Hauptinhalt
Ausgehen im Wien der 80er und 90er
„Am besten sofort“
Flex, Chelsea, U4, B.A.C.H., Nachtasyl, Café Europa, rhiz, Café Alt-Wien, Motto, Roxy, Freihaus, Arena, Szene Wien, Black Market oder Rave Up Records: Wer bei diesen Namen Bauchkribbeln verspürt, der gehört wohl jener Generation an, die in diesem Buch ironisch, elegisch und betont lässig auf eine Zeit zurückblickt, als die Bevölkerungszahl der Stadt am gleichen Tiefpunkt war wie die allgemeine Stimmung, als man sich mit Vierteltelefonen zu verständigen suchte, heutige Hipster-Bezirke im Grau versanken und Internationalität maximal bedeutete, dass Busladungen von Ungarn die Mariahilfer Straße bevölkerten.
So unterschiedlich die in dem Buch versammelten 18 Berichte über mehr oder weniger exzessive Jugend- und Jungerwachsenen-Jahre sind, so gibt es doch einiges, was sie verbindet: Etwa dass Wien zwar furchtbar deprimierend gewesen sei, dass die wenigen alternativkulturellen Oasen in der Stadt dennoch eine Vitalität versprüht hätten, die alle Ölheizungen in den Wohnungen und Hundstrümmerln auf den Straßen retrospektiv in einem rosigen Licht erscheinen lassen. Die Stadt war dumpf, bot aber Nischen, Reibeflächen, Freiräume, Mini-Szenen für ganz unterschiedliche Geschmäcker.
Wer jung ist, hat meist wenig Geld – aber damit ließ es sich doch einigermaßen gut leben, wenn man bescheidene Ansprüche an Wohnqualität und ausgewogene Ernährung hatte und sich zu helfen wusste: „Ich schlängelte mich ab halb drei in Clubs rein, weil da kein Eintritt mehr verlangt wurde; ich wurde von menschenfreundlichen Türsteherinnen wie Parsia Kananian ins WUK geschleust; ich wurde vom Rausschmeißer der Arena gegen ein bescheidenes Bestechungsgeld von 100 Schilling ins ausverkaufte Nirvana-Konzert gelassen“, erinnert sich etwa der Journalist Christian Moser-Sollmann.
Wien ist anders: Der einstige Werbeclaim der Stadt passte nicht zuletzt besonders für jene, die aus den Bundesländern kamen, um den elterlichen Umklammerungen zu entkommen. Hans Platzgumer reiste mit einem Freund drei Tage lang auf einer KTM Quattro von Innsbruck in die Bundeshauptstadt, Endstation war ein Würstelstand am Karlsplatz: „Wien war erobert. Jetzt konnte alles losgehen, am besten sofort.“ Was allerdings ein Problem war, denn man musste sich an den langsamen Rhythmus der Stadt anpassen: Nur ned hudeln statt Vollgas. „Wien war groß genug und klein genug“, beschreibt die ORF-Literaturredakteurin Katja Gasser, aus Kärnten kommend, ihr Gefühl beim Eintauchen in die Stadt.
Ein zentrales Thema: die Suche nach coolen Plätzen, Geschäften, Lokalen. „Was die Wahl des ´richtigen` Plattenladens angeht, hätte man sich viele Demütigungen ersparen können, wenn man gleich ins Rave Up gegangen wäre“, so der Publizist und Drehbuchautor Robert Buchschwenter. Dort konnte sich auch der Musiker und Musikproduzent Christopher Just blicken lassen, anderswo noch nicht. „Heute Abend will ich ins U4 – doch es gibt ein Problem. Ich bin zwölf Jahre alt“, beginnt sein Text, in dem er u.a. die Partynächte im Motto beschreibt, wo er einige Jahre später seine Karriere als DJ startet. Irgendwann schleust ihn ein Kollege dann doch ins U4, vorbei am Conny, der Türsteherlegende des U4 (das von Walter Gröbchen passenderweise als Conny Island bezeichnet wird). Auch Amina Handke versorgte sich im Rave Up mit Platten. „Übrigens, ohne selbst gekaufte Platten kein DJ. Und von denen gab´s nur die, die da waren, also schnell sein und jeden Schas kaufen!“ Noch heute würden sie Leute darauf ansprechen, ob sie nicht vor 35 Jahren im alten Chelsea aufgelegt habe.
