Website Suche (Nach dem Absenden werden Sie zur Suchergebnisseite weitergeleitet.)

Hauptinhalt

Susanne Breuss, 25.3.2020

Alltagsritual Grüßen

Küss die Hand, Bussi, Baba – Grüßen mit und ohne Corona

Social Distancing ist das Gebot der Stunde. Seit der Virus SARS-CoV-2 , vulgo Corona, die Welt in Atem hält (oder ihr vielmehr den Atem nimmt), haben viele unserer bisherigen Selbstverständlichkeiten ihre Gültigkeit verloren. Das betrifft auch unsere gewohnten Begrüßungs- und Verabschiedungsrituale: Vom sozialen Kitt sind sie zu einer potentiellen Gefahr für die Gesellschaft geworden.

Rituale und Gewohnheiten

„Der Gruß ist die Urzelle der gesellschaftlichen Form. In ihm sind alle jene Bedingungen keimhaft enthalten, die sich später, im Laufe des Verkehrs, immer reicher entwickeln.“ So ein Benimmbuch aus dem Jahr 1932. Aus der heutigen Perspektive entfaltet diese Definition eine Doppeldeutigkeit, die damals nicht intendiert war: Angesichts der Gesundheitsbedrohungen durch den Corona-Virus und des dadurch gebotenen Verzichts auf Körperkontakte, denkt man hier nicht nur an die sozialen Bedeutungen des Grüßens. Da viele unserer Grußformen mit Körperkontakt verbunden sind, fördern Sie die Verbreitung des Krankheitserregers. Um die Keime daran zu hindern, immer reicher ihre schädlichen Wirkungen zu entwickeln, gilt jetzt: Kein Händeschütteln, keine Küsschen links und rechts, keine Umarmungen, kein Schulterklopfen. 

Das Grüßen zählt zu jenen Alltagsritualen, die so stark in unserem Habitus verankert sind, dass sie sich meist unreflektiert, quasi automatisch vollziehen. Genau das bereitet jetzt so manchem Probleme, dieses abrupte Ausbrechen aus den gewohnten Handlungsabläufen, Kommunikationsmustern und Höflichkeitsnormen. Aber: Wie alle unsere kulturellen Vertrautheiten stellen auch die jeweils praktizierten Grußformen nur einige wenige Möglichkeiten von vielen dar. 

Ein Blick in andere Kulturen ebenso wie in die Vergangenheit zeigt, dass die Menschheit eine enorme Vielfalt an Begrüßungs- und Verabschiedungspraktiken hervorgebracht hat und keine von ihnen in Stein gemeißelt ist. Gemeinsam ist ihnen allen die soziale Grundbedeutung des Grüßens, nämlich die zwischenmenschliche Begegnung zu erleichtern und zu regulieren. Die konkrete Ausformung ist eine Angelegenheit des jeweiligen kulturellen und historischen Kontextes. Man könnte es auch so formulieren: Jede Gesellschaft, jede Gruppe, jede Situation verfügt über jene Begrüßungsformen, die sie benötigt. Die sich daher immer wieder vollziehenden Veränderungsprozesse passieren einmal schneller, einmal langsamer – in Corona-Zeiten sehr schnell und sehr bewusst, auch wenn es dabei noch zusätzlich individuelle Anpassungsgeschwindigkeiten oder auch Verweigerungshaltungen gibt. 

„Komm, gib mir deine Hand...“

Zu unseren wichtigsten Begrüßungsritualen zählte bis vor wenigen Wochen das Handreichen oder Händeschütteln, eine in westlichen Gesellschaften generell weit verbreitete Art des Grüßens. Der Händedruck ist eine gleichheitsbetonte Grußgebärde, die sich ursprünglich aus dem Handschlag als Rechtsgebärde entwickelt hat. Er stellt Verbindlichkeit ebenso her wie er in früheren Zeiten wohl auch friedliche Absichten demonstrieren sollte, indem man dem Gegenüber die waffenlose Hand zeigte und darbot.

