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Andrea Amort, 21.6.2020

Briefwechsel von Grete Wiesenthal mit Lily Calderon-Spitz

„Die Schäbigen sind unerschüttert“

Anlässlich des 50. Todestages: Eine Montage aus dem unveröffentlichten Briefwechsel von Grete Wiesenthal mit Lily Calderon-Spitz, die 1938 aus Wien flüchtete. 

Grete Wiesenthal (Wien 1885 – Wien 1970) war die Grande Dame einer spezifischen Wiener Bühnentanzform, die in erster Linie von Frauen getanzt wurde. Noch im Hofopernballett ausgebildet, kündigte sie 1907, um anfänglich mit ihren Schwestern, bald aber solistisch der Kreation eigener Tänze nachzugehen. Grete war mit ekstatischen Neuinterpretationen des Walzers, die sie später auch auf ihre Tanzgruppe ausdehnte, innovativ und erfolgreich. Die energetische, ganzkörperliche Bewegung wurde ihr wesentlich. Der Maler Erwin Lang, mit dem sie in erster Ehe verheiratet war, sowie Hugo von Hofmannsthal, Franz Schreker und Max Reinhardt stehen stellvertretend für ihre zahlreichen Künstlerkooperationen. Einige ihrer Choreografien werden nach überlieferter Vorlage zu speziellen Anlässen immer wieder getanzt.

Ins laufende Jahr fällt nicht nur ihr 50. Todestag, 2020 gilt auch dem Gedenken des Kriegsendes 1945. Grete Wiesenthal, die dem NS-Regime nicht anhing, hatte 1938 jüdischen Freundinnen und Freunden  geholfen, so auch der Tänzerin Lily Calderon-Spitz (Wien 1911 – Tarrytown, New York 1990), die eine Kusine von Elias Canetti war. Sie trat in Choreografien von Hilde Holger und Hedy Pfundmayr auf, tanzte bei Wiesenthal und war auch deren Assistentin. Sie flüchtete mit ihrer Schwester Nita 1938 zuerst nach London, 1940 weiter in die USA. Ihrem eigentlichen Beruf konnte Lily, verheiratete Stone, aus Gründen der Unterschiedlichkeit zwischen europäischem und amerikanischem modernen Tanz nicht mehr nachgehen.

Die hier ausgewählten Passagen aus unveröffentlichten Briefen im Theatermuseum Wien von Grete an Lily hat Andrea Amort mit manchem, im Privatbesitz befindlichem dazugehörigen Brief von Lily in einen Zusammenhang gebracht, in dem sie vermutlich einmal standen.* 

Grete Wiesenthal,
Wien, am 29. Juni 1938, an Lily Calderon-Spitz, London

(. . .) 
Aber siehst Du Lily, wer Jude ist, der muß sich sagen, dass er sein Leben im Ausland von Neuem beginnen muß – es ist eine neue Zeit gekommen, auch Ihr müsst, so sehr es Euch trifft, doch das Beste daraus zu machen versuchen und Ihr hattet recht, so schnell Euch zu entschließen und wegzugehen, und wenn ich in meinem vorigen Brief vielleicht zu ernsthaft war, so nur darum weil ich Angst hatte, dass Ihr doch noch nicht begriffen habt wie gut es ist, dass Ihr eine Stellung draußen bekommen habt. 
(. . .)

Anm.: Lily war mit ihrer Schwester Nita ausgereist: Beide Frauen hatten zu diesem Zeitpunkt noch keine Stelle, arbeiteten dann in Haushalten.

Lily Calderon-Spitz,
London, am 13. Juli 1938, an Grete Wiesenthal, Wien

(. . .) 
Es scheint jetzt, dass wir doch nach Südamerika gehen werden bis Mama soweit ist (und) herkommt. Mir persönlich wäre Nordamerika lieber, aber auszusuchen gibt’s nicht und außerdem darf man nicht unbescheiden sein. 

(. . .)

Anm: Lily Calderon-Spitz und Nita gehen 1940 in die USA, die Mutter stirbt in Wien.

Grete Wiesenthal,
Wien, am 29. Juni 1938, an Lily Calderon-Spitz, London

(. . .) 
Von Otto Werberg ist zu berichten, dass er noch immer im Flüchtlingslager in Belgien ist und auf eine Einreise nach Australien, glaube ich, wartet. Walter Fischer war auch neulich bei mir, hat auch ein Affidavit nach Amerika, aber kommt laut Quote erst im Oktober hinaus und möchte gerne die Zeit bis dahin ins Ausland eingeladen sein. 

( . . .) Unsere liebe Lisl (Temple, Anm.) ist ( . . .) in der Oper, weiß aber immer noch nicht, ob sie bleibt.

(. . .)

