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Martina Nußbaumer, 2.3.2021

Das Covid-19-Wörterbuch von Oleksandra Stehlik

Sprache im Ausnahmezustand

Mit der Corona-Pandemie ging eine Flut neuer oder bislang wenig gebrauchter Wörter einher – für die es nicht sofort Übersetzungen in alle Sprachen gab. Die in der Ukraine geborene Filmemacherin und Illustratorin Oleksandra Stehlik begann daher kurzerhand ein eigenes Wörterbuch zu schreiben. Ihre Notizen, die Eingang in die Corona-Sammlung des Wien Museums gefunden haben, erzählen nicht nur von den Herausforderungen im Krisenalltag. Sie geben auch Zeugnis davon, wie sich die deutsche Sprache selbst verändert hat.

„Krisenstab“.
„Betretungsverbot“.
„Schmierinfektion“.


Zu Beginn der Corona-Pandemie 2020 tauchten in den Medien und in öffentlichen Verlautbarungen verstärkt Wörter auf, die für Nicht-Muttersprachler*innen zuvor nicht oberste Priorität beim Erwerb der deutschen Sprache hatten. Wörter, für die oft auch entsprechende Übersetzungen in der eigenen Sprache fehlten. Oleksandra Stehlik erinnert sich an viele Gespräche auf Ukrainisch und Russisch im Frühjahr 2020, in denen ihre Gesprächspartner*innen die neuen „Corona-Ausdrücke“ auf Deutsch verwendeten.

„Auch in der U-Bahn hörte man Gespräche und Telefonate auf Türkisch oder Arabisch, und dann kamen plötzlich auf Deutsch Wörter wie ‚Ausgangsbeschränkungen‘ oder ‚Kurzarbeit‘. Weil fast niemand die genaue Übersetzung wusste, weil man diese Situation nur auf Deutsch erlebt hat.“

Von losen Zetteln zum Wörterbuch

Die Filmemacherin, die seit rund zehn Jahren in Wien lebt, begann damals, neue Wörter aufzuschreiben und mit Hilfe von „Hausverstand“, alten Notizen, Online-Wörterbüchern und anderen Internet-Quellen zu übersetzen. „Was die Fachausdrücke betrifft, so sind die Deutsch-Ukrainisch-Wörterbücher oft nicht so umfangreich wie die deutsch-russischen oder deutsch-englischen. Deshalb muss man meistens von Deutsch über Russisch oder Englisch ins Ukrainische übersetzen; Deutsch-Ukrainisch geht nur in seltenen Fällen. Da Russisch früher in der Ukraine eine Amtssprache war und es jeder gelernt hat, kann ich auch russische Quellen benutzen. Vom Russischen ins Ukrainische übersetzt man dann im Kopf, da schreibe ich nur in seltenen Fällen was auf.“ In den meisten Fällen notierte Oleksandra Stehlik die Wörter gleich mit einer deutschen Worterklärung.

Was zunächst als lose Sammlung auf verstreuten Zetteln begann, fand rasch Fortsetzung in einem richtiggehenden Wörterbuch – einem linierten Heft, in dem die Filmemacherin fast täglich für sie neue oder zuvor wenig benötigte Ausdrücke handschriftlich in alphabetischer Reihenfolge verzeichnete – von A wie „Ansteckungsgefahr“ bis Z wie „Zukunftsangst“. „Natürlich waren nicht alle Wörter neu für mich, aber viele sind nun sehr präsent geworden. Wörter, die man eher in einem Film oder in einem Buch über die DDR, die UdSSR, den Zweiten Weltkrieg oder ‚1984‘ vermuten würde.“

„Die Sprache riecht jetzt nach Krieg“

Ein starkes Flashback, nicht nur in sprachlicher Hinsicht, hatte Oleksandra Stehlik am 13. März 2020: An diesem Freitag vor dem ersten Lockdown am 16. März 2020 wurde sie Zeugin, wie in Wien Menschen panisch die Supermärkte stürmten und Lebensmittel und Toilettenpapier „hamsterten“. Die gebürtige Ukrainerin, die den Zerfall der ehemaligen Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre miterlebt hat, fragte sich in dieser Situation: „Wo bin ich? Bin ich jetzt in West- oder Osteuropa? Bin ich jetzt wirklich in Wien?“ Und begann gleich, neu über Sprache nachzudenken: „Da ist mir bewusst geworden, dass der Ausdruck ‚seinen Arsch retten‘ in Corona-Zeiten bedeutet: ‚Ausreichend Toilettenpapier bekommen‘.“

Viele Vokabel, die die Filmemacherin zwischen März und August 2020 auf den mehr als 100 Seiten ihres Covid-19-Wörterbuchs gesammelt hat, zeugen von der Angst und Unsicherheit, die sich im ersten Lockdown breitmachten. Sie erzählen von der Bedeutungszunahme medizinischer und juristischer Fachbegriffe in der Alltagssprache, aber auch von einer Häufung von Vokabeln zum Thema Regulierung, Überwachung und Kontrolle. Wörter wie „Notstandsgesetze“, „Ausgangssperre“ oder „Maskenpflicht“ waren zuvor kaum Vokabel, die man im Wiener Alltag brauchte. „Die Sprache riecht jetzt nach Krieg“, lautete Stehliks zugespitzter Befund der sprachlichen Veränderungen im Frühjahr 2020.

