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Elke Wikidal, 14.5.2020

Aufbruchsstimmung im Frühjahr und Sommer 1955

Die Welt zu Gast in Wien

Kaum ein Jahr in der österreichischen Geschichte des 20. Jahrhunderts wird so positiv erinnert wie 1955. Es gilt als ein Jahr der Freude, ein „Annus mirabilis“, eine Zeit des „österreichischen Wunders“.

Politische Unabhängigkeit, ungebremstes Wirtschaftswachstum, neue Freiheiten durch beschleunigte Mobilität, verlockendes Konsumvergnügen und Rekordzahlen im Tourismus prägten das Staatsvertragsjahr 1955. Vor 65 Jahren war der Blick auf die Zukunft gerichtet, zur Vergangenheit hingegen sollte ein deutlicher und endgültiger Schlussstrich gezogen werden.


Das „österreichische Wunder“ - Wiederaufbau und Wirtschaftsaufschwung


Unmittelbar nach Kriegsende gelang Österreich im April 1945 eine rasche Wiederherstellung demokratischer Strukturen. Gleichzeitig verblieb die neu gegründete Zweite Republik in starker Abhängigkeit der vier alliierten Mächte, die als Befreier ins Land gekommen waren und bald als Besatzer empfunden wurden. Wirtschaftlich und sozial war die Zukunft zunächst völlig ungewiss. Zu Kriegsende herrschten Not und Hunger, Wohnungen und die Infrastruktur waren durch Bombenschäden massiv beeinträchtigt. Als in den späten 1940er Jahren ein allmählicher Wirtschaftsaufschwung einsetzte, lag das maßgeblich an den Unterstützungen seitens der Alliierten, insbesondere am European Recovery Program (ERP) der USA. Eine Milliarde Dollar in Form von Krediten und Sachlieferungen erhielt die Republik im Rahmen dieses von US-Außenminister George Marshall initiierten Hilfsprogramms zum Wiederaufbau Europas. Österreich profitierte davon überproportional stark und Politiker betonten mehrfach diese „hilfreiche Hand zum Wiederaufstieg“ (so Bundeskanzler Julius Raab).

Ganz uneigennützig waren die US-Hilfsprogramme freilich nicht, sollte doch die Marktwirtschaft als erfolgreiches Modell gegenüber der sowjetischen Planwirtschaft beworben werden. Konsumgüter, Hollywood Filme, Jazz, Coca Cola oder Nylonstrümpfe weckten jenen Traum vom „American way of life“, der ein Leben in Wohlstand und Freiheit versprach. Ab 1953 beschleunigte sich der Wirtschaftsaufschwung in geradezu wundersamer Weise, neue verlockende Konsumgüter wurden nun für viele erschwinglich. Das galt insbesondere für die „modernen Heinzelmännchen und Wundermaschinen“, die Elektro- und Haushaltsgeräte, die ein neues Zeitalter des elektrifizierten Haushaltes einleiteten und deren Verkaufszahlen Mitte der 1950er Jahre fast explosionsartig anstiegen.

In der Zeit wirtschaftlichen Aufschwungs drängte Österreich zunehmend auf politische Unabhängigkeit. Es verstrichen viele Jahre mit zahlreichen enttäuschenden Sitzungen zum Thema Staatsvertrag. Schließlich kam doch noch Bewegung in die festgefahrenen Verhandlungen, als die Sowjets nach dem Tod Stalins vor dem Hintergrund des Kalten Krieges eine weltpolitische Neuausrichtung im Sinne einer „friedlichen Koexistenz“ vornahmen. Nach mehr als 350 erfolglosen Sitzungen gelang schließlich im April 1955 der entscheidende Durchbruch. Der Staatsvertrag war nun zum Greifen nahe und beim Maiaufmarsch 1955 verkündete ein verheißungsvolles Transparent am Rathaus: „10 Jahre für ein freies Volk in freiem Land gekämpft.“