Anm.: Otto Werberg (Wien 1909 – 2002 Buenos Aires) war ein bekannter Tänzer, der u. a. Lilys Partner in dem Duett „Kirchenfenster“ von Hedy Pfundmayr gewesen war. Er gelangte nach Südamerika. Walter Fischer war ein bekannter Pianist. Lisl Temple (Wien 1918 – Wien 1973) war Tänzerin an der Wiener Staatsoper und bei Grete Wiesenthal, auch mit Partner Otto Werberg; sie wurde von der NS-Diktatur als „Halbjüdin“ bzw. „Mischling I. Grades“ gebrandmarkt. Durch unterschiedliche Fürsprachen, darunter auch Grete Wiesenthal, konnte sie im Ballettensemble der Staatsoper bis 1944 verbleiben. 1945 war Temple wieder auf der Bühne zu sehen.

Grete Wiesenthal,
Wien, am 11. Mai 1946, an Lily C. Stone, New York

Meine liebe Lily!
Das war eine wirkliche Freude für mich Dein Brief und das Du glücklich verheiratet bist  und – einen kleinen Sohn! auch hast.  ( . . .) 

Mir Lily geht es gut; sogar die Wohnung ist ganz behalten, hat die Bombenangriffe überdauert und die Belagerung und die Befreiung. 
Während der Nazijahre habe ich mir eine wirklich gute Tanzgruppe in aller Stille ausgebildet. Du würdest, glaube ich, sehr entzückt sein von diesen 6 Mädeln. Wenn sie einmal ins Ausland können, werden sie Sympathien werben können für das gute Österreich. (. . .)

Wir sind sehr dankbar für die amerikanische Hilfe mit Lebensmittel, ohne diese Hilfe ginge es kaum. Der Wahnsinn der verflossenen Jahre ist zu Ende, aber die Katastrophe so groß, dass man begreifen muss, dass es nur sehr, sehr allmählich aufwärts gehen kann. Obwohl die Bombenangriffe auch in Wien viel zerstört haben, ist doch das wesentliche und schöne alte Baugesicht fast ganz erhalten. Auch das ist mir eine gute Vorbedeutung für eine bessere kommende Zeit. Du Lily, kannst Du das Buch von dem wunderbaren Menschen, Martin Buber, über den Chassidismus, in Amerika erhalten – dann lies es und sei stolz, dass Du zu diesem Volk gehörst – ich war ganz hingerissen davon. (. . .)

Deine, immer Deine Grete Wiesenthal

Anm.: Grete Wiesenthal meinte wohl „Die chassidischen Bücher“ des Religionsphilosophen Martin Buber (Wien 1878 – Jerusalem 1965).

Lily C. Stone,
New York, am 21. Juni 1947, an Grete Wiesenthal, Wien

(. . .)
Mein Mann hat mir das Buch über Chassidismus besorgt aber ich bin noch nicht dazu gekommen es zu lesen. Ich wußte immer, dass Sie mehr über Judentum wissen als die meisten Juden und ich habe es Ihnen zu verdanken, dass ich ein bissl mehr weiß als der Durchschnitt. Ich kann mich trotzdem nicht mit allen Riten einverstanden erklären besonders wenn sie nur gedankenlos eingehalten werden. 
(. . .)

Grete Wiesenthal,
Wien, am 3. August 1946, an Lily C. Stone, New York

Erinnerst Du Dich an Walter Fischer? Er dürfte nicht mehr am Leben sein; kurz bevor er nach Amerika reisen sollte, ereilte ihn eine tragische Sache – er wurde in die Toni Birkmeyer Radio-Tragödie hineinverwickelt und bekam zwei Jahre Zuchthaus und dann sofortige Verschickung nach Polen. Armer Walter.

Und Toni Birkmeyer ( . . .) erst verraten von seiner Tochter bekam(en) er und seine Frau Jolan einige Jahre Gefängnisstrafe – dann kam er heraus, sehr verändert aussehend – seine Frau ist im Gefängnis gestorben – (. . .) er heiratete wieder, hat einen kleinen Sohn von 2 Jahren, den er sehr liebt, und ist wieder in der Oper, und hat in meinem Ballett ‚Der Taugenichts’  (Der Taugenichts in Wien, CH: G.W., M: F. Salmhofer, Anm.) das ich heuer (. . .) in der Oper (Spielort Volksoper, Anm.) einstudiert habe, die Rolle des Anton so wunderbar gegeben, wie ich’s mir ausgedacht hatte.
(. . .)

Anm.: Walter Fischer (Wien 1897 – Majdanek 1942) wurde, wie Toni Birkmeyer und seine Frau, wegen „Abhören von Feindsendern“ verhaftet. Fischer wurde zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt und danach nach Majdanek deportiert. Toni Birkmeyer (Wien 1897 – Wien 1973), Solotänzer der Staatsoper und Leiter einer Tanzgruppe, wurde zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt, Jolanthe Birkmeyer (Budapest 1896 – Auschwitz 1943) starb im Lager. 

