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Alexander Emanuely und Peter Stuiber, 9.4.2021

Carl Colbert und seine Zeit

Medienmacher und Menschenfreund

Er gründete einflussreiche Zeitungen und Zeitschriften, engagierte sich für Demokratie und Chancengleichheit und schrieb im Alter Romane: Carl Colbert (1855-1929) war eine schillernde Figur in Wien um 1900 und wurde später dennoch vergessen. Alexander Emanuely würdigt nun mit einem Buch Colbert – und die Anfänge der Zivilgesellschaft in Österreich. Ein Interview.

Peter Stuiber

Sie haben ein 650 Seiten-Buch über Carl Colbert und seine Zeit verfasst – und sagen selbst, dass er heute ein nahezu Unbekannter ist. Wie würden Sie in wenigen Sätzen erklären, wer Colbert war?

Alexander Emanuely

Sich kurz zu fassen, fällt bei ihm nicht leicht. Colbert hat sich immer wieder neu erfunden. Er hat sich vom Familienunternehmen losgelöst und wurde Zeitungsmann. Er wurde 1855 in eine absolutistische Monarchie hineingeboren und als junger Mann ein großer Anhänger der französischen Revolution. Er war mit 20, also in den 1870er-Jahren, Kapitalist und sympathisierte als 70jähriger, also in den 1920er-Jahren, mit der Sowjetunion. Er hat sich für die Schwächsten, also Unterpriviligierten in der Gesellschaft eingesetzt, für die Kinder, und gegen Kinderarbeit, für die Frauen und ihre vollen bürgerlichen Rechte. Er hat mit der „Wiener Mode“ ein international erfolgreiches Magazin mitbegründet und dann später mit der „Wage“ und dem „Morgen“ politische Wochen-, und mit dem „Abend“, eine sozialistisch, pazifistische Boulevardzeitung. Zwischenzeitlich hat er über Jahrzehnte wöchentlich ein nicht mit Kritik sparendes Feuilleton verfasst oder auch einmal ein Libretto, nämlich für die letzte, unvollendete Operette Johann Strauss‘, die eher eine Urform des Musicals ist. Colbert hat sich an führender Stelle im „Verein Freie Schule“, aus dem die Kinderfreunde hervorgingen, eingesetzt, eine Kunstschule für Frauen – die heutige Modeschule Hetzendorf – und eine erste Sozialakademie mitbegründet. Mit 70 hat er begonnen, Romane zu schreiben… Kurzum: Man kann ihn schwer festmachen, er hat zu viele und unterschiedliche Leben gelebt.

PS

Kann das ein Grund dafür sein, dass er heute so wenig bekannt ist? Eben weil er nicht nur in einem Bereich tätig war?

AE

Unter normalen Umständen könnte das eine Erklärung sein. Aber der Hauptgrund ist meines Erachtens ein anderer: Die Nazis haben ab 1938 nicht nur alle Errungenschaften der Demokratiebewegung, der Menschenrechtsbewegung, der Frauenbewegung etc. verboten, zerstört, deren AnhängerInnen verfolgt, vertrieben und ermordet, sondern auch nachhaltig die Erinnerung an Menschen und Werk gelöscht. Deshalb ist mein Buch so umfangreich, ich wollte soviel wie möglich von der Geburt der Zivilgesellschaft in Österreich in das kollektive Gedächtnis zurückholen.

PS

Was bei Colbert biografisch sofort ins Auge sticht, ist die außergewöhnliche berufliche Karriere seiner Mutter.

AE

Die junge Witwe Charlotte Cohn war zu einer Zeit eine erfolgreiche Geschäftsfrau, als Frauen der Zugang zur höheren Bildung verwehrt wurde. Sie hat eine Wechselstube namens „Mercur“ betrieben und dann schrittweise zu einem „echten“ Bankhaus ausgebaut. Zum Unternehmen gehörte auch das populäre Lotterieziehungsblatt „Mercur“. Anfang der 1880er Jahre verkaufte sie das florierende Unternehmen an eine große Bank, wobei der noch Charles Cohn heißende Sohn in die Direktion übernommen und bald nach Italien geschickt wurde. Charlotte Cohn hat sehr auf Bildung und auf den sozialen Aufstieg geachtet, den eigenen, aber auch jenen der Frauen, für deren Bildung sie sich einsetzte. Weiters hat sie beachtliche Geldsummen für wohltätige Zwecke gespendet, so nach den Donauüberschwemmungen oder dem Brand des Ringtheaters.

