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Susanne Winkler, 19.6.2020

Das fotografische Erinnerungsalbum von Catja Rauschenbach

Wien 1972: „Charme und Noblesse“

1972 kommt die junge Fotografin Catja Rauschenbach aus Liechtenstein nach Wien, um an der Grafischen Versuchs- und Bundeslehranstalt ihre Meisterprüfung zu machen. Ein Wienbesuch knapp 20 Jahre später weckt Erinnerungen und sie beginnt, Tagebucheinträge und Fotografien aus dem Wiener Studienjahr in einem Album zusammenzustellen, das sie 2016 dem Wien Museum als Schenkung übergibt. 

Was Catja Rauschenbach inspiriert, sind die großen Veränderungen, die sie 1991 in der Stadt vorfindet. In ihren Notizen schreibt sie: „Wien – wie ich es all die Jahre in Erinnerung in mir trug, hatte sich stark verändert, als wäre ich in eine fremde Stadt zurückgekehrt. Die dunklen rußgeschwärzten Fassaden waren weiß herabgeputzt, die Gassen in der Innenstadt ohne Gehupe, ohne Geschimpfe und Bimmeln, mir fremd. Die Plätze und Straßen waren Fußgängerzonen geworden, mit rechteckigen Blumenkübeln, wie man sie in allen europäischen Städten sieht.“

Die SW-Bilder der jungen Fotografin aus dem wohlhabenden, modernen und vom Krieg verschonten Liechtenstein fokussieren vor allem auf das alte und marode Wien, auf die Innenstadt und die angegrauten Gründerzeitviertel. Das damals neue Wien, das in den beiden Jahrzehnten zuvor an der Peripherie stark angewachsenen war, interessiert die junge Fotografin nicht. Es sind die Relikte der ehemaligen Metropole, die sie faszinieren, die zu großen Schuhe für das ein wenig kläglich gewordene Nachkriegswien. Sie findet diese in den alten Kaffeehäusern, den Ringstraßenparks, am Naschmarkt und Wienfluss, in den Stadtbahnstationen Otto Wagners und an vielen Details, wie den imposanten Stiegenhäusern und Eingangsportalen der Gründerzeitpalais. Das Wien, das sie in ihren Bildern festhält, ist eine Stadt mit Patina, mit Rissen im wörtlichen und übertragenen Sinn, voller Geheimnisse, aber mit „Noblesse und Charme“. 

Die Menschen in Rauschenbachs Fotos sind überwiegend alt, oft armselige und kuriose Gestalten, die Gesichter melancholisch, mürrisch und müde. Rauschenbach schreibt: „Nur ganz wenige, dunkel gekleidete Menschen sind unterwegs. Die große Stadt, schwarz umflort, ist wie in Trauer erstarrt. Menschen gehen gebückt, sind still, verschlossen. Keine Fröhlichkeit, wie ich sie in Opern singen hörte und mir aus Romanen vorgestellt habe. In den Gassen klaffen Lücken abgeschnittener Mietshäuser, Tapetenfetzen kleben noch an Wänden, wo ein Zimmer war. Ruinen mit zerschlagenen Fensterscheiben, Schutthaufen. Die Menschen tragen Schicksale, Erinnerungen, die sie niederdrücken. Viele sind auch wohlbeleibt, wohl eine Folge der Kriegshungerjahre. Der zweite Weltkrieg, den ich nur aus Erzählungen von Heinrich Böll, Stefan Zweig, Erich Maria Remarque erahnen kann. Der Geschichtsunterricht in der Schule hat dieses Thema nur gestreift. Die wienerische Lebensfreude, die Leichtigkeit, der Intellekt ist im Krieg umgekommen, verschollen. Zurück blieben die Trauernden.“ 
 

Tatsächlich nimmt Wien unter den europäischen Hauptstädten nach 1945 eine besondere Rolle ein. Die Bevölkerungszahl schrumpft kontinuierlich, was mit der Lage am Eisernen Vorhang und einem gegenüber dem Westen Österreichs vergleichsweise niedrigen Wirtschaftswachstum zu tun hat. Auch fördert die Motorisierung den Umzug vieler WienerInnen ins Umland. Der Rückgang der Bevölkerung und eine Stadtplanung, die auf Satellitenstädte setzt, führt zu Überalterung und Verwahrlosung der inneren Stadtgebiete. Zudem bremst der strenge Mieterschutz Investitionen in den privaten Hausbesitz.  

