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Angelika Seebacher, 21.10.2020

Ausstellung Natalie Neumaier

Violett im Flug. Vom Lesen und Zeichnenschreiben

Natalie Neumaier kommt durchs Lesen zum Zeichnen. Fragt man die junge Wiener Künstlerin nach ihrem Arbeitsprozess, erzählt sie als erstes von den vielen Büchern, die sie liest – derzeit sind es vor allem Gedichte des italienischen Lyrikers Biagio Marin, die auch die Arbeiten ihrer aktuellen Ausstellung viola volando in der Startgalerie im Wien Museum MUSA inspirierten. 

„viola volando. Violett im Flug. Nicht allein die Farbe fliegt, auch das Wort selbst fliegt auf und fliegend verwandelt es sich. Fliegend möchte es eine Zeichnung werden.“ 

Natalie Neumaier 

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„Einen fliegenden Teppich mehr als einen Ausgangspunkt fürs Zeichnen“, beschreibt sie etwa einen Text aus Marins Zyklus El vento de l´eterno se fa teso (1973): „Das Gedicht als Gewebe, als Grund fürs Zeichnen trägt die Zeichnung, gleichermaßen wie es von ihr getragen wird.“ In diesem Prozess des Angestoßenwerdens von einem Gedicht, einem Text, entstanden über einen Zeitraum von zwei Jahren ein Zyklus von Zeichnungen, Notizen und Texten, die Spuren der jeweils anderen in sich tragen. Die Arbeiten sind feinst-teilig und ziehen den/die BetrachterIn fast soghaft in ihren Bann. Manche der schlingen- und schriftartigen Muster wirken wie mit kleinen Härchen übersäht, man ist sich nicht ganz sicher, ob man sie mit einem angenehmen oder kratzigen Gefühl assoziiert. Auch Notizbücher sind zu sehen und lassen Neumaiers akribisch-intensiven Leseprozess erahnen. 
 

Angelika Seebacher

Gab es einen ausschlaggebenden Moment, ab dem Du mit dieser Art zu arbeiten begonnen hast?

Natalie Neumaier

Ich weiß nicht was das ist, Zeichnen. Es gibt für mich im Zeichnen und Schreiben immer wieder Brüche, Risse oder Dinge, auf die ich gestoßen werde. 2009, zum Beispiel, bin ich auf Walter Benjamin und Peter Waterhouse gestoßen. Ich habe zuerst in einer Weise nichts verstanden. Vielleicht, denke ich mir jetzt, bin ich da hineingesprungen und habe diese Texte immer wieder gelesen, Wort für Wort und vieles habe ich in meine Notizbücher abgeschrieben. Ich habe bemerkt wie Lesen, Übersetzen und Verwandeln miteinander verknüpft sind. Lesen, das ist vielleicht auch Tasten, Berühren. Ist die Lesende* eine Beobachter*in, oder ist sie* ganz drin im Text, in den Buchstaben? Sie* weiß vielleicht nicht, was das ist, „Ich“, und beginnt „Ich“ und „Du“ zu vermischen. Wie viele Hände sind ihr* schon gewachsen?

Andere Schriftsteller*innen sind dazugekommen, zum Beispiel Hélène Cixous, Inger Christensen, Jonas Mekas. gedicht gedicht gedicht ist mein körper (2018) ist im Lesen eines Gedichts von Inger Christensen entstanden. Über einen Zeitraum von ungefähr zwei Jahren habe ich gelesen, geschrieben, abgeschrieben, wieder gelesen, Notizen gemacht und gezeichnet, um mich dem Gedicht zu nähern. Irgendwann sind die Notizen und Notizbücher ganz nah an das Zeichnen gerückt. Sie sind Zeichnungen geworden. Alles kann vielleicht ineinander gelesen werden, die Zeichnungen, der Text, ein Bild von Paul Klee, das Gedicht von Inger Christensen, die Notizblätter. Es gibt nicht nur eines, vieles bezieht sich aufeinander, springt über, bricht ab 

AS

Was passiert bei Deinem intensiven Leseprozess? Welche Gedanken gehen Dir da durch den Kopf?

