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Jakob Lehne, 21.11.2023

Arthur Conan Doyle in Wien

Indizienbeweise

Mit Sherlock Holmes wurde er weltberühmt. Als Medizinstudent in Wien konnte er sich das Hotel Kummer nicht leisten – und wohnte dann in der Universitätsstraße nahe des AKH. Arthur Conan Doyle, 1891: eine Spurensuche zwischen Uni und Eislaufplatz.

Viele Jahre nach Sigmund Freuds Tod erinnerte sich einer seiner berühmtesten Patienten, der Russe Sergei Konstantinovitch Pankejeff (in der Freud-Literatur als „Wolfsmann“ bekannt),  an eine bemerkenswerte Unterhaltung mit ihm:  „Einmal kamen wir auf Conan Doyle und die von ihm geschaffene Figur des Sherlock Holmes zu sprechen. Ich dachte, dass Freud diese Art leichter Lektüre überhaupt ablehne, und war daher überrascht, dass dies keineswegs der Fall war und dass Freud auch diesen Schriftsteller recht aufmerksam gelesen hatte. Da ja auch in der Psychoanalyse die Rekonstruktion einer Kindheitsgeschichte ʽIndizienbeweiseʼ heranziehen muss, interessierte sich Freud offenbar auch für diese Art der Literatur.“

Ob Freud wirklich aus diesem oder einem anderen Grund Detektivgeschichten las, wird sich vermutlich nicht mehr klären lassen, fest steht aber, dass die beiden literarisch aktiven Ärzte, Conan Doyle und Freud, mehr verband als eine Liebe zum Detail. Sie hatten eigenartig verzahnte Leben, ja einige Wochen sogar in Gehdistanz zueinander in Wien gelebt.

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Schon mit 16 Jahren kommt Arthur Conan Doyle zum ersten Mal nach Österreich, nicht nach Wien, sondern nach Vorarlberg. Als Austauschschüler der von den Jesuiten geleiteten englischen Schule Stonyhurst verschlägt es ihn 1875 an das in Feldkirch gelegene Jesuitenkolleg Stella Matutina. Hier gefällt es ihm außerordentlich gut. Die Landschaft sei schön, schreibt er seinen Eltern, und auch das Bier, das die Jugendlichen schon in größeren Mengen konsumieren, sei viel besser als in England. Deutsch lernt er, trotz zahlreicher englischsprachiger Kollegen, schnell, und er entdeckt seine Liebe zu verschiedenen Wintersportarten. Vor allem das Eislaufen hat es ihm angetan, und er behält die Monate in Vorarlberg Zeit seines Lebens in guter Erinnerung.

Zurück in Schottland studiert Conan Doyle Medizin. Danach unternimmt er ausgedehnte Reisen als Schiffsarzt, unter anderem in die Arktis und an die westafrikanische Küste, bevor er sich als praktischer Arzt zuerst in Plymouth und dann in Portsmouth selbstständig macht. Daneben betätigt er sich immer ernsthafter als Schriftsteller. Schon zu Schulzeiten in Vorarlberg hatte er kurze literarische Texte verfasst, nun schreibt er historische Novellen, manchmal auch populärwissenschaftliche Artikel und natürlich Detektivgeschichten: wie jene von Sherlock Holmes und Dr. Watson (Doyles alter Ego), die 1886 zum ersten Mal gedruckt werden.   

Wenn er nicht schreibt, so liest er, auch über neue medizinische Errungenschaften und Forschungen. Wahrscheinlich (so vermuten einige seiner Biografen) stößt er dabei auch auf eine große, in Wien losgetretene Diskussion über einen neuartigen medizinischen Wirkstoff: Kokain. 1884 demonstriert der Wiener Augenarzt Karl Koller am Allgemeinen Krankenhaus, wie eine zweiprozentige Kokainlösung als lokales Betäubungsmittel bei Augenoperationen verwendet werden kann. Es ist eine revolutionäre Entwicklung, die die Ophthalmologie verändert, ihrem Entdecker mehrere Nominierungen für den Nobelpreis einbringt und Fragen nach weiteren Verwendungsmöglichkeiten aufwirft.

Den umfangreichsten Beitrag zu dieser Diskussion, der weit über die Augenheilkunde hinausgeht, liefert ein Jahr später Sigmund Freud. „Über Coca“ ist die 1885 erschienene Schrift betitelt, die sich mit der Geschichte der Substanz, aber auch mit der – im kontinuierlichen Selbstversuch festgestellten – Wirkung auf den Autor auseinandersetzt. Auch Conan Doyle ist vom Kokain und diesen Forschungen fasziniert und lässt in seiner 1890 erschienenen Geschichte Im Zeichen der Vier Holmes (mit seinem „sehnigen Unterarm und dem Handgelenk mit all den sichtbaren und vernarbten Einstichpunkten“) und Watson über Pro und Kontra der neuartigen Substanz diskutieren.