15. Mai 1955: „Österreich ist frei"

Das österreichische Volk erlebte „den Triumph seines jahrzehntelangen zähen Kampfes um seine Freiheit und Unabhängigkeit“, so bejubelte die Wiener Zeitung den 15. Mai 1955, einen trüben und regnerischen Sonntag. Die Außenminister der alliierten Mächte und Österreichs segneten den zuvor in Wien ausverhandelten Vertrag ab und unterzeichneten ihn im Rahmen eines Staatsaktes im Marmorsaal des Oberen Belvedere. Die emotionalen Worte von Außenminister Figl haben sich tief ins kollektive Gedächtnis eingeprägt: „Und mit Freude rufen wir aus: Österreich ist frei!“ Wer kennt nicht die Bilder der freundlich winkenden Staatsmänner auf dem Balkon und der rot-weiß-rote Fähnchen und Taschentücher schwingenden Menschenmenge im Belvederegarten? Sie vermitteln Freude und Jubel über ein Ereignis, dem, folgt man den Zeitungskommentaren, gleichsam überirdische Dimensionen zugeschrieben wurde: „Als die Außenminister auf dem Balkon standen, durchbrach ein Sonnenstrahl die Wolkendecke und ließ die Häuser der Stadt feierlich erglänzen. Jubelrufe, immer wieder Jubelrufe!“ (Wiener Zeitung).

Der legendär gewordene Satz „Österreich ist frei“ aus der Ansprache Figls im Marmorsaal und die Freiluftszene der jubelnden Menschen vor dem Balkon verschmolzen zu einem ikonischen Bild von großer symbolischer Strahlkraft. Allerdings sollte es noch einige Jahre dauern, bis sich eine neue österreichische Identität tatsächlich in der Bevölkerung etablieren und festigen konnte.

Die Gäste kommen wieder nach Wien

Die neue Souveränität Österreichs verändere Wien, so Bürgermeister Franz Jonas in seiner Ansprache zur Bedeutung des Staatsvertrages für die Stadt. Er sei vor allem als Appell an die Freunde in der Welt zu verstehen, wieder als Gäste nach Wien zu kommen. Darüber hinaus plädierte Jonas an die Vereinten Nationen und internationalen Organisationen ihre Einrichtungen nach Wien zu verlegen und Wien zu einer Kongressstadt zu machen. Der internationale Fremdenverkehr vermag über den rein wirtschaftlichen Aspekt hinausgehend eine friedensstiftende Funktion zu erfüllen. Die Wiener Bevölkerung solle sich in den Dienst der internationalen Völkerverständigung stellen, am besten als „Fremdenverkehrskavaliere“ mit werbewirksamem Wiener Charme.

Enthusiastisch berichtete das Amtsblatt der Stadt Wien über neue Rekordzahlen im Tourismus, Ende des Jahres zählte man bereits über eine Million Übernachtungen. Mitte Juni 1955 beschloss der Wiener Landtag ein Fremdenverkehrsförderungsgesetz, das mit einer Neuorganisation des Tourismus auch zielgerichtete Werbeaktionen umsetzte. Presse, Rundfunk, Plakate und Prospekte in mehreren Sprachen gehörten ebenso dazu wie ein moderner Informationskiosk der Fremdenverkehrsstelle in der neu errichteten Opernpassage. Selbstbewusst warb die Stadt um internationales Publikum, so auch anlässlich  der Eröffnung der Festwochen im Juni 1955: „Das freie Wien des Jahres 1955 ist längst keine Stadt des ‘Dritten Mannes‘ oder der persönlichen Unsicherheit mehr, es ist wie eh und je die Stadt der Musik, der schönen Künste, des Frohsinns (…).“ Es war auch einer neuen Reisemobilität zu verdanken, dass nun wieder mehr Gäste aus dem Ausland nach Wien kamen, die immer häufiger mit dem privaten PKW anreisten.