NN

Im Lesen weiß ich nicht, worauf ich gestoßen werde. In Zur Ästhetik (Studien zur Farbe und Phantasie) von Walter Benjamin gibt es den von ihm aufgelesenen Satz seines Jugendfreundes Fritz Heinle: „Wäre ich von Stoff, ich würde mich färben.“ 1 Lesen und Zeichnen als etwas Aufnehmendes, Passives. In einer ähnlichen Weise beschreibt das auch Anni Albers: „What I am trying to get across is that material is a means of communication. That listening to it, not dominating it makes us truly active, that is: to be active, be passive.” 2 Im Lesen gibt es etwas, das mich trifft, das ich nicht verstehe. Es löst vielleicht eine Bewegung aus, die mich einem Text, einem Bild oder etwas anderem zuwenden lässt. Am Anfang ist alles sehr unsicher und wackelig und erst nach einiger Zeit entdecke ich im Aufzeichnen und Zeichnen etwas, dem ich vielleicht nachgehen kann. Aber diese feinen Fäden reißen auch immer wieder ab. Fetzen, Fransen, Stückwerk habe ich da. Ich lese zum Beispiel in dem Wort verknüpfen die Ferne. Später kommen viele Sinne, viele Verbindungen dazu. Vielleicht brauche ich diesen langen Zeitraum des Lesens, Grabens, Schreibens, Wiederlesens, Notierens, und Zeichnens, um dieses erste Gefühl, vielleicht nicht zu verstehen, aber darauf zu reagieren, es zu verwandeln, mich zu verwandeln, das Zeichnen zu verwandeln. Vielleicht kann ich es auch so beschreiben: Ich kann nur zeichnen mit etwas Anderem, etwas das mich ins Zeichnen stößt. Lesen wird Zeichnenschreiben. Ob die Zeichnungen mit dem Gedicht tanzen, weiß ich nicht. Vielleicht sind sie auch sehr verschieden von dem Gedicht. Für mich gibt es Verknüpfungen zwischen den beiden, die ich nur jetzt im Nachhinein sehen, lesen kann, als hätte sich ein Gedanke oder, etwas, das ich gespürt habe, für das ich kein Wort hatte, eingezeichnet. Wo ist ein Gedanke, etwas Gelesenes gespeichert? Gibt es ein Erinnern der Hände? Es gibt das Lesen, zum Beispiel der Wörter Brombeerdickicht und Gedicht und es gibt die Frage, Ist das Gedicht ein Brombeerdickicht? Vielleicht hat das auch mit dem Titel viola volando zu tun. Die Zeichnungen fliegen und möchten sich färben mit dem Gedicht. Im Fliegen gibt es aber kein Halten.

AS

Weil Du ihn gerade angesprochen hast, was hat es eigentlich mit dem Ausstellungstitel viola volando auf sich? 

NN

Vielleicht geht es ums Verwandeln, und das ist auch in dem Titel viola volando angelegt. Wie kommt jemand, wie komme „ich“ zum Schreiben, zum Zeichnen? Vielleicht durch Nichtsprechen, Stille. An vielen Stellen gibt es in den Gedichten aus dem Zyklus El vento de l’eterno se fa teso von Biagio Marin das Wort Stille. Wenn „ich“ nicht spreche, vielleicht ist es dann ganz leicht “mich“ zu verwandeln. 

