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Briefwechsel von Grete Wiesenthal mit Lily Calderon-Spitz
„Die Schäbigen sind unerschüttert“
Grete Wiesenthal (Wien 1885 – Wien 1970) war die Grande Dame einer spezifischen Wiener Bühnentanzform, die in erster Linie von Frauen getanzt wurde. Noch im Hofopernballett ausgebildet, kündigte sie 1907, um anfänglich mit ihren Schwestern, bald aber solistisch der Kreation eigener Tänze nachzugehen. Grete war mit ekstatischen Neuinterpretationen des Walzers, die sie später auch auf ihre Tanzgruppe ausdehnte, innovativ und erfolgreich. Die energetische, ganzkörperliche Bewegung wurde ihr wesentlich. Der Maler Erwin Lang, mit dem sie in erster Ehe verheiratet war, sowie Hugo von Hofmannsthal, Franz Schreker und Max Reinhardt stehen stellvertretend für ihre zahlreichen Künstlerkooperationen. Einige ihrer Choreografien werden nach überlieferter Vorlage zu speziellen Anlässen immer wieder getanzt.
Ins laufende Jahr fällt nicht nur ihr 50. Todestag, 2020 gilt auch dem Gedenken des Kriegsendes 1945. Grete Wiesenthal, die dem NS-Regime nicht anhing, hatte 1938 jüdischen Freundinnen und Freunden geholfen, so auch der Tänzerin Lily Calderon-Spitz (Wien 1911 – Tarrytown, New York 1990), die eine Kusine von Elias Canetti war. Sie trat in Choreografien von Hilde Holger und Hedy Pfundmayr auf, tanzte bei Wiesenthal und war auch deren Assistentin. Sie flüchtete mit ihrer Schwester Nita 1938 zuerst nach London, 1940 weiter in die USA. Ihrem eigentlichen Beruf konnte Lily, verheiratete Stone, aus Gründen der Unterschiedlichkeit zwischen europäischem und amerikanischem modernen Tanz nicht mehr nachgehen.
Die hier ausgewählten Passagen aus unveröffentlichten Briefen im Theatermuseum Wien von Grete an Lily hat Andrea Amort mit manchem, im Privatbesitz befindlichem dazugehörigen Brief von Lily in einen Zusammenhang gebracht, in dem sie vermutlich einmal standen.*
Grete Wiesenthal,
Wien, am 29. Juni 1938, an Lily Calderon-Spitz, London
Anm.: Lily war mit ihrer Schwester Nita ausgereist: Beide Frauen hatten zu diesem Zeitpunkt noch keine Stelle, arbeiteten dann in Haushalten.
Lily Calderon-Spitz,
London, am 13. Juli 1938, an Grete Wiesenthal, Wien
Anm: Lily Calderon-Spitz und Nita gehen 1940 in die USA, die Mutter stirbt in Wien.
Grete Wiesenthal,
Wien, am 29. Juni 1938, an Lily Calderon-Spitz, London
Anm.: Otto Werberg (Wien 1909 – 2002 Buenos Aires) war ein bekannter Tänzer, der u. a. Lilys Partner in dem Duett „Kirchenfenster“ von Hedy Pfundmayr gewesen war. Er gelangte nach Südamerika. Walter Fischer war ein bekannter Pianist. Lisl Temple (Wien 1918 – Wien 1973) war Tänzerin an der Wiener Staatsoper und bei Grete Wiesenthal, auch mit Partner Otto Werberg; sie wurde von der NS-Diktatur als „Halbjüdin“ bzw. „Mischling I. Grades“ gebrandmarkt. Durch unterschiedliche Fürsprachen, darunter auch Grete Wiesenthal, konnte sie im Ballettensemble der Staatsoper bis 1944 verbleiben. 1945 war Temple wieder auf der Bühne zu sehen.
Grete Wiesenthal,
Wien, am 11. Mai 1946, an Lily C. Stone, New York
Anm.: Grete Wiesenthal meinte wohl „Die chassidischen Bücher“ des Religionsphilosophen Martin Buber (Wien 1878 – Jerusalem 1965).
Lily C. Stone,
New York, am 21. Juni 1947, an Grete Wiesenthal, Wien
Grete Wiesenthal,
Wien, am 3. August 1946, an Lily C. Stone, New York
Anm.: Walter Fischer (Wien 1897 – Majdanek 1942) wurde, wie Toni Birkmeyer und seine Frau, wegen „Abhören von Feindsendern“ verhaftet. Fischer wurde zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt und danach nach Majdanek deportiert. Toni Birkmeyer (Wien 1897 – Wien 1973), Solotänzer der Staatsoper und Leiter einer Tanzgruppe, wurde zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt, Jolanthe Birkmeyer (Budapest 1896 – Auschwitz 1943) starb im Lager.
Grete Wiesenthal,
Wien, am 1. Februar 1947, an Lily C. Stone, New York
Grete Wiesenthal,
Wien, am 14. Dezember 1947, an Lily C. Stone, New York
Anm.: Grete Wiesenthal spielt auf den arabisch-israelischen Krieg an, der unmittelbar nach den angekündigten Teilungsplänen Palästinas Ende November 1947 ausbrach.
* Der Nachlass kam nach einem Anruf des Österreichischen Kulturforums bei Amort vor vielen Jahren nach Wien ans Theatermuseum. Abbildungen daraus wurden zuletzt in „Alles tanzt. Kosmos Wiener Tanzmoderne“, hg. Andrea Amort, KHM Museumsverband/Theatermuseum und Hatje & Cantz, Berlin 2019 publiziert. Die Autorin dankt dem Theatermuseum Wien sowie in besonderem Maß Nina Lang.
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Kommentare
Grete Wiesenthal war nicht nur eine grosse Taenzerin aber auch ein sehr weiser und feinfuehlender Mensch. Dank an Andrea Amort dass diese Briefe ins Oeffentliche kommen.