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Antonia Teibler und Peter Stuiber, 5.12.2023

Ausstellung über Erwin Ratz

Der Bäcker als Musiktheoretiker und Lebensretter

Erwin Ratz war vieles: Schönberg-Schüler, Musiktheoretiker, Promotor der Avantgarde, Sekretär von Walter Gropius am Bauhaus und wortwörtlich im Brotberuf Bäcker. Posthum wurde er vom Staat Israel als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt. Das Bezirksmuseum Wieden zeigt nun eine Ausstellung über den Mann, der nie in der ersten Reihe stehen wollte. Ein Interview mit der Kuratorin Antonia Teibler.

Peter Stuiber

Wie sind Sie als Musikerin und Musikwissenschaftlerin auf Erwin Ratz gestoßen?

Antonia Teibler

Ich habe in Mexiko zu Hanns Eisler geforscht – und die beiden hat eine sehr enge, lebenslange Freundschaft verbunden, obwohl sie ideologische Differenzen hatten. Sie haben sich beim Militärdienst kennengelernt. Wenn man sich mit dem Schönberg-Kreis beschäftigt, stößt man automatisch auf Ratz. Er war zwar nicht Komponist oder Dirigent, jedoch Theoretiker. Ratz hat dann 1951 auch seine Formenlehre geschrieben, die auf den Lehren Schönbergs beruht. Außerdem habe ich als Fagottistin im Ersten Wiener Frauen-Kammerorchester gespielt, das von Brigitte Maróthy-Ratz, der Tochter von Erwin Ratz, gegründet worden ist. Dann war es besonders schön, auch Katharina Maróthy-Ratz, die Enkelin, kennzulernen.

PS

Aber Ratz war nicht nur Musiktheoretiker …

AT

… er hat im 4. Bezirk in der Favoritenstraße 46 eine Bäckerei geführt. Es war der Betrieb seiner Eltern und Großeltern, den er erst 1962 aufgegeben hat. Gewohnt hat er im 3. Bezirk, das Zentrum seines Lebens war also Wien.

PS

Wie kann man sich das vorstellen: War er ein Musiktheoretiker, der nebenberuflich eine Bäckerei geführt hat? Oder ein Bäcker mit musikalischen beruflichen Nebenwegen?

AT

Das ist genau der Zwiespalt, den Erwin Ratz – bis auf die letzten elf Jahre seines Lebens – beschäftigt hat. Sein Vater kam schon eher unfreiwillig zur Bäckerei, denn er war eigentlich Chemieprofessor in Graz und musste den Betrieb übernehmen, als sein Bruder plötzlich verschwand. Als sein Vater 1929 gestorben ist, war Ratz also in der gleichen Situation. Es war immer dieses Pflichtgefühl da. Das ist auch in den Briefen nachzuvollziehen: Er steht frühmorgens auf, er macht die Konditoren-Meisterprüfung, er lebt den Alltag mit seinen Angestellten. Die Bäckerei war ein Fluch und ein Segen. Denn er hat in sehr jungen Jahren das Kompositionsseminar bei Schönberg besucht, hat 1918 dann die berühmten zehn öffentlichen Proben im kleinen Musikvereinssaal organisiert, bei denen die Kammersymphonie op. 9 von Schönberg einstudiert und dem Publikum präsentiert wurde. Aus dieser Idee ist später der Verein für musikalische Privataufführungen gegründet worden, in dem die Neue Musik stark gefördert wurde, und daraus ist wieder die Internationale Gesellschaft für Neue Musik entstanden, die bis heute einer der tätigsten Vereine für Neue Musik ist. Er hat dann musikwissenschaftliche Vorlesungen an der „K. k. Universität Wien“ auch bei Guido Adler besucht, aber es kam ihm immer die Bäckerei dazwischen.

PS

Aber es gab auch einen Ausflug ans Bauhaus in seiner Biografie. Wie kam es dazu?

AT

Er hat im Schönberg-Kreis die Architektin Friedl Dicker-Brandeis kennengelernt. Und als der Maler Johannes Itten mit seinem Schülerkreis, zu dem auch Ratz‘ gute Freundin zählte, ans Bauhaus ging, schrieb Ratz Walter Gropius, dem Leiter des Bauhauses, einen Brief mit der Bitte um eine Anstellung. Alban Berg verfasste ein Empfehlungsschreiben an Gropius, und so kam es, dass Ratz von 1922 bis 1923 eine Anstellung bekam. Diese Zeit hat ihn sehr geprägt, zum einen das strukturelle Denken und zum anderen die Schule des Funktionalismus. Jedoch zurück zur Bäckerei: Sie war die Basis dafür, dass er im Zweiten Weltkrieg Menschen helfen konnte, nicht nur mit Geld. In der Wohnung darüber konnte etwa Anton Webern, der von den Nazis mit einem Aufführungs- und Kompositionsverbot belegt worden war, für einen auserwählten Kreis musikinteressierter Personen Vorlesungen im Rahmen der in die Illegalität gedrängten Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) halten. Er hat im Keller der Bäckerei die Kompositionsmanuskripte von Hanns Eisler versteckt und hat in manchen Werken verfängliche Titel ausradiert: Aus der „Lenin-Kantate“ wurde etwa „Requiem“. Ratz hat auch Lebensmittel und Lebensmittelkarten verteilt. Er hat Leute über den Krieg gebracht, indem er sie als „U-Boote“ in seiner Wohnung versteckte. Deswegen wurde er auch 2016 posthum vom Staat Israel als „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet, gemeinsam mit seiner ersten Frau Lonny Ribbentrop.