PS

Weiß man, warum Colbert dann ausgerechnet ins Mediengeschäft wechselte?

AE

Er besaß nach dem Verkauf von „Mercur“ ein großes Vermögen und wusste eigentlich nicht recht, wie er selbst einmal schrieb, was er damit anfangen soll. Er lernte den Schriftsteller Ernst Ziegler kennen, der der Übersetzer von Emile Zola war. Der fragte ihn, ob er sich bei der Gründung einer Modezeitschrift beteiligen wolle – so entstand die „Wiener Mode“, die im Jänner 1888 erstmals erschien. Das Jahr davor bedeutete eine Wende in Colberts Leben: Er hatte nicht nur die Bank verlassen und war aus der Israelitischen Kultusgemeinde ausgetreten, er hatte auch die erfolgreiche Pianistin Tony Wolff geheiratet und seinen Namen auf Colbert, der reformorientierte französische Staatsmann Jean-Baptiste Colbert stand Pate, geändert.

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PS

Was war das Erfolgsrezept der „Wiener Mode“, von der Sie berichten, das sie in sechs Sprachen übersetzt wurde?

AE

Es gab damals schon viele Modezeitschriften, aber die „Wiener Mode“ bot mehr. Erstens wollte sie Mode und Luxus demokratisieren, indem z.B. Schnittmuster beigelegt waren: Das heißt, man konnte die Roben und Accessoirs selber nachschneidern oder schneidern lassen. Zweitens waren die Abbildungen der Mannequins von einer hohen zeichnerischen Qualität – das waren „echte Menschen“, wie Zola meinte – zu den Zeichnern zählten z.B. Koloman Moser. Neumodisch war nicht nur die abgebildete Mode, immerhin trat man bald schon für das Reformkleid und gegen das Korsett ein, sondern waren auch Produktion und Vertrieb. Man druckte mit den modernsten Maschinen und noch im fernen Texas wurde von der neuesten Ausgabe der „Wiener Mode“, diesem Vorläufer der „Vogue“, berichtet. Und drittens gab es, neben der Modeberichterstattung, eine Literaturbeilage, in der kritische, fortschrittliche AutorInnen, wie Zola, Ibsen, Marie von Ebner-Eschenbach, Bertha von Suttner, Betty Paoli, Jenny Hirsch, Rosa Mayreder, Marianne Hainisch zu Wort kamen. Es gab eine Chefredakteurin und fast nur Frauen in der Redaktion. Colbert war gemeinsam mit seiner Frau Tony frauenpolitisch sehr engagiert, sie haben als Paar eng zusammengearbeitet. Die „Wiener Mode“ hat etwa 1913 einen großen internationalen Frauenkongress in Wien mitfinanziert.

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Autorin der „Wiener Mode“: Marie von Ebner Eschenbach, undatiertes Foto von Victor Angerer, Wien Museum

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Autorin der „Wiener Mode“: Bertha von Suttner, undatierte Fotografie, Wien Museum

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Autorin der „Wiener Mode“: Rosa Mayreder, Fotografie: Trude Fleischmann, um 1928, Wien Museum

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Autorin der „Wiener Mode“: Paoli Betty, undatierte Fotografie, Wien Museum

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PS

Wann wurde Colbert von der „sozialen Frage“ gepackt?

