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70 Jahre Siedlung Siemensstraße
Terra Nova
Karl Bachmeier war ÖBB-Bediensteter, Weltreisender, rühriger Funktionär der Naturfreunde, kam so zum Fotografieren und Filmen, hielt zahlreiche Vorträge in Floridsdorf und anderswo. Ein guter Vater, erinnert sich seine Tochter Christiane, aber selten zu Hause. Die Mutter Dorli hält die Familie zusammen und bessert u .a. durch nächtliche Heimarbeit für Modegeschäfte der Innenstadt das Familieneinkommen auf.
Wir befinden uns in Floridsdorf der frühen 1950er-Jahre, nur wenige Jahre nach dem Krieg. Karl Bachmeiers Eltern waren ausgebombt, lebten in einer schäbigen und feuchten Gründerzeitwohnung. 1951 erhalten sie die Zuweisung für eine gerade fertiggestellte Gemeindewohnung in der Siedlung Siemensstraße in Floridsdorf, überlassen diese jedoch ihrem Sohn Karl, seiner Frau und ihrer kleinen Tochter Christiane. Die Wohnung in der Wankläckerstraße ist klein, hat 36 m², besteht aus einer Wohnküche und einem Wohn-Schlafzimmer.
Es entstehen Amateurfilme und Fotos von Familienfesten, von spielenden Kindern in den Höfen, vom Kinderfreibad oder dem nahe gelegenen Eislaufplatz. Filme und Fotos werden von Tochter und Schwiegersohn aufgehoben, ebenso wie selbstgebaute Einrichtungsgegenstände oder Puppenmöbel, die die Wohnideale der Zeit festhalten. In der Familie wird historisches Bewusstsein geschaffen. Das Puppenbadezimmer erzählt den Traum vom eigenen Bad, das es in der Siemensstraße noch nicht gab. Gebadet wurde provisorisch in der Küche oder im Tröpferlbad in der Siedlung.
Ein eigenes Badezimmer war im Gemeindebau nach 1945 eigentlich und anders als im Roten Wien bereits Standard. Die Siedlung Siemensstraße jedoch war Teil des Schnellbauprogramms der Gemeinde, mit dem rasch die ärgste Wohnungsnot nach dem Krieg gelindert werden sollte. Zwischen 1950 und 1954 entstanden so neben dem normalen Wohnbauprogramm zusätzlich 4000 Kleinstwohnungen.
Mit mehr als 1700 Wohnungen war die Siedlung mit Abstand die größte Anlage in diesem Programm und der bis dahin größte Gemeindebau der Stadt. In mehrerer Hinsicht war die Siemensstraße ein städtebauliches, bautechnisches und soziologisches Versuchsfeld. Errichtet an der Peripherie in aufgelockerter Bauweise, integriert in einer großzügigen Grünlandschaft, wurde hier mit verschiedenen Haus- und Wohnungstypen experimentiert. Orientiert am Siedlungsbau der 1920er-Jahre, besteht sie im Inneren aus ein- und zweigeschossigen Reihenhäusern mit Nutzgärten, nach außen hin schließen die dreigeschossigen Mehrfamilienhäusern die Siedlung ab. In Anlehnung an die Idee der Gartenstadt war das städtebauliche Leitbild nach 1945 die funktionale Entmischung von Arbeit, Wohnen und Erholung. Die Siedlung mit dörflich-kleinstädtischem Charakter, damals von Kleingärten und Äckern umgeben, lag in unmittelbarer Nähe großer Floridsdorfer Industriebetriebe wie Siemens, Simmering Graz Pauker, dem Gaswerk Leopoldau oder der Hauptwerkstätte der ÖBB. Hier arbeitete auch ein Großteil der BewohnerInnen der neuen Siemensstraße.
Der Architekt Franz Schuster (1892-1972) orientierte sich bei der Planung der Siedlung am Konzept der Neuen Nachbarschaft, das ursprünglich aus dem angloamerikanischen Raum stammte. Dabei ging es um ein neues Verhältnis von individuellem und gemeinschaftlichem Wohnen. Der Begriff der Gemeinschaft, der in der Politik des Roten Wien der Zwischenkriegszeit noch so zentral war und sich an der Anlage der großen Höfe deutlich vermittelt, war durch den Nationalsozialismus grundlegend desavouiert. Das Konzept der Neuen Nachbarschaft basierte hingegen auf der Analyse und Berücksichtigung unterschiedlicher Wohnbedürfnisse. So wurde in der Siedlung eine eigene „Heimstätte für alte Menschen“ errichtet, die zum Prototypen eines Konzepts der Wohnversorgung für Seniorinnen, Kriegsversehrte und Gehandicapte für ganz Wien wurde. Die Wohnungen in der ebenerdigen Hofanlage waren weitgehend barrierefrei zugänglich. Einer Fürsorgerin stand eine eigene Wohnung zur Verfügung. Alte Menschen sollten dieser Idee nach in ihrer gewohnten Umgebung bleiben und ein weitgehend eigenständiges Leben führen können. Über die Praxis ist allerdings wenig bekannt. Auch das Heimstätten-Modell für ein Wohnen im Alter wurde vermutlich aus Kostengründen nicht konsequent weitergeführt, erscheint heute aber wieder brandaktuell.