Doch auch in seinem Brotberuf wird Conan Doyle mit dem Thema konfrontiert. Denn nach langen Jahren als praktischer Arzt überlegt er sich eine Spezialisierung in der Augenheilkunde. Nur ein kurzer Studienaufenthalt in einer anderen europäischen Stadt sei notwendig, erklärt ihm ein befreundeter Arzt, um danach eine Praxis in London aufmachen zu können. Conan Doyle weiß auch schon, wie er sie bewerben wird: „studied in Vienna“ ist mehr als ausreichend. Gesagt, getan. Conan Doyle gelingt es, seine Frau zu einer großen Reise nach Wien, dem damaligen „Mekka der Augenheilkunde“, zu überreden und ihre gemeinsame Tochter für ein halbes Jahr bei der Großmutter in Southend-on-Sea zu lassen.  

Nach einer langen Reise erreichen die Doyles am 5. Jänner 1891 den Wiener Westbahnhof. Das Wetter war betont schlecht, Conan Doyle wird in seiner Autobiografie von einem „Blizzard“ sprechen. Am Bahnhof warten die Vertreter unterschiedlicher Herbergen und werben um Kundschaft. Auch der Omnibus des nahegelegenen Hotel Kummer ist da. 120 „elegante und im höchsten Komfort eingerichtete“ Zimmer verspricht das auf der Mariahilfer Straße gelegene Hotel in seinen Anzeigen und eine Lage in unmittelbarer Nähe zu den „neuen Museen“. So neu, dass eines davon (das KHM) noch nicht einmal eröffnet ist. Diese Details sind Conan Doyle aber vermutlich egal. Er schwärmt noch Jahre später vom nach Tabak riechenden Restaurant, in dem er sich, wohl auch mithilfe des überall angepriesenen Hausweins, von den Reisestrapazen erholt.

Doch das Hotel Kummer ist nicht nur renommiert, sondern auch teuer, und so begeben sich Arthur und Touie Doyle schon am nächsten Tag auf die Suche nach einer günstigeren Bleibe. Sie werden in der Universitätsstraße 6 fündig. Es ist eine Gegend, die – in der Nähe des Allgemeinen Krankenhauses – gelegen, hauptsächlich Universitätsangestellte anzieht (auch Sigmund Freud wird einige Monate später vom Schottenring in die nur knapp zehn Minuten entfernte Berggasse 19 ziehen). Die Vollpension der „Madame Bonfort“ ist mit vier Pfund pro Woche relativ günstig und wird hauptsächlich von englischen und amerikanischen Studierenden frequentiert. Zwei Betten, ein Sofa und einen weißen Kachelofen gibt es hier, wie Doyle notiert, ja sogar einen kleinen Schreibtisch,  um dem angehenden Ophthalmologen die Arbeit zu erleichtern. 

Die Augenheilkunde der Kaiserstadt wird zum damaligen Zeitpunkt international geschätzt, doch intern kann die Lage als politisch angespannt beschrieben werden. Ja, es herrschen Zustände, die einem Besucher aus Großbritannien doch einigermaßen befremden mussten. Nicht lange vor Conan Doyles Eintreffen hatte die Klinik ihre vielleicht bekannteste Nachwuchshoffnung verloren. In einem heftigen Streit über die sachgerechte Bandagierung eines Patienten hatte ein Kollege den Erfinder der Lokalanästhesie, Karl Koller, als „Saujud“ bezeichnet. Dieser antwortete mit einem Faustschlag. Beide Ärzte sind Offiziere der Reserve und so kommt es im Anschluss zu einem ebenso unvermeidbaren wie illegalen Säbelduell. Koller gewinnt und obwohl die Freude groß ist – Freud schreibt seiner Frau, es sei „ein großer Tag für uns“ – wissen doch alle, dass seine Karriere in Wien vorbei ist (er geht in die Niederlande und später in die USA).

In starkem Kontrast zu diesen archaischen Umgangsformen steht die internationale Offenheit der Wiener Fakultät. Besonders in der Augenheilkunde bemüht man sich schon früh um internationale Forscher und Gäste. Der spätere Vorstand der II. Augenklinik und Kollers Chef, Ernst Fuchs, hatte schon 1878 begonnen, seine Kurse im Sommer auf Englisch anzubieten. Bald sprießen englischsprachige Angebote, die außerhalb des „normalen Curriculums“ angeboten werden, in allen Fachgebieten aus dem Boden. Manchen haftet ein durchaus zweifelhafter Ruf an. Ein amerikanischer Zeitzeuge beschreibt einige der Lehrenden als „second-rate men, who talk second-rate English“. Der medizinischen Anziehungskraft Wiens tut dies keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil, jedes Jahr melden sich mehr Studierende aus England und den USA an. Im Wintersemester 1890/1891, als Conan Doyle nach Wien kommt, sind es schon über 120.