AE

Das soziale Gewissen war durchaus verankert in Teilen des Wiener Bürgertums. Colbert war in den 90er-Jahren, wie Viktor Adler, Michael Hainisch, Tomáš Garrigue Masaryk, Julius Ofner, Rosa Mayreder Mitglied der „Gesellschaft der Fabier“, einer aus England kommenden Bewegung von Intellektuellen, die zwischen dem Bürgertum und der Arbeiterbewegung vermitteln wollten. Einen wichtigen Einfluss übte Josef Popper-Lynkeus aus, ein Wiener Sozialutopist, der weltweit AnhängerInnen besaß. Auch die Werke des amerikanischen radikalen Utopisten Edward Bellamys oder John Stuart Mills übten einen großen Einfluss aus. Es gab bei Colbert keinen Erweckungsmoment, sondern ein sukzessives Erkennen, Mitdenken, Großwerden. Übrigens war auch Tony Colbert eng mit der Sozialdemokratie verbunden und trat regelmäßig, und seit deren Gründung, bei den Arbeiter-Symphoniekonzerten auf.

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PS

Von seinen Gegnern wurde er später als Kommunist bezeichnet – zurecht?

AE

Politisch begonnen hat er als bürgerlicher Demokrat. Er war Anhänger Ferdinand Kronawetters und Julius Ofners. Colbert war zwar eine Zeitlang im Vorstand der Wiedner Sektion der Radikal-demokratischen Partei, selbst aber nie Mandatar. Als junger Freimaurer hatte er sich in den 1870-Jahren noch um die Errichtung des Kinderasyls im Kahlenbergerdorf bemüht, dabei wurde ihm wohl bald bewusst, dass private Wohltätigkeitsorganisationen, seien sie noch so zahlreich und wohlgemeint, das Elend einer Millionenstadt nicht beenden können. Spätestens mit der Hungerrevolte in Ottakring 1911 wusste Colbert, dass es radikalere Schritte braucht – und dass nur die Sozialdemokraten tatsächlich tiefgreifende Reformen versprachen oder humanistische Politiker wie Julius Ofner, der den Begriff „Sozialstaat“ geprägt hat. Im Ersten Weltkrieg wurde Colbert mit seinem 1915 gegründeten Massenblatt „Der Abend“ dann zu einer zentralen Stimme der KriegsgegnerInnen und wagte es sogar Friedrich Adler, nach dessen Attentat auf den Kriegspremier Karl Stürgkh, zum Heiligen zu erklären. 1919 übertrug er die Eigentümerschaft seiner Zeitung an die Mitarbeiter, vom Redakteur bis zum Drucker – und informierte über seine Sozialisierung Lenin in einem Telegramm! Aber die „Rote Fahne“, die Zeitung der Kommunisten, hat dennoch selten ein gutes Wort über Colbert verloren, so wie auch die sozialdemokratische Presse. Er stand außerhalb der Parteien und sein „Abend“ war noch dazu eine ernste Konkurrenz zur „Arbeiter-Zeitung“.

PS

In einem Nachruf wurde Colbert als „bestgehasster Mann Wiens“ bezeichnet. Warum polarisierte er so?

AE

Im „Abend“ konnte man lesen, ähnlich wie in Karl Kraus‘„Fackel“, wer vom Krieg profitiert. Und mit diesen Angriffen auf die politischen und wirtschaftlichen Eliten griff der „kaiserliche Rat“ Carl Colbert, der Titel war ihm 1908 verliehen worden, auch ehemalige liberale Geschäftspartner oder Mitstreiter an. Diese sahen in ihm einen Verräter. Seine klare Positionierung gegen die Nazis, Mitte der 20er-Jahre, brachte ihn auch auf deren Todesliste, gleich neben Hugo Bettauer, der bekanntlich 1925 auch von einem Nazi ermordet wurde. Den Linken war Colbert suspekt, den Liberalen ein linker Abtrünniger und für die Konservativen, die Antisemiten und dann für die Nazis war Colbert im wahrsten Sinn ein rotes Tuch.

PS

In den 20er Jahren wurde Colbert dann noch Romanautor…

AE

Er war Historiker, kein akademischer, eher ein autodidaktischer, und beschrieb zuerst in zwei populärwissenschaftlichen Büchern den Kapitalismus im Alten Rom und die Machenschaften John Laws. Auch arbeitete er an einer Geschichte der Medicis. In seinen beiden in Folge publizierten Romanen erzählt er vor allem aus jener Welt des Großbürgertums und der Bankiers, der er als junger Mann angehört hat. Er beschreibt in seinen, bei den LeserInnen gut ankommenden, Schlüsselromanen die desaströse Habgier, Unfähigkeit und den Antisemitismus der Eliten, porträtiert aber auch jene, die sich der Inhumanität entgegen gestellt haben.

