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Kathrin Raminger, 25.4.2020

Der 1. Mai in Krisenzeiten

Höhere Gewalt am Tag der Arbeit

Die diesjährige, dem Coronavirus geschuldete Absage des traditionellen sozialdemokratischen Mai-Aufmarsches stellt eine Premiere in dessen 130-jähriger Geschichte dar – zumindest in Zeiten, in denen nicht Diktatur und Krieg herrschten. Der Atomreaktorunfall in Tschernobyl wirkte sich 1986 jedenfalls nicht aus, 1981 fand die Feier unter Schock statt – Stadtrat Heinz Nittel war unmittelbar zuvor ermordet worden.

Die Maifeier der Wiener SPÖ ist jedoch auch im Pandemie-Jahr 2020 nicht ersatzlos gestrichen. Sie kann lediglich nicht in ihrer gewohnten Form als Massenevent im öffentlichen Raum stattfinden, sondern muss in einer den Anforderungen des Social Distancing gemäßen Art und Weise und im Einklang mit dem derzeit geltenden Covid-19 Maßnahmengesetz stattfinden. Wie so vieles in den letzten Tagen und Wochen wird daher auch der Tag der Arbeit dieses Jahr als Medienevent begangen und in den virtuellen Raum verlegt. Den eigentlichen Zielsetzungen der Kulturpraxis des 1. Mai steht diese Form der Inszenierung diametral entgegen, sollten doch die Maifeiern primär dazu dienen, im Zuge der symbolischen Inbesitznahme von Orten der bürgerlichen Repräsentation der Stärke der Arbeiterbewegung und ihren Forderungen Sichtbarkeit im öffentlichen Raum zu verleihen und als mobilisierendes Massenerlebnis kollektive Identität zu stiften.

Eine Durchführung des 1. Mai als in den virtuellen Raum verlagertes Medienevent bringt zunächst jedoch eine Vereinzelung der Teilnehmer_innen vor ihren jeweiligen Devices und eine weitgehend passive Konsumation des vorgesehenen Ablaufs mit sich, auch wenn die Wiener SPÖ unter dem Motto „Physical Distancing statt Social Distancing“ bemüht ist, diesen Widerspruch aufzulösen und – soweit TV, Internet und Social Media zulassen – ein aktives Partizipieren an den geplanten Programmpunkten und das Entstehen eines Gemeinschaftsgefühls zu ermöglichen. So ist etwa das traditionelle Absingen der Internationalen als Massenchor über Video geplant, während die Sichtbarkeit im – realen bzw. analogen – öffentlichen Raum vorranging über das Dekorieren von Fenstern mit den klassischen Symbolen der Sozialdemokratie und den für den 1. Mai typischen Transparenten erzielt werden soll.

Die Wiener Sozialdemokratie ist durch die Corona-Pandemie jedoch nicht zum ersten Mal gezwungen, neue Konzepte für die Durchführung des 1. Mai zu entwickeln, Inszenierungsformen zu adaptieren und auf alternative Veranstaltungsorte auszuweichen. So etwa wurde den Wiener Arbeiter_innen ausgerechnet beim ersten Tag der Arbeit unter demokratischen Verhältnissen die seit der ersten Maikundgebung 1890 traditionelle nachmittägliche Zusammenkunft im Prater verboten. Die auch im Frühjahr 1919 noch wütende Spanische Grippe traf daran allerdings keine Schuld, sondern das Verbot war vielmehr eine Folge der Gründonnerstagsdemonstration vom 17. April 1919 und der Angst der Machthaber vor der Rätebewegung, die in Österreich eine Räterepublik nach ungarischem Vorbild anstrebte. Ein organisiertes Zusammentreffen der Soldaten- und Arbeiterräte im Prater im Rahmen des 1. Mai sollte angesichts der nur wenige Tage später, am 4. Mai 1919, stattfindenden ersten Wiener Gemeindesratswahlen unbedingt verhindert werden. Die Wiener Sozialdemokratie machte aus der Not eine Tugend und führte anstelle der traditionellen Maifeier im Prater festliche Veranstaltungen in Theatern und Konzertsälen, in Kinos sowie auf Sportplätzen durch. Stolz verkündete sie am 2. Mai resümierend in der Arbeiter-Zeitung: „… erstmals hat die Arbeiterschaft Wiens von allen Kunstgütern dieser Stadt Besitz ergriffen“ und im Zuge dessen das Recht des Proletariats auf Kunst und Erhöhung des Lebensgefühls, auf Freude und Unterhaltung – eine weitere zentrale Forderung, die traditionell im Mittelpunkt der Maifeiern stand – zum Ausdruck gebracht. Hinzuzufügen ist, dass die Sozialdemokratie wohl auch durch den Beschluss der Nationalversammlung vom 25. April 1919 besänftigt wurde, durch den der Tag der Arbeit in den Rang eines Staatsfeiertages erhoben wurde.