PS

Noch eine Frage zu seiner Beschäftigung mit Musik. Gibt es Hinweise darauf, dass er selber auch komponiert hat?

AT

Bis dato sind keine Kompositionsversuche bekannt, aber der Nachlass ist auch noch nicht zugänglich. Ich nehme an, dass die Gabe bei Ratz woanders lag. Nämlich andere in ihren geistigen und kreativen Tätigkeiten zu fördern. Er hatte wirklich eine Gabe, Genies zu erkennen. Und er war es, der nach dem Zweiten Weltkrieg an die Wiener Schule angeschlossen hat. Sein Buch „Einführung in die musikalische Formenlehre“ basiert auf den Lehren seines verehrten Lehrers Arnold Schönberg. Weiters war er im Rahmen seiner verschiedenen Funktionen in der IGNM maßgeblich an einem kulturellen „Wiederaufbau“ beteiligt. Die Wiener Urtext-Ausgabe geht auch auf ihn zurück.

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PS

Könnten Sie näher erläutern, was es damit auf sich hat?

AT

Es war bis Anfang des 20. Jahrhunderts üblich, sogenannte Interpretationspartituren auf den Markt zu bringen. Das heißt vereinfacht gesagt: Beethoven hat etwas geschrieben, schon beim Kopieren passierten Fehler oder wurden Stellen bewusst verändert, weil der Kopist seine persönlichen musikalischen Ansichten einbrachte. Ratz hat, nachdem sein Freund und Lehrer Heinrich Schenker, einer der ersten, der sich in Österreich dieser neuen Editionsrichtung zuwandte, verstorben war, begonnen, die Arbeit fortzusetzen und hat Beethoven- und Schubert-Sonaten sozusagen „geputzt“, d.h. zurückkorrigiert auf die Urfassungen. 1972 wurde bei der Wiener Universal Edition die Urtext-Ausgabe gegründet. Und zwischen der Zeit vor dem Krieg und eben dieser Reihe der Universal Edition war Ratz ein wichtiges Bindeglied. Er war auch von 1955 bis zu seinem Tod der erste Präsident der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft. Er kannte ja alle. Er war derjenige, der Alma Mahler geschrieben hat und gefragt hat, wohin die Manuskripte gekommen sind, die sie Freunden und Bekannten aus aller Welt geschenkt hatte. Er hat alle Stellen angeschrieben und so die Grundlage für die kritische Mahler-Gesamtausgabe gelegt. 1966 erhielt er für diese Arbeit den Förderungspreis des „Theodor Körner-Stiftungsfonds zur Förderung von Wissenschaft und Kunst“.  

PS

Er war also ein Vermittler, ein Promotor.

AT

Er wollte selber nicht in der ersten Reihe stehen, er hat selber gesagt, er sei ein Feind aller Öffentlichkeit. Er war Bindeglied, gerade auch zu der geistigen Welt, die ab 1938 schlagartig weg war. In seiner umfangreichen Korrespondenz mit den Menschen im Exil war er für sie eine Art Heimat, und sie waren für ihn eine Art Heimat.

PS

Was ist in der Ausstellung im Bezirksmuseum Wieden zu sehen?

AT

Es ist zeitlich ein großer Bogen, bei dem spotlightartig gezeigt wird, was ihm wichtig war und welche Menschen ihn prägten, wie zum Beispiel Arnold Schönberg, Rudolf Steiner, Anton Webern oder Gustav Mahler. Es sind einerseits private Fotos zu sehen, etwa von der Familie und der Bäckerei, andererseits Dokumente, die sein Wirken bis in die 1970er Jahre und bis heute dokumentieren, also Bücher und Klavierauszüge, Manuskripte mit seinen Korrekturen. Es gibt Hörstationen, etwa mit dem einzigen Interview aus dem Jahr 1968 mit ihm, aber auch Interviews mit Schülern von ihm: Heinz Karl Gruber (Komponist, Dirigent und Chansonnier), Zubin Mehta (Dirigent), René Staar (Komponist, Dirigent) und Klaus-Peter Sattler (Film- und Medienkomponist). Erwin Ratz hat immer gesagt: Was nicht unter die Haut geht, ist für die Katz. Das kommt auch in den Interviews mit den Schülern durch: Wie sehr er Menschen bewegt und begeistert hat.

Die Ausstellung „Erwin Ratz. Musiktheoretiker – Bäcker – Humanist“ ist bis 26. Juni 2024 im Bezirksmuseum Wieden zu sehen. Sie ist Teil des Programms der EislerTage Wien, die von 4. bis 6. Dezember stattfinden.

Antonia Teibler, gebürtige Perchtoldsdorferin (NÖ), ist Musikwissenschafterin, Musikpädagogin, Musikvermittlerin und Fagottistin. Sie promovierte über den mexikanischen Komponisten Silvestre Revueltas und forscht aktuell zu Leben und Wirken von Erwin Ratz. Als praktizierende Fagottistin ist sie vor allem im kammermusikalischen Bereich tätig und übt ihre Lehrtätigkeit in NÖ aus. Nähere Informationen hier

Peter Stuiber studierte Geschichte und Germanistik, leitet die Abteilung Publikationen und Digitales Museum im Wien Museum und ist redaktionsverantwortlich für das Wien Museum Magazin.

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