Zur Infrastruktur der Siedlung gehörte auch ein Kindergarten, ein Kinderfreibad, ein Volksbad (Tröpferlbad), sowie ein Volksheim (heute VHS) als Veranstaltungsort. Geschäfte und kleinere Werkstätten wurden in eigenen Ladenzeilen untergebracht.
Die Wohnungen in der Siemenstraße waren so konzipiert, dass bei Bedarf jeweils zwei auf unkomplizierte Weise zu einer größeren zusammengelegt werden konnten. So sollte aus der zweiten, nun überflüssigen Küche das Bad entstehen. In der Praxis wurde das aber nur selten umgesetzt, da dies einen regen Wohnungstauch und viel Logistik vorausgesetzt hätte. So besteht die Siedlung nach wie vor überwiegend aus den ursprünglichen Wohnungstypen. 1954 wurde die Stadt Wien eingeladen, an der großen International Exhibition on Low-Cost Housing in New Delhi, der Hauptstadt des gerade erst unabhängigen Indiens teilzunehmen, wo durch hohes Bevölkerungswachstum und eine rasante Urbanisierung international erprobte Modelle für einen günstigen Massenwohnbau besonders gefragt waren. Auf Anregung von Stadtrat Leopold Thaller stellte das Stadtbauamt 58 Ausstellungsstücke her, die später auch in Kalkutta gezeigt wurden und als Geschenk in Indien blieben. Von der Siemensstraße waren u. a. ein Modell der Siedlung sowie Fotos der Heimstätte für alte Menschen zu sehen.
Parallel zum Schnellbauprogramm wurde 1950 die Aktion „Soziale Wohnkultur“ ins Leben gerufen. Initiatoren waren die Stadt sowie die Gewerkschaft Bau-Holz, die namhafte Architekten engagierten, um günstige und zeitgemäße Möbel insbesondere für Kleinwohnungen zu entwerfen. Zu den Designern zählten neben dem Architekten der Siedlung Franz Schuster, Roland Rainer oder der aus der Emigration zurückgekehrte Oskar Payer, der mit seinen Wohnbroschüren bekannt wurde und Mitinitiator der vom Publikum gestürmten Großausstellung „Die Frau und ihre Wohnung“ im Messepalast war. Schon der Titel der Ausstellung vermittelt, dass die Adressatin der neuen Wohnkultur der 1950er-Jahre die moderne Hausfrau war, womit auch die strikten Geschlechterrollen der Zeit angesprochen sind. Die Serienproduktion von Möbel im Rahmen der Aktion „Soziale Wohnkultur“ startete 1954. Zehn Firmen mit 450 ArbeiterInnen erzeugten Vitrinenschränke, Klappbetten, Sitzbänke oder Küchenmöbel, die von lokalen Händlern angeboten und in Raten bezahlt werden konnten. Die Möbel, die heute in Sammlerkreisen hochgeschätzt sind, waren dennoch für viele nicht leistbar und für die beengten Wohnverhältnisse oft zu wenig flexibel.
Im Rahmen ihrer Gemeinwesenarbeit und anlässlich des bevorstehenden 70 Jahre Jubiläums initiierten die wohnpartner team 21 vor zwei Jahren einen Gesprächskreis, in dem Erinnerungen an Leben und Wohnen in der Siedlung ausgetauscht, Dokumente, Fotos und Alltagsgegenstände gesammelt wurden. Es ging um Wohnideale und Alltagspraxis, um Geschlechterrollen, um Nachbarschaft und Zusammenleben, um Orte des Vergnügens, der Erholung und der Liebe. Die Erinnerungsarbeit sollte in einer Ausstellung einer breiteren Öffentlichkeit vermittelt und so auch die außerhalb von Fachkreisen wenig bekannte Siedlung mit ihren für die Zeit innovativen Ideen und Konzepten in Erinnerung rufen werden. Das Wien Museum und die Wiener Wohnbauforschung wurden als Kooperationspartner gewonnen. Letztere übernahm auch den Großteil der Finanzierung. Die Ausstellung in der Duplexwohnung in der Scottgasse 5 geht von den Erinnerungen und Erfahrungen der ZeitzeugInnen aus, rahmt diese mit einer Geschichte der Siedlung und erzählt vom Wohnen und Leben in Floridsdorf in den ersten Nachkriegsjahrzehnten.