Ein weiteres Ereignis, das wie Corona-Pandemie und Spanische Grippe wohl der Kategorie „höhere Gewalt“ zuzuordnen ist, hatte überraschenderweise keinen Einfluss auf die Durchführung der Maifeiern in Wien: der Super-GAU im Kernkraftwerk Tschernobyl in der heutigen Ukraine am 26. April 1986. Dabei mag eine Rolle gespielt haben, dass die sowjetischen Behörden die Explosion erst am 28. April publik machten und das wahre Ausmaß der Katastrophe zunächst geheim zu halten versuchten, sodass sowohl die Dimension der Bedrohung als auch die damit verbundenen Risiken und Gefahren für die Bevölkerung aufgrund der unzureichenden Informationslage wohl nur schwer abgeschätzt werden konnten.

Feststeht, dass sich die nukleare Katastrophe, deren Folgen im kollektiven Gedächtnis Österreichs nach wie vor präsent sind, auf die Abhaltung des 1. Mai 1986 (trotz morgendlichen Regens) nicht auswirkte. – Im Gegenteil: Die Arbeiter-Zeitung sprach von der mächtigsten Kundgebung seit 1945. Inhaltlich reagierte die SPÖ im Zuge der Maikundgebung aber auf den Nuklear-Unfall. So plädierte der damalige Präsidentschaftskandidat Kurt Steyrer in seiner Rede auf dem Rathausplatz dafür, angesichts des Unfalls im Kernkraftwerk Tschernobyl auch die friedliche Nutzung von Atomenergie zu hinterfragen. Auch auf Transparenten wurde vereinzelt auf die Gefahren von Atomenergie Bezug genommen.

Noch wesentlich unvorbereiteter als der Super-GAU in Tschernobyl traf die Wiener Sozialdemokratie die Ermordung des Verkehrsstadtrats Heinz Nittel vor seinem Wohnhaus in Hietzing am Morgen des 1. Mai 1981. Nittel, der sich gerade auf den Weg zum Rathausplatz machen wollte, wurde, darüber herrschte rasch Einigkeit, Opfer eines politisch motivierten Schussattentats. Als kurzfristige Reaktion auf den Mord wurden die Bezirksaufmärsche über die Ringstraße schweigend und ohne Musik durchgeführt und die Schlusskundgebung am Rathausplatz in eine improvisierte Trauerfeier umgewandelt.

Die Hintergründe der Ermordung Nittels lagen zu diesem frühen Zeitpunkt noch vollkommen im Dunklen, doch Indizien, dass das Attentat in Verbindung zu palästinensischem Terror stehen könnte, verdichteten sich bereits in den nächsten Tagen und Wochen. Nittels Mörder Hesham Rajeh, ein Mitglied der palästinensischen Terrororganisation Fatah-Revolutionärer Rat (auch: Abu-Nidal-Organisation), konnte im August 1981 eher durch Zufall im Zuge des Terroranschlags auf die Wiener Synagoge mit zwei Toten und 21 teils Schwerverletzten gefasst werden. Im Verlauf der Vernehmungen gestand der damals 21-Jährige auch den Mord an Heinz Nittel. Dieser war als Präsident der Österreichisch-Israelischen Gesellschaft und Mitbegründer des Jewish Welcome Service ins Visier des Terroristen geraten. Ziel der Attentate war es, die im Rahmen der Nahost-Politik von SP-Bundeskanzler Bruno Kreisky vorangetriebenen palästinensisch-israelischen Friedensverhandlungen zu torpedieren.

Einer Herausforderung ganz anderer Art sah sich die Wiener Arbeiterschaft hingegen am 1. Mai 1933 gegenüber: Der seit der Ausschaltung des Parlaments im März 1933 autoritär auf Basis des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes regierende christlich-soziale Bundeskanzler Engelbert Dollfuß hatte im Zuge weiterer Einschränkungen demokratischer Grundrechte den Maiaufmarsch als Machtdemonstration der oppositionellen Arbeiterbewegung verboten. Der traditionelle Zug der Arbeiter_innen über die Ringstraße zum Rathaus, Symbol ihrer Macht und – noch- Sitz des roten Bürgermeisters Karl Seitz, sollte mit Militärgewalt verhindert werden. Die Wiener Sozialdemokraten reagierten darauf, indem sie zu lose angeordneten, friedlichen „Spaziergängen“ entlang der mit Stacheldrahtverhauen abgeriegelten Wiener Innenstadt aufriefen. Zudem wurden die Genoss_innen aufgefordert, Geschlossenheit und Stärke der Wiener Sozialdemokratie im Stadtbild auch visuell zu demonstrieren: Fenster schmücken! Fahnen heraus!, lautete auch da die Devise.