Grete Wiesenthal,
Wien, am 1. Februar 1947, an Lily C. Stone, New York

( . . .)
Dein Paket ist angekommen und hat mich entzückt und gerührt. Alles war eine Freude, die Schuhe passen mir sehr gut (. . .) 

Ich habe im Augenblick die große Freude meinen Freund Carl Zuckmayer hier in Wien wieder begrüßen zu dürfen.  (. . .)

Ja Lily, es sind nun 8 Jahre vergangen, die Katastrophe ist riesengroß über die Menschheit gekommen, die Schäbigen sind eigentlich unerschüttert – die Not macht die Armseligen nicht besser – aber es gibt auch diejenigen die sich mühen das Bild, die Idee des Menschen besser zu begreifen.
(. . .)

Grete Wiesenthal,
Wien, am 14. Dezember 1947, an Lily C. Stone, New York

( . . .)
Wenn ich einen Filmstreifen hätte, würde ich für Dich das Haus an der Seilerstätte (16, Anm.), in dem Ihr gelebt habt, fotografieren. Es ist ganz unbeschädigt, und so oft ich daran vorbeigehe schaue ich hinauf zu Eurem Balkon . . .

(. . .)
In der letzten Zeit hat mich auch der Kampf um Palästina sehr angegangen. Du weißt ja welchen lebendigen Anteil ich an dem Judentum nehme und darum bin ich auch immer betroffen wenn ich die Verbrechen (. . .) diese(s) höchst besonderen, gezeichneten Volkes, sich gebärden (. . .) sehe, anders als ich es mir von ihnen wünschen würde.

Oder habe ich unrecht? Niemand wird vielleicht mehr als ich begreifen was es für den zionistischen Juden bedeutet in Palästina, bei sich als Herr, zuhause zu sein, auch wenn ich vielleicht in dieser und künftigen Zeit nicht gerade im (. . .) Aufleben eines starren Nationalismus das Wesentliche erblicke, und (es) mich ein bissl gefährlich an den großen Irrtum der Deutschen erinnert – man kann eben in verschiedener Art lernen oder sich verkrampfen – ich weiß nicht? Ist vielleicht noch nicht die Zeit zur großen Klärung, Erkenntnis für dieses Volk? ( . . .)

Andererseits ist es auch wieder viel verlangt, dass gerade in dieser Zeit, da alles so fraglich noch (. . .) ist, wir gerade von den Juden die neue, die große Haltung fordern, - oder Lily bin nur ich so fordernd, weil ich, wie ein Verliebter zuviel erwarte? Jetzt wirst Du langsam lachen über mich.
( . . .)

Lily, sei umarmt von Deiner Grete Wiesenthal.

Anm.: Grete Wiesenthal spielt auf den arabisch-israelischen Krieg an, der unmittelbar nach den angekündigten Teilungsplänen Palästinas Ende November 1947 ausbrach. 

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* Der Nachlass kam nach einem Anruf des Österreichischen Kulturforums bei Amort vor vielen Jahren nach Wien ans Theatermuseum. Abbildungen daraus wurden zuletzt in „Alles tanzt. Kosmos Wiener Tanzmoderne“, hg. Andrea Amort, KHM Museumsverband/Theatermuseum und Hatje & Cantz, Berlin 2019 publiziert. Die Autorin dankt dem Theatermuseum Wien sowie in besonderem Maß Nina Lang. 

Andrea Amort, Dr. phil. 1982 Univ. Wien. Begleitet die [Wiener] Tanzszene als Kritikerin, Dramaturgin und Kuratorin sowie als Tanzhistorikerin. Lehrte u.a. an der Bruckner-Uni. in Linz, MUK-Uni in Wien. Kuratiert Ausstellungen, Festivals Beyond the Waltz in Washington DC, Berührungen: Tanz vor 1938 – Tanz von heute im Odeon, Wien; Produzierte Hanna Berger: Retouchings im Festspielhaus St. Pölten, Rosalia Chladek Reenacted im Theatermuseum Wien, das Grete Wiesenthal-Projekt Glückselig. War gestern, oder? im brut, Wien. Zahlreiche Publikationen: zuletzt u.a. Alles tanzt. Kosmos Wiener Tanzmoderne [Hatje Cantz, 2019], im Erscheinen, gemeinsam mit Tanja Brandmayr u. Gerlinde Roidinger, Erika Gangl und der Neue Tanz [Hollitzer Verlag, 2024]. www.andrea-amort.at

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Kommentare

George Jackson

Grete Wiesenthal war nicht nur eine grosse Taenzerin aber auch ein sehr weiser und feinfuehlender Mensch. Dank an Andrea Amort dass diese Briefe ins Oeffentliche kommen.