Mitte der 1950er Jahre stieg der Individualverkehr sprunghaft an, das Auto wurde zum Synonym für uneingeschränkte Mobilität und die „autogerechte Stadt“ zum Slogan der Zeit. In der stetig wachsenden Zahl an PKWs brachte das Jahr 1955 besonders hohe Zuwächse, ganze 50 Prozent Steigerung gegenüber dem Vorjahr. Mit der Autowelle, die das städtische Leben rasant beschleunigte, entstanden auch neue Herausforderungen, etwa eine spürbare Parkplatznot, vor allem in der Wiener Innenstadt. Um einen leistungsfähigen Stadtverkehr zu garantieren, mussten verschiedene Verkehrsarten entflochten, Straßenkreuzungen neu geregelt, Unterführungen und Kreisverkehrssysteme konzipiert und Tiefgaragen aushoben werden.

Infrastrukturmaßnahmen gehörten zu den Prestigeaufgaben einer modernen, zeitgemäßen Stadt. Laufend wurde über die Wiederherstellung der Donaukanalbrücken, den neuen Kreisverkehr am Praterstern und vor allem über die Fortschritte an der Riesenbaustelle an der Opernkreuzung berichtet. Stolz verwies man auf die modernsten technischen Innovationen in der im November 1955 eröffneten Opernpassage. Hochmoderne Rolltreppen mit einer Kapazität von mehreren Tausend Menschen pro Stunde, Frischluftkanäle, Geschäftslokale und Espressos sollten einen angenehmen Aufenthalt in der unterirdischen Passage garantieren.

Moderne Infrastruktur bedeutete auch: Die Stadt wird nicht nur schneller, sondern auch höher. 1953 - 1955 entstand an der Stelle eines kriegsbeschädigten Gebäudes am Endpunkt der Ringstraße ein 73 Meter hohes Bürohaus der Wiener Städtischen Versicherung, errichtet nach den Plänen des Architekten Erich Boltenstern. Die Stadt Wien feierte das Hochhaus als baugeschichtliches Ereignis, das die besten Voraussetzungen bot sich als neues städtisches Wahrzeichen zu etablieren. Der schlichte 23-stöckige Turm mit glatter, durch Fenster gerasteter Fassade akzentuiert die Bewunderung für amerikanische Wolkenkratzer und die bewusste Entscheidung für eine moderate moderne Architektur. „Das ist nicht Amerika, das ist Österreich“, verkündete die Wochenschau anlässlich der Eröffnung am 14. Juni 1955. Die spektakulären Eröffnungsfeiern mit Ballettvorführungen am Dach erweckten viel öffentliches Interesse, das sich auch in der großen Nachfrage an öffentlichen Führungen inklusive Ausblick vom 20. Stock spiegelt.

Kulturhauptstadt Wien - international und traditionell


Mit dem Abzug der alliierten Mächte, die auch eine vielfältige, globalisierte Kultur, Weltoffenheit und künstlerische Inspirationen in die Stadt gebracht hatten, ging Wien gewissermaßen ein Stück Internationalität verloren. Umso mehr versuchte sich Wien im Staatsvertragsjahr als freie, kulturbewusste und gleichzeitig internationale Stadt zu präsentieren. Kunst und Musik sollten diesen Anschluss Wiens an die Welt garantieren und die Wiener Festwochen galten als ideale Bühne dafür. In deren Rahmen eröffnete im Juni 1955 die Ausstellung „Europäische Kunst - gestern und heute“. Werke aus europäischen Sammlungen präsentierten die Kunst der Vergangenheit, signalisierten aber auch vorsichtiges Interesse am internationalen Kunstschaffen der Gegenwart. Noch entscheidender war aber Wiens Selbstverständnis als „Welthauptstadt der Musik“, ein wesentlicher Bestandteil eines neuen Selbstbewusstseins Österreichs als Kulturnation. Die musikalische Tradition der Klassik ließ sich auch hervorragend mit einem neuen Österreichpatriotismus verbinden.