Auch wenn die Durchführung der sozialdemokratischen Maikundgebungen in ihrer 130-jährigen Geschichte bereits mit zahlreichen Krisen konfrontiert war, so verlangt das Coronavirus der Wiener Sozialdemokratie doch die bisher umfassendsten Modifikationen in der Abhaltung der Maifeier ab: ihre Verlagerung vom realen in den virtuellen Raum mit gänzlich anderen medialen Gesetzmäßigkeiten und Funktionsweisen. Sowohl aus medienwissenschaftlicher als auch (kultur-)historischer Perspektive wird es spannend sein zu beobachten, ob und wie dieses Experiment gelingt.

Literatur:

https://www.spoe.wien/tagderarbeit/ (20.4.2020).

Arbeiter-Zeitung, 30. April 1919, S. 5.

Arbeiter-Zeitung, 2. Mai 1919, S. 3.

Arbeiter-Zeitung, 26. April 1933, S. 1.

Arbeiter-Zeitung, 27. April 1933, S. 1.

Arbeiter-Zeitung, 28. April 1933, S. 1.

Arbeiter-Zeitung, 29. April 1933, S. 1-2.

Arbeiter-Zeitung, 2. Mai 1981, S. 5.

Arbeiter-Zeitung, 2. Mai 1986, S. 2-3.

Eberhard Heuel: Vom Arbeitermai zum nationalsozialistischen Fest der Volksgemeinschaft, in: GMH 4/90, S. 241-249.

Amália Kerekes, Katalin Teller: Periphere Urbanisierung. Massenkonzepte der Unterhaltungskultur in Wien und Budapest in den 1920er Jahren, in: Tobias Becker, Anna Littmann, Johanna Niedbalski (Hg.): Die tausend Freuden der Metropole. Vergnügungskultur um 1900, Bielefeld 2010, S. 67-83.

Gottfried Korff: Seht die Zeichen, die euch gelten. Fünf Bemerkungen zur Symbolgeschichte des 1. Mai, in: Inge Marßolek (Hg.): 100 Jahre Zukunft. Zur Geschichte des 1. Mai, Frankfurt/Main, Wien 1990, S. 15-39.

Gottfried Korff: Volkskultur und Arbeiterkultur. Überlegungen am Beispiel der sozialistischen Maifesttradition, in: Geschichte und Gesellschaft 1 (1979), S. 83-102.

Wolfgang Maderthaner, Michaela Maier (Hg.): Acht Stunden aber wollen wir Mensch sein. Der 1. Mai. Geschichte und Geschichten, Wien 2010.

Inge Marszolek: Vom Proletarier zum „Soldaten der Arbeit“. Zur Inszenierung der Arbeit am 1. Mai 1933, in: Marc Buggeln, Michael Wildt (Hg.), Arbeit im Nationalsozialismus, München 2014, S. 215-228.

Siegfried Mattl: Der Tag des neuen Österreich. Der Ständestaat als Folkloreunternehmung, in: Michael Achenbach, Karin Moser (Hg.): Österreich in Bild und Ton. Die Filmwochenschau des austrofaschistischen Ständestaats, Wien 2002, S. 183-193.

Béla Rásky: Arbeiterfesttage. Zur Fest- und Feierkultur der österreichischen historischen Sozialdemokratie bis 1933, in: Kakanien revisited, 24/1 (2003). Online verfügbar unter: http://www.kakanien-revisited.at/beitr/fallstudie/BRasky2.pdf (20.4.2020).

Thomas Riegler: Ein ungesühntes Attentat am Tag der Arbeit, in: Die Presse, 17.4.2016. Online verfügbar unter: https://www.diepresse.com/4969002/ein-ungesuhntes-attentat-am-tag-der-arbeit (20.4.2020).

Michael Ruck: Vom Demonstrations- und Festtag der Arbeiterbewegung zum nationalen Feiertag des deutschen Volkes, in: Inge Marßolek (Hg.): 100 Jahre Zukunft