Doyle selbst ist jedoch nicht darunter. Mit seiner Ankunft im Jänner hat er die Inskriptionsfrist verpasst und kann sich nur mehr für Kurse, die am AKH selbst unterrichtet werden, melden. Auch seine Motivation scheint rapide abzunehmen. In seiner Autobiografie schreibt er, dass er sich zwar für Kurse angemeldet habe, jedoch an seinem schlechten Deutsch gescheitert sei. Das dürfte nur bedingt der Realität entsprechen, vielmehr beschäftigt in seine zweite Karriere. Gleich nach seiner Ankunft in Wien hatte er sich darangemacht, die Novelle „The doings of Raffles Haw“ (fertig) zu schreiben, die ihm im Februar für 150 Pfund abgekauft wird. Kritiker schreiben später, es sei für die mangelnde Qualität der Geschichte ein durchaus hoher Preis gewesen. Doch sie zeigt, dass zum ersten Mal nicht der Inhalt, sondern der Name „Conan Doyle“ gefragt ist.

In den folgenden Wochen stürzt sich der aufstrebende Autor, befreit vom akademischen Druck, ins Wiener Gesellschaftsleben. Die Eislaufmöglichkeiten Wiens seien exzellent, wird er berichten, und er vernetzt sich im Besonderen mit der englischen Elite. Mit Brinsley-Richards, dem Wien Korrespondenten der Times, unterhält er sich ausgiebig und angeregt, und auch am anglo-amerikanischen Ball, der Ende Jänner im Hotel Kaiserhof stattfindet, ist Conan Doyle zugegen. Die Wiener Bälle und ihre Klientel dürften ihn auch literarisch inspirieren. Denn nur kurze Zeit später erscheint eine weitere Sherlock Holmes Erzählung, deren österreich-ungarischer Einfluss leicht zu erkennen ist. In der Geschichte „Ein Skandal in Böhmen“ muss Holmes einen deutschen Text entziffern und dem fiktiven König von Böhmen mit dem noch fiktiveren Namen „Wilhelm Gottsreich Sigismond von Ormstein, Grand Duke of Cassel-Felstein“ helfen.

Im März, früher als ursprünglich geplant, beenden die Doyles ihren Aufenthalt in Wien und machen sich über Mailand und Paris auf den Weg nach London, wo Conan Doyle eine kleine Praxis eröffnet. Der Erfolg hält sich in Grenzen. In klassischer Übertreibung schreibt Conan Doyle später „kein einziger Patient“ habe je den Weg dorthin gefunden. Doch umso mehr lesen nun seine Bücher, und nur wenige Monate später kann Conan Doyle der Medizin ganz den Rücken kehren. Auch nach Wien wird er nicht zurückkommen, wiewohl sich seine Werke im Druck wie auf der Bühne größten Erfolges erfreuen. Sein berühmtester Romanheld, Sherlock Holmes, freilich wird die lange Reise noch einmal unternehmen. Im 1974 erschienenen Buch „The-seven-percent-solution“ des amerikanischen Autors Nicholas Meyer (das 1976 erfolgreich verfilmt wurde) zwingt Watson ihn, sich endlich von seiner Kokainsucht heilen zu lassen – und wer könnte das besser als Sigmund Freud?

Literaturhinweise:

Arthur Conan Doyle: Memories and Adventures: an Autobiography. Boston, 1924

Sigmund Freud, Briefe 1873-1939, Frankfurt a.M., 1968

Muriel Gardiner-Buttinger, „Der Wolfsmann vom Wolfsmann: Sigmund Freuds berühmtester Fall, Erinnerungen, Berichte, Diagnosen.“, Frankfurt a.M., 1972

Alexander N. Howe, It didn't mean anything: a psychoanalytic reading of American detective fiction London, 2008.

Andreas Jacke, Mind Games: Über literarische, psychoanalytische und gendertheoretische Sendeinhalte bei A.C.Doyle und der BBC-Serie Sherlock, Wiesbaden, 2017

Karl Koller, Ueber die Verwendung des Cocain zur Anästhesirung am Auge, Wiener Medizinische Wochenschrift, 43, Wien, 1884

Andrew Lycett, The Man Who Created Sherlock Holmes: The Life and Times of Sir Arthur Conan Doyle, New York, 2007

Howard Markel, An anatomy of addiction: Sigmund Freud, William Halsted, and the miracle drug, cocaine. New York, 2012.

Russell, Miller, The Adventures of Arthur Conan Doyle. New York, 2008.

Sonja Osterwalder, Düstere Aufklärung: Die Detektivliteratur von Conan Doyle bis Cornwell. Wien, 2011

William G. Rothstein, American medical schools and the practice of medicine: A history. Oxford, 1987

Gabriela Schmidt-Wyklicky, Ernst Fuchs (1851-1930) und die Weltgeltung der Wiener Ophthalmologischen Schule um 1900 Wien, 2021

Philipp Schöbi, Sherlock Holmes an der Stella Mattutina, Montfort, Vierteljahresschrift für Geschichte und Gegenwart Vorarlbergs, 61. Jahrgang, Heft 4, Dornbirn 2009

ANNO

Archiv der Universität Wien, besonderer Dank an Dr. Nina Knieling

Jakob Lehne hat in London und Berlin studiert und am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz in Geschichte promoviert. Er forscht und publiziert zu unterschiedlichen Themen in der Geistes-, Medizin- und Kulturgeschichte und ist seit 2023 Kurator am Wien Museum.

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Kommentare

Helmut Rauscher

Sehr interessanter Artikel!
Danke. Viele Details, die ich nicht gekannt habe.