19. Oktober findet um 18 Uhr im Vortragssaal des Wiener Stadt- und Landesarchivs (und online) eine Veranstaltung mit Vorträgen zur I. Wiener Hochquellenleitung statt (u.a. mit Peter Payer). Das detaillierte Programm gibt´s hier.
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Kommentare
Ganz großartiges Werk und ebensolcher Beitrag! Danke! - Ist Herr Peter Payer der Sohn des Architekten Peter Payer (maturiert im 14. Bez. in der Astgasse ?). jener war (bzw. ist) ein Schulkollege meines Bruders.