Wiener Spezialvokabel und Begebenheiten

Immer wieder lassen sich in ihren Aufzeichnungen aber auch harmlosere Wiener Besonderheiten finden, für die zum Teil auch für Deutschsprachige ohne Wien-Bezug Übersetzung brauchen: Etwa der von vielen salopp als „Ludwig-Fünfziger“ titulierte „Gastro-Gutschein“ im Wert von 25 Euro (für Einpersonenhaushalte) bzw. 50 Euro (für Mehrpersonenhaushalte), den die Wiener Stadtregierung unter Bürgermeister Michael Ludwig im Juni 2020 allen in Wien wohnenden Personen zukommen ließ, um die Wiener Gastronomie zu unterstützen. Vokabel wie diese machen Stehliks Covid-19-Wörterbuch gleichsam auch zu einer Chronik Wiener und österreichischer „Corona-Maßnahmen“ im Frühjahr und Sommer 2020. Und auch so manche kurze lokale Erregung, die neue Wortkreationen produzierte, fand hier ihren Niederschlag: etwa jene über Bundespräsident Alexander van der Bellen, der sich als „Sperrstunden-Sünder“ im Mai 2020 im Gastgarten eines Lokals über die „Corona-Sperrstunde“ hinaus verplaudert hatte.

Nachbarschaften und Neukombinationen

Die „Triage“, welche Wörter ins Buch kommen sollen und welche nicht, fiel der sichtlich Freude am Spiel mit der Sprache habenden Filmemacherin nicht leicht. Wichtiger als eine strenge alphabetische Reihenfolge – diese gilt in ihrem Wörterbuch nur für die jeweiligen Anfangsbuchstaben – war ihr, dass benachbarte Wörter auch eine Geschichte über die turbulenten „Corona-Zeiten“ erzählen. Bewusst setzte sie etwa die viel beschworene „Sex-Flaute“ während der Krise neben den „Scheidungsanwalt“, den sie im öffentlichen Diskurs dieser Monate öfter als sonst antraf.

Zwei Abschnitte werden im Wörterbuch getrennt vom allgemeinen Alphabet geführt: Zum einen Wörter, die mit Umlauten beginnen, mit denen Oleksandra Stehlik in ihrem eigenen Alltag auf Kriegsfuß steht. Und zum anderen rund 120 neue Corona-Komposita – von „Corona-Ampel“ über „Corona-Party“ bis „Corona-Teststraße“. Die rasche Ausbreitung solcher Komposita zählt für Stehlik zu den auffälligsten Spracherscheinungen des Frühjahrs 2020.

„Deutsch ist sehr kantig geworden“

In persönlichen Notizen, die sie dem Wien Museum gemeinsam mit ihrem Wörterbuch übergeben hat, zieht die Filmemacherin auch Bilanz über die Veränderungen der gesprochenen Sprache, die sie während der ersten Krisenmonate wahrgenommen hat. Sehr oft sei „ein Deutsch-Englisch-Mischmasch“ verwendet worden; Imperative hätten an Bedeutung gewonnen, die Verwendung von Adjektiven hätte abgenommen, die Menschen würden Sätze oft abrupt enden lassen. Insgesamt erscheine die deutsche Sprache stärker „rationiert“ und sei „sehr kantig“ geworden.

Mit der Übergabe ihres Covid-19-Wörterbuchs an das Wien Museum im September 2020 hat Oleksandra Stehlik ihre Erkundung der ständig im Fluss befindlichen Sprache der Krise vorläufig abgeschlossen – eine Erkundung, nach der sie sich für weitere Lockdowns gut gerüstet fühlt.

Schon öfter hat die Filmemacherin in neuen und herausfordernden Lebenssituationen einfach ein neues Wörterbuch angelegt. Die Strategie, so kontinuierlich den Wortschatz zu erweitern und sich für Krisen zu wappnen, hat sich auch dieses Mal bewährt – und überdies all jenen, die sich für die pandemiebedingte Veränderung der deutschen Sprache und das Wiener und österreichische Vokabular der Krise interessieren, eine reiche Quelle beschert.

 

Weitere Objekte, die im Rahmen des Corona-Sammelaufrufs des Wien Museums in die Sammlung gekommen sind, finden Sie hier.

Martina Nußbaumer studierte Geschichte, Angewandte Kulturwissenschaften und Kulturmanagement in Graz und Edinburgh und ist seit 2008 Kuratorin im Wien Museum. Ausstellungen, Publikationen und Radiosendungen (Ö1) zu Stadt- und Kulturgeschichte im 19., 20. und 21. Jahrhundert, Geschlechtergeschichte sowie zu Geschichts- und Identitätspolitik.

 

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