Es geht los: Fernsehen in Österreich

Die hohe symbolische Bedeutung des Musiklandes Österreich kam besonders bei der repräsentativen Wiedereröffnung der Staatsoper im November 1955 zum Ausdruck. Es war ein hervorragender Anlass für einen Staatsakt von großer internationaler Aufmerksamkeit, der erstmals auch im neuen Medium Fernsehen übertragen wurde. Von Bundeskanzler Raab noch skeptisch als „Manderl Radio“ unterschätzt, begann das österreichische Fernsehen im Sommer 1955 mit ersten vorsichtigen Versuchsprogrammen. In den Auslagen der Radiohändler wurden die ersten Fernsehgeräte angeboten, teure Apparate mit kleinen Schirmen, die sich kaum jemand leisten konnte. Noch 1959 gab es in Wien nicht wesentlich mehr als 8000 Geräte, die vor allem in Kaffee- und Gasthäuser einzogen und sich zu Publikumsmagneten entwickelten.

Schlussstrich unter die Tragödie

1955 gipfelten die Jahre des wirtschaftlichen Aufschwungs in einem politischen Neuanfang. Hinsichtlich der Vergangenheit galt nunmehr noch deutlicher: Lieber vergessen als erinnern. Baute schon die Unabhängigkeitserklärung vom April 1945 auf eine Opferrolle Österreichs, so wurde diese Haltung im Staatsvertrag fortgeschrieben. Ursprünglich hielt die Präambel des Vertrages fest, „dass Österreich sich einer gewissen Verantwortlichkeit, die sich aus seiner Teilnahme am Kriege ergibt, nicht entziehen kann.“ Doch Außenminister Figl setzte noch am Tag vor der Unterzeichnung eine Streichung des Passus zu Österreichs Mitverantwortung durch. Wenn Figl auch aus innerer Überzeugung als Verfolgter des Nazi Regimes argumentierte und nachvollziehbare vertrags- und völkerrechtliche Argumente vorgebracht wurden, bedeutete dies eine weitere Einzementierung des Opfermythos.

Wiens Bürgermeister Jonas bekräftigte in seiner Ansprache „Wien und der Staatsvertrag“ im Juni 1955 das Narrativ einer abgeschlossenen Vergangenheit. Nach der Rückkehr der letzten Kriegsgefangenen sei der Krieg nun endgültig zu Ende: „Damit können wir den letzten Schlußstrich unter die Tragödie setzen, die unser Volk betroffen hat.“ Somit hatten sich Politik und Gesellschaft für viele Jahre, ja Jahrzehnte, auf ein Ende jeglicher Diskussionen um Verantwortlichkeiten in der Zeit des Nationalsozialismus festgelegt. Der Blick war auf die Zukunft gerichtet und Fragen zur Vergangenheit wurden mit beharrlichem Schweigen, Vergessen und Verdrängen beantwortet.

 

Literaturhinweise:

Amtsblatt der Stadt Wien 1955 (Jg. 60)

Autos verändern die Stadt. Die Motorisierungswelle der 1950er Jahre und ihre Folgen. Ausstellung des Wiener Stadt- und Landesarchivs, Wien 2012.

Das neue Österreich. Die Ausstellung zum Staatsvertragsjubiläum 1955/2005, Wien 2005.

Ferdinand Opll (Hg.): Wie ein Phönix aus der Asche. Wien von 1945 bis 1965 in Bilddokumenten, Wien 2010.

Wiener Zeitung, 15. Mai 1955

Karl Ziak: Wiedergeburt einer Großstadt. Wien 1945 - 1965, München 1965.

Elke Wikidal studierte Kunstgeschichte und Geschichte an der Universität Wien. Sie ist seit 2005 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Wien Museum und vorwiegend im Bereich Objektinventarisierung und Recherche in der Grafik- und Fotosammlung tätig.

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Kommentare

Connert Helga

Liebe Elke, ich habe deinen Beitrag mit großem Interesse gelesen. Spannend geschrieben! Ich bin 1961 nach Wien gekommen und beim Lesen wurden Erinnerungen wach. Auch mein Mann hatte sein Auto neben der Pestsäule geparkt und den Mixer be-kamen wir zur Hochzeit geschenkt.
Liebe Grüße
Helga