Die Stadt, die Catja Rauschenbach 1991 vorfindet, ist längst aufgewacht. Um 1980 hatte eine Aufbruchszeit begonnen und Wien wurde urbaner und weltläufiger. Innerhalb weniger Jahre entsteht eine Vielzahl neuer Lokale, die von verschiedenen Szenen frequentiert wird und die kulturelle Topografie der Stadt nachhaltig verändern. Öko- und Alternativbeisln, selbstverwaltete Kultur- und Jugendzentren, Nachtcafés und Schwulenlokale zählen dazu. Brennpunkte sind die Gegend um den Schwedenplatz und der Naschmarkt. Die Sperrstunde verschiebt sich in die Nacht, gefragt ist „Programm nach zwölf“. Auch die junge Wiener Kunstszene beginnt zu florieren. Stadtzeitungen mit Programmheft wie der Falter wirken dabei als wichtige Drehscheibe. 

Hätte Catja Rauschenbach diesen Aufbruch noch miterlebt, hätte sie vielleicht „gewagt zu bleiben“. Aber sie kehrt in die Schweiz bzw. nach Liechtenstein zurück. Sie arbeitet für das liechtensteinsche Museum, die staatliche Kunstsammlung, das Amt für Briefmarkengestaltung sowie für diverse Architekten, Werbegrafiker und Industriefirmen, bevor sie 1981 zuerst in St. Gallen und später in Liechtenstein ihr eigenes Atelier für Industrie- und Werbefotografie eröffnet. Ab 1997 bildet sie sich zur Bildhauerin aus. Ihre intensive fotografische Beschäftigung mit dem Rhein führt zu diversen Foto-Ausstellungen und Publikationen. U.a. entsteht eine vierbändiges Bilddokumentation zum Dorf Triesenberg (FL).

Susanne Winkler, Historikerin, Kuratorin am Wien Museum. Publikationen und Ausstellungen mit Schwerpunkt Stadt- und Fotografiegeschichte.

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Kommentare

bernhard

ich bin mir ziemlich sicher, dass es sich bei dem zweiten kaffeehaus um das hawelka handelt!

Leander

Phantastisch, was für eine bildnerische Qualität zeigt sich hier aus einem feinen Blick aufs angeblich Unwesentliche. Geschärft durch den Gegensatz zu Ihrer Heimat. Für uns, die wir die Stadt der hunderten Grautöne als 20jährige damals erlebten, nun nach fast 50 Jahren ein visueller Rücksturz in eine seltsame Vergangenheit, in der wir uns kaum vorstellen konnten, wie die Stadt sich (nicht nur ins Positive) verändern wird.

Redaktion

Lieber Herr Frank, beim ersten meinen unsere Kurator*innen, dass es das Café Ritter auf der Mariahilfer Straße (Ecke Amerlingstraße) sein könnte. Beim zweiten rätseln wir noch... Beste Grüße, Peter Stuiber

Dietrich Frank

Könnten Sie vielleicht die beiden Kaffeehäuser identifizieren? (Ich denke, es sind 2 verschiedene). Die Fotos sind toll!

Redaktion

Sehr geehrter Herr Pretterklieber! Vielen Dank für diesen Hinweis - wir haben die Bildunterschrift entsprechend korrigiert! Herzliche Grüße aus dem Wien Museum, Peter Stuiber (Magazin)

Michael Pretterklieber

Das erste Photo betitelt "In der Straßenbahn" ist nicht in einem Triebwagen der Straßenbahn, sondern in einem N1-Triebwagen der Stadtbahn aufgenommen. Dafür spricht der sitzende Fahrer mit dem rechts angeordneten Fahrschalter, die Anordnung und Art der Sitze und auch die nur partielle Glastrennwand zwischen Plattform und Fahrgastraum. Auf dieser ist übrigens auch der Linienplan der Stadtplan affichiert.
Sonst kann man zu dieser zeitgeschichtlichen Sammlung nur gratulieren.