In dem bereits zitierten Benimmbuch von 1932 heißt es unter der Überschrift „Ein Händedruck sagt mehr als viele Worte“: „Die schönste Form des Grußes ist der Händedruck; eine flüchtige körperliche Berührung als gesellschaftliches Symbol der beschlossenen Gemeinschaft zweier Menschen.“ Neben verschiedenen Tipps für die richtige Anwendung dieses Grußes wird auch gewarnt: „Eine dargereichte Hand nicht zu ergreifen, gilt als eine der schärfsten Formen gesellschaftlicher Ablehnung.“ Daher müsse man sich etwa bei einer Verletzung unbedingt ausdrücklich entschuldigen, wenn man die Hand deswegen nicht zu reichen imstande ist. 

Dass der Händedruck vielfach bis heute nicht nur als Höflichkeitsgeste, sondern darüber hinaus als wichtiger Bestandteil unserer kulturellen Identität verstanden wird, haben auch die Integrationsdebatten der letzten Jahre gezeigt, indem die religiös oder kulturell begründete Verweigerung desselben als Integrationsverweigerung interpretiert wurde. Noch vor kurzem konnte man manche Menschen auch vor den Kopf stoßen, wenn man mit Verweis auf den Grippe- oder den Corona-Virus auf das Händeschütteln verzichten wollte - trotz der bereits bekannten Gesundheitsgefahren galt diese Vorsichtsmaßnahme dennoch so manchem als persönlicher Affront, als Verstoß gegen die Höflichkeit, oder aber als Ausdruck von Hysterie. 

Das dürfte sich nun gravierend und voraussichtlich längerfristig ändern. Bundespräsident Alexander van der Bellen hat es bereits vorgemacht und eingemahnt: Zumindest in absehbarer Zeit müssen wir auf andere Begrüßungsformen ausweichen. Er selbst wählte eine in verschiedenen asiatischen Ländern wie Thailand, Japan oder Indien verbreitete Geste, indem er eine leichte Verbeugung mit den auf Brusthöhe aneinandergelegten Handflächen kombinierte.

„Küss die Hand, gnädige Frau“

Was für das Händeschütteln zu beachten ist, gilt auch für den Handkuss: In Zeiten von Corona ist er tabu. Er zählt heutzutage zwar ohnehin nicht mehr zu den verbreiteten Grußformen und gilt als altmodisch und konservativ. Gerade in Wien ist er aber noch vergleichsweise präsent – wenn auch weniger in der Alltagspraxis als im kollektiven Gedächtnis. Seine zumindest historische Relevanz für die hiesigen Umgangsformen (Wien zählte zu den Hochburgen der Handkusspraxis) zeigt sich etwa daran, dass noch im Jahr 1969 das Cover der damals aktuellen Auflage  der  Wiener Benimm-Bibel, „dem Elmayer“, ein Handkuss-Foto zierte. Im entsprechenden Kapitel heißt es: „Der Handkuß ist ein Erbe aus dem einstigen Hofzeremoniell, viel gescholten und doch noch immer ein Merkmal feiner Umgangsformen.“ Wiewohl nicht immer und überall am Platz, so sei er doch ein Zeichen von Takt und Geschmack – und so möge man ihn auch ausführen: „Der Herr ergreift die von der Dame dargebotene Hand, neigt sich über sie und berührt mit den Lippen leicht den Handrücken. Die Hand wird nicht hochgehoben, die Lippen werden nicht gespitzt, der Kuß verursacht kein Geräusch. Behält die Dame den Handschuh an, so bleibt der Kuß eine Andeutung.“

Apropos Damen: Ursprünglich war der Handkuss keine galante Geste eines Mannes gegenüber einer Frau, sondern ein Zeichen der Unterwerfung und der Ehrerbietung gegenüber einer Obrigkeit und somit Ausdruck gesellschaftlicher Ungleichheit. Erst in der Barockzeit wurden auch Frauen zu Empfängerinnen von Handküssen und ihre Bedeutung begann sich zunehmend in die bis heute vorherrschende galante Praxis zu verschieben. Frauen müssen laut Anstandsregeln einen Handkuss nicht akzeptieren, diesen dann aber höflich und rechtzeitig zurückweisen und sie dürfen ihn keinesfalls gleichzeitig einem anderen Herrn gewähren – so ein „Gesellschaftlicher Wegweiser für alle Lebenslagen“ aus dem Jahr 1930. 

