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Ausstellung von Julia Gaisbacher in der Startgalerie
One Day You Will Miss Me
Julia Gaisbacher befragt in ihren Arbeiten gerne das Ästhetische auf seinen politischen Hintergrund. In regelrechten Feldforschungen entwickelt die junge Künstlerin ihre Fotoprojekte und Rauminstallationen ausgehend von Orten, an denen sie sich u.a. im Rahmen von Residencies länger aufhält, wie etwa Gent, Brüssel, Dresden, Graz, Wien oder zuletzt Belgrad.
Dabei interessiert sich Gaisbacher vor allem für das Wechselspiel von „formen“ und „geformt werden“, das zwischen einer Stadt und ihren Bewohnerinnen und Bewohnern sichtbar wird.
Ihre gesellschaftskritischen Überlegungen konzentriert sie dabei auf künstlerische Fragestellungen, die sich aus fotografischen Skizzensammlungen von sozialen Interaktionen und Praktiken im städtischen Raum ergeben. Am Anfang ihrer Dokumentation steht meist eine Art „visuelle Umkreisung“, wie die Kunsthistorikerin Astrid Kury die Herangehensweise von Julia Gaisbacher beschreibt – und zwar möglichst ohne Zuordnungen und Wertung. Nach und nach entstehen während dieses Prozesses Fotoarbeiten, die urbane Situationen konzeptuell fundiert wiedergeben und zugleich ein sehr persönliches Narrativ der Künstlerin darstellen.
Ein herausragendes Kunst- und Forschungsprojekt ihres Oeuvres präsentiert Gaisbacher aktuell in ihrer Ausstellung „Concrete Acts on Belgrade“ in der Startgalerie des Wien Museum MUSA. In ihrer Arbeit „One Day You Will Miss Me“ beschäftigt sie sich seit 2017 mit der fortlaufenden visuellen Dokumentation und Analyse des Immobilienentwicklungsprojekts „Belgrade Waterfront“, einem der größten Bauvorhaben in Europa. Begonnen hat sie damit während eines Auslandsstipendiums des Landes Steiermark, wobei sie in 6-monatigen Abständen nach Belgrad fährt, um den Bauvorgang und die damit einhergehenden Veränderungen fotografisch festzuhalten. Die in der Startgalerie ausgestellten Fotoserien und Videosequenzen zeigen einen Querschnitt dieses Langzeitprojekts, das mittlerweile ein Archiv der sich langsam wandelnden Stadt darstellt. Es ist in gleichem Maße als visuelle Metapher politischer Entwicklungen und urbaner Transformationen im globalen Kontext lesbar.
Lebendiger urbaner Raum ist stets Veränderungen unterworfen. Selten sind diese Einschnitte allerdings so massiv wie in dem von Gaisbacher dokumentierten Fall. Finanziert durch die international tätige saudische Investorengruppe „Eagle Hills“ transformiert das überdimensionale Stadtentwicklungsprojekt „Belgrade Waterfront“ den Belgrader Stadtteil Savamala sowie die gesamte Stadtlandschaft seit 2015 aufs Radikalste. Anstelle des langsam gewachsenen Wohnviertels sowie der alten Hafen- und Bahnhofsanlage sollen ein Luxusstadtteil mit „gated communities“, ein fast 170 Meter hoher Glasturm und die größte Shoppingmall auf dem Balkan für eine aufstrebende (ausländische) Mittelschicht entstehen.
„Die daraus resultierenden urbanen Verdrängungsprozesse und Zwangsenteignungen werden auf politischer Ebene nicht nur geduldet, sondern auch bewilligt – ohne öffentliche Ausschreibungen oder Volksabstimmungen“, erklärt die Künstlerin. Zum unübersehbaren „Symbol“ wurden die ersten Betonskelette des 1,9km2 umfassenden Bauprojekts, die sich auch wie ein roter Faden durch die Fotoserie von Gaisbacher ziehen. „Überdimensionale Glas- und Stahlgebäude kontrastieren mit der historisch gewachsenen Stadt, während das Bauprojekt stadtplanerisch, ökonomisch und visuell den Alltag Belgrads dominiert. Für mich ist dies ein repräsentatives Beispiel für viele Umbrüche der Gegenwart“, so Gaisbacher.
In einem weiteren Kontext offenbart sich für die Künstlerin am „Waterfront Project“ zudem die Paradoxie internationaler Mobilität. Während durch die Schließung der sogenannten Balkanroute unzählige Menschen auf ihrer Flucht in Belgrad stranden, gilt für die arabischen Investoren uneingeschränkte Mobilität: „So zeigt sich, wie Geschäftsinteressen losgelöst von limitierenden Grenzziehungen agieren können. Dieses Scheitern einer koordinierten und solidarischen Politik Europas schreibt sich ebenso in die Stadtlandschaft Belgrads ein.“
2015 hatte sich in Belgrad auf dem ehemaligen Bahnhofsgelände und gleichzeitigen Baugrund von „Belgrade Waterfront“ ein informelles, von NGO’s betreutes Flüchtlingslager gebildet. Im Mai 2017 wurde dieses Lager abgerissen und die ca. 1.500 dort lebenden Männer in offizielle Flüchtlingslager gebracht. Gaisbacher gibt ihren Arbeiten gerne Titel, die sie an den von ihr thematisch bearbeiteten Orten findet. Der Titel des hier vorgestellten Projektes stand auf einer Baracke am Baugrund: „One Day You Will Miss Me“ – für die Künstlerin eine bittere Drohung und gleichzeitig Ausdruck der Verzweiflung, der stellvertretend für die Menschen steht, die dort gelebt und diesen Ort geprägt haben. Im weiteren Sinn steht der Titel auch für das sich verändernde Belgrad – ein Prozess, der zügig voranschreitet, dessen Ausmaß im Alltag vielleicht aber erst später erkannt werden wird.
Julia Gaisbacher, geboren 1983 in Grambach bei Graz, lebt und arbeitet in Wien und Graz / 2018 Erste Bank MehrWert Anerkennungspreis für One Day You Will Miss Me / Gewinnerin des Fotowettbewerbs im Rahmen der Ausstellung SOS Brutalism, AZW, Wien / 2016 Fotoförderungspreis der Stadt Graz / 2011-2013 Meisterschülerstudium, Hochschule für Bildende Künste, Dresden / 2009-2011 Bildhauerei/Dreidimensionale Gestaltung, Hochschule für Bildende Künste, Dresden / 2001-2006 Studium der Kunstgeschichte (Mag.), Karl-Franzens-Universität, Graz
Die Ausstellung „Concrete Acts on Belgrade“ ist noch bis 11. Dezember in der Startgalerie im Wien Museum MUSA bei freiem Eintritt zu sehen.
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