Der Titel ist eine Verwandlung der letzten Zeile des Gedichts: Ich bin keiner: / A-Violett des Amethyst. Im Italienischen lautet diese Zeile: un color viola perso d'ametiste. Grammatikalisch verbinden sich beide Wörter, viola (violett) wie perso (verloren) mit dem Wort color (Farbe). Im Lesen kann ich nicht entscheiden, ist die Farbe da oder ist sie nicht da? Kann ich sie sehen oder kann ich sie nicht sehen? Dieser Zwischenbereich ist auch in der deutschen Übersetzung eingezeichnet. A-Violett des Amethyst. Die Linien des Buchstaben A bilden eine Umkehrung des Buchstaben V und des Bindestrichs. Die Buchstaben sind gleich und verschieden. Ihre Linien springen hin und her wie die Farbe, die sich nicht fangen lässt. Der Schwebezustand betrifft die Sprache selbst. Sie hat immer mit Dingen zu tun, die abwesend sind. In der Sprache, in den Gedichten ist diese Schwebe vielleicht bewahrt, und sie wird in den Wörtern immer wieder hergestellt: und verknüpf ich mich / mit deiner Ferne. Peter Waterhouse schreibt in einem Text zu Biagio Marin „Das Dichten ist ein Sterben und Erinnern zugleich, ein Strömen, ein Psalm, ein Verwandeln.“ 3 Und Biagio Marin schreibt in dem Text Meine Sprache: „Ich sollte die Stimme meiner Insel, die Stimme Grados sein, und sonst nichts, auch um den Preis, nicht gelesen zu werden.“ 4 Vielleicht klingen diese Überlegungen auch in dem Titel viola volando an. Violett im Flug, was auffliegt, durchfliegt, das durchwirbelt die Dinge. Bedeutungen, Festgesetztes werden gelockert. Eines kann vielleicht ganz vieles sein: Zeichnen Schreiben Bild Text Schrift Körper Gedicht Brombeerdickicht

AS

 Vielleicht noch ein paar Worte zu dem Zyklus, den Du in der Startgalerie ausstellst?

NN

Ich denke mir, ich kann die Zeichnungen, die Notizen, den Text nicht voneinander trennen. Sie sind verschieden, aber vielleicht ist alles Zeichnung. In ihnen sind Spuren, Splitter der jeweils anderen enthalten. Schreiben ist ganz verschieden von Zeichnen. Aber es gibt Stellen, Punkte, an denen ich bemerke, als würde sich das eine in das andere einzeichnen und einschreiben. Von ganz nah ist das Sehen vielleicht ein anderes, als das Sehen mit einem größeren Abstand. In dem Zyklus der Zeichnungen ist beides wichtig, von nah eine einzelne Zeichnung, aber auch die ganze Reihe, welche Zeichnungen nebeneinander sind, wie sie vielleicht eine Bewegung der anderen aufnehmen. Ich denke sie mir wie Wörter oder Zeilen in einem Gedicht. 

1 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. VI, Frankfurt a. M. 1991, S. 121.
2 Anni Albers: Selected Writings on Design, Middletown 2000, S. 75.
3 Peter Waterhouse: Die Geheimnislosigkeit, Salzburg u. Wien 1996, S. 181.
4 Biagio Marin: In Memoria, Der Wind der Ewigkeit wird stärker, 2. Aufl., Basel, Weil am Rhein, Wien 200. S. 147.

 

Natalie Neumaier, geboren 1986 in Wien / 2006-2013 Studium der deutschen Philologie an der Universität Wien / 2010-2018 Studium der bildenden Kunst an der Akademie der bildenden Künste Wien, Klasse für Grafik und druckgrafische Techniken, sowie an der Kunsthochschule Berlin Weißensee

Die Ausstellung viola volando läuft von 22. Oktober 2020 bis 18. November 2020 in der Startgalerie im Wien Museum MUSA

Angelika Seebacher, Pressearbeit/Kommunikation und Development, Wien Museum; freie Autorin u. a. für Parnass. Studierte Wirtschaft und Kunstgeschichte und arbeitete sieben Jahre im Kunst- und Antiquitätenhandel in Wien und Paris, ehe sie sich auf zeitgenössische Kunst spezialisierte.  

 

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