PS

Dass Colbert nicht schon früher wissenschaftlich erforscht wurde, ist angesichts seiner Rolle beachtlich. Wie sind Sie auf das Thema gekommen?

AE

Ich arbeite bei der Theodor Kramer Gesellschaft, die sich seit jeher der Wiederentdeckung der von den Nazis vertriebenen und ermordeten Autorinnen und Autoren verschrieben hat. Eine der Wiederentdeckten war in den 1990er Jahren Else Feldmann, eine sozialkritische Schriftstellerin, deren Fortsetzungsromane in den 20er und 30er Jahren fast täglich in der „Arbeiter-Zeitung“ zu lesen waren. Die Autorin wurde 1916 durch Colbert entdeckt, engagiert und gefördert. Ein weiterer Intellektueller, der Colbert viel zu verdanken hat, ist Bruno Frei, der in Tucholskys „Weltbühne“ geschrieben hat und in seinen Memoiren einiges über Colbert erzählt. Ich wurde neugierig und war bald gebannt. Im Rahmen des Calls „Republik in Österreich – Demokratie in Wien“ der Stadt Wien habe ich ein Projekt eingereicht, in dem ich auf die Geschichte des Republikanismus in Österreich eingehen wollte. Und um diese Geschichte zu erzählen, nahm ich Carl Colberts Leben und Werk als roten Faden. Und mein Projekt wurde unterstützt, finanziert. So konnte ich das Buch schreiben.

PS

Das Buch ist vielmehr ein Zeitenpanorama als eine Biografie – war das so geplant?

AE

Beim Recherchieren hat sich mir eine Fülle von zusammenhängender Geschichte eröffnet. Da tauchen ein politisch engagierter Mozart, Schubert, Beethoven und Mahler auf, 1848er Revolutionäre, die aus dem Exil, aus Amerika und Italien zurückkehren und entscheidende Impulsgeber in Wien und Budapest werden. Und für Colbert waren die französische Revolution und jene von 1848 von großer Bedeutung. Da führen Spuren von Caroline Pichler über die Lyrikerin Phillis Wheatley zur von Colbert geschätzten Zeitschrift „The Nation“ und zu Barack Obama, von Karl Tschuppik über Adam Mickiewicz und Jules Michelet zu Emma Teleki und Eugenie Schwarzwald. Es gab viele Begegnungen und Aha-Erlebnisse, so z.B., dass der Gymnasiast Bruno Kreisky die „Wage“ las, die sein Vater abonniert hatte, und in der bürgerliche Intellektuelle schon 1898 die Sozialdemokratie lobten, den Sozialstaat, ein starkes Parlament und einen soliden Rechtsstaat forderten. Und Colbert war Förderer und Autor der „Wage“. Und das sind nur einige Kreise von vielen, die sich schließen und den Blick auf die Gegenwärtigkeit der Vergangenheit öffnen.

 

Alexander Emanuelys „Das Beispiel Colbert. Fin de siècle und Republik. Ein dokumentarischer Essay“ ist im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft erschienen.

Alexander Emanuely ist Schriftsteller und Kulturhistoriker. Zuletzt erschienen: „Avantgarde I. Von den anarchistischen Anfängen bis Dada – oder: wider eine begriffliche Beliebigkeit“. Stuttgart 2015, 200 Seiten; „Avantgarde II. Vom Surrealismus bis zu den LettristInnen oder Antikunst und Revolution“. Stuttgart 2017, 231 Seiten; „Das Beispiel Colbert. Fin de siècle und Republik. Ein dokumentarischer Essay.“ Epiloge von Lydia Mischkulnig und Gerhard Scheit. Wien 2020, 656 Seiten; „Aus Widerstand und Solidarität. Vorgeschichte und Gründung der Volkshilfe.“ Wien 2022, 370 Seiten.

Peter Stuiber studierte Geschichte und Germanistik, leitet die Abteilung Publikationen und Digitales Museum im Wien Museum und ist redaktionsverantwortlich für das Wien Museum Magazin.

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