Die titelgebende Blue Box in der Richtergasse im 7. Bezirk kommt nicht nur in einigen Texten vor, sondern ist zentral durch ein Interview mit Herbert Molin vertreten, der das einstige Szenelokal 1983 gemeinsam mit Freunden eröffnet hat. Die Idee, den hinteren Raum alle drei bis vier Monate umzugestalten, habe er sich vom Lokal Ring abgeschaut, das gegenüber der Angewandten war und an das man sich heute kaum noch erinnert. Ein „irrwitziges Konzept“, das unglaubliche Energie gekostet habe. Wie auch die „Suche“ nach einem Publikum: Denn das Lokal sei keineswegs von Anfang an „in“ gewesen, „aber irgendwie hat es dann später funktioniert, frage mich nicht, warum. Wahrscheinlich wegen der Musik und weil jeder von uns relativ viele Leute gekannt hat.“
Das Wiener Tageslicht hat in dem Buch wenig Raum bekommen, hie und da blitzen diesbezügliche Details auf, an die man sich aus gutem Grund nicht mehr erinnern will – etwa geschlossene Supermärkte am Samstag. Ein musikalisches Fenster in die Welt war die Musicbox auf Ö3, wo u.a. Werner Geier die Hörgewohnheiten gehörig durcheinander wirbelte. Natürlich durchzieht das ganze Buch jede Menge Name Dropping, von legendären Konzerten bis zu unvergesslichen Barkeeper:innen, die Coolness wird selbstredend in den Texten auch stilistisch zelebriert. Der ebenfalls titelgebende Branntweiner erinnert an den omnipräsenten exzessiven Alkoholkonsum, vom ebenfalls titelgebenden Bermuda Dreieck ist allerdings nur selten die Rede – das war dann im Vergleich zu den genannten Orten doch eher mainstreamig. „Schnösel, Angeber und seelenlose Lokale zogen mich nicht an“, so urteilt darüber Vanessa Wieser, die Initiatorin, Herausgeberin und Verlegerin des Buches (Milena-Verlag), die in ihren eigenen Erinnerungen nicht nur Szenelokale, sondern auch tiefe Festln im Studentenheim und Schnitzeln im Phönixhof beschwört.
Es ist ein unterhaltsames Buch geworden, mit sehr persönlichen, teils auch schrägen Texten, die eine Szene beschreiben, die längst Legende geworden ist. Die Lektüre ist so rasant wie eine Lokaltour bis zur Sperrstund, wo man am liebsten weitermachen würde. Zurück bleibt das Staunen über schnelle Jahre in einer langsamen Stadt. Oder wie es Rainer Krispel, Punk-Legende aus Linz, beschreibt: „Eh, wow, leiwand! Ich habe gelebt, in Wien, ich war unterwegs.“
Das Buch Branntweiner, Blue Box und Bermuda Dreieck (Hg. Vanessa Wieser) ist im Milena Verlag erschienen.
Kommentar schreiben
Kommentare
Lieber Wolfgang, vielen Dank fürs Feedback!!
Liebe(r) Alex Kaliwoda, ebenfalls vielen Dank fürs schöne Feedback und die Korrektur, das stimmt natürlich absolut!! Hab ich soeben korrigiert!
Herzliche Grüße, Peter St.
Sehr schöne Rezension Peter, muss mir gleich mal das Buch organisieren. Da liegt ein großer Teil meiner Jugend vergraben. Legendär etwa für mich: Doris Knecht als Sängerin einer räudigen Band namens "The Pirates" (eventuell ohne "The') im alten Chelsea. Am Schlagzeug der spätere puls4 Chef Markus Breitenecker, wenn ich nicht irre.
Großartige Rezension ! Danke.
Kleine Korrektur : Das Chelsea war nie in der Arndtstraße, es ist wohl das alte FLEX gemeint.