Überspringe den Bilder Slider
Springe zum Anfang des Bilder Slider

Aus der aktuellen Perspektive ist an diesem Ratgeber besonders interessant, dass er auch hygienische Aspekte thematisiert, die zur Einschränkung des Handkusses geführt hätten. Auch hinsichtlich anderer Begrüßungsküsse wurde gemahnt: „Erwachsene sollen Kinder aus hygienischen Gründen nicht auf den Mund, sondern auf Stirn oder Wange küssen.“ Es ist kein Zufall, dass damals mit Hygiene argumentiert wurde. Als sich nach dem Ersten Weltkrieg neue gesellschaftliche Normen etablierten, die teils ganz bewusst einen Bruch mit der Vorkriegsgesellschaft bedeuteten, spielte auch ein neues Gesundheits- und Körperbewusstsein eine wichtige Rolle - Hygiene galt nun in breiten Bevölkerungskreisen als zentraler Bestandteil der modernen Alltagskultur. Ein gutes Beispiel dafür also, wie gesellschaftliche Ausnahmesituationen - im damaligen Fall der Krieg genauso wie die massenhaft auftretenden Infektionskrankheiten wie Tuberkulose oder Spanische Grippe - zum Wandel der gewohnten Alltagspraktiken führen können.

Habe die Ehre, Freundschaft, Gesundheit

Neben dem Händeschütteln haben sich in den letzten Jahrzehnten als informellere Begrüßungsvarianten das Umarmen und Wangenküssen eingebürgert. Während das früher weitgehend auf die engere Familie und Verwandtschaft beschränkt war, hat es sich zwischenzeitlich auch auf freundschaftliche und teilweise sogar auf berufliche Kontakte ausgedehnt. In Zeiten von Corona ist freilich auch das zu unterlassen. 

Was dann noch bleibt? Eine ganze Reihe von verbalen und gestischen Grußformen, die ohne Körperkontakt auskommen. Die entsprechende Schatzkiste ist prall gefüllt, nicht zuletzt infolge einer unter anderem durch Globalisierung und Migration verstärkt heterogenen Bevölkerungsstruktur. Es kann auf alte, bereits ausgemusterte Formen zurückgegriffen und völlig Neues kreiert werden. Möglicherweise halten sich die derzeit häufig zu hörenden und zu lesenden Gesundheitswünsche bei Verabschiedungen längerfristig.

Zeiten der Krise sind jedenfalls stets Zeiten der Veränderungen und diese können aktiv gestaltet werden. Begrüßungsrituale mögen in diesem Zusammenhang als banale Nebensächlichkeit erscheinen. Sie sind allerdings immer ein Ausdruck der sozialen Strukturen und Prozesse einer Gesellschaft und verweisen somit auf deren Krisen und Brüche ebenso wie auf deren Krisenbewältigungsversuche.

Wenn ein sich massenhaft ausbreitender Krankheitserreger körperferne Kommunikation notwendig macht, um Ansteckungen zu vermeiden, so knüpfen daraus resultierende alternative körperferne Grußpraktiken wiederum genau dort an, wo die prinzipielle Bedeutung des Grüßens liegt: eine sichere Situation für die zwischenmenschliche Begegnung herzustellen. Sicherheit kann in diesem Zusammenhang unterschiedliches bedeuten: Waffenlosigkeit und Gewaltverzicht oder die Vergewisserung gegenseitiger Anerkennung und Gleichrangigkeit ebenso wie die Vermeidung von Gesundheitsgefährdungen. 

Susanne Breuss studierte Europäische Ethnologie, Geschichte, Philosophie und Soziologie an der Universität Wien und an der TU Darmstadt und war von 2004 bis 2023 Kuratorin im Wien Museum. Sie unterrichtet an der Universität Wien und schrieb für die Wiener Zeitung. Im Zentrum ihrer Arbeit stehen historische und gegenwärtige Alltagskulturen sowie museologische Fragen. 

Kommentar schreiben

* Diese Felder sind erforderlich

Kommentare

Keine Kommentare