Im Rahmen ihrer Gemeinwesenarbeit und anlässlich des bevorstehenden 70 Jahre-Jubiläums initiierten die wohnpartner team 21 vor zwei Jahren einen Gesprächskreis, in dem Erinnerungen an Leben und Wohnen in der Siedlung ausgetauscht, Dokumente, Fotos und Alltagsgegenstände gesammelt wurden. Es ging um Wohnideale und Alltagspraxis, um Geschlechterrollen, um Nachbarschaft und Zusammenleben, um Orte des Vergnügens, der Erholung und der Liebe. Die Erinnerungsarbeit sollte in einer Ausstellung einer breiteren Öffentlichkeit vermittelt und so auch die außerhalb von Fachkreisen wenig bekannte Siedlung mit ihren für die Zeit innovativen Ideen und Konzepten in Erinnerung rufen werden. Das Wien Museum und die Wiener Wohnbauforschung wurden als Kooperationspartner gewonnen. Letztere übernahm zum Großteil auch die Finanzierung.
Die Ausstellung in der Duplexwohnung in der Scottgasse 5 geht von den Erinnerungen und Erfahrungen der ZeitzeugInnen aus, rahmt diese mit einer Geschichte der Siedlung und erzählt vom Wohnen und Leben in Floridsdorf in den ersten Nachkriegsjahrzehnten.
Die Siedlung Siemensstraße war nach der Mitwirkung an der Per-Albin-Hansson Siedlung in Favoriten das Alterswerk des Architekten Franz Schuster. In ihr griff er auf Konzepte der Siedlungsbewegung in Wien, wie auf seine Erfahrungen mit dem modernen Städtebau in Frankfurt der 1920er- und 1930er-Jahre zurück. Schuster durchlief eine in mehrfacher Beziehung beispiellose Karriere als Architekt. Das betrifft sowohl eine fünf Jahrzehnte überspannende Bautätigkeit mit einzelnen, nach wie vor hochgeschätzten Werken als auch seinen atemberaubenden Wechsel zwischen den politischen Regimen. Als junger Architekt, im Denken von links kommend, war er in der Siedlungsbewegung nach dem Ersten Weltkrieg aktiv, u.a.mit Adolf Loos, Margarete Schütte-Lihotzky, Josef Frank und vor allem seinem langjährigen Partner Franz Schacherl. Mit ihm entwarf er die Siedlung Am Wasserturm in Favoriten oder die Siedlung Kriegerheimstätte in Hirschstätten.
Er baute an zwei Gmeindebauanlagen mit und verließ wie Schütte-Lihotzky oder Franz Brenner anschließend die Stadt in Richtung Frankfurt. 1929 errichtete er in Wien in enger Abstimmung mit der Pädagogin Lili Roubicek den Montessori-Kindergarten am Rudolfsplatz, wo später auch Anna Freud Seminare für KindergartenpädagogInnen anbieten sollte. Bei dieser Aufgabe ging es um den Entwurf eines Raumes, in dem die Kinder dem reformpädagogischen Anspruch gemäß durch altersgerechte Möblierung zur Selbsttätigkeit und Selbstständigkeit ermuntert werden sollten.
Trotz seiner linken Vergangenheit wurde Schuster 1936 als Nachfolger von Josef Hoffmann zum Professor an der Kunstgewerbeschule (heute Universität für angewandte Kunst). 1938 gelang ihm wiederum mühelos die Fortsetzung seiner Karriere im Nationalsozialismus. U. a. beteiligte er sich an einem Projekt zur Schleifung der Leopoldstadt und zum Bau eines riesigen Aufmarschplatzes der Partei. Nach 1945 zählte er wiederum zu den maßgebenden Planern und Architekten des Wiederaufbaus in Wien.
Kuratorisches Team: Wolfgang Fichna, Susanne Reppé, Werner Michael Schwarz, Georg Vasold, Susanne Winkler
Gestaltung: Lisa Ifsits, Alex Kubik
Ausstellungsort: Scottgasse 5, Stiege 107/1, 1210 Wien
Öffnungszeiten nach Voranmeldung jeweils Freitag (außer Feiertag): 12:00 bis 18:00 und nach Termin-Vereinbarung bei wohnpartner unter 01/24 503-21080 (Mo. bis Fr. 9:00 bis 16:00) oder lokal21@wohnpartner-wien.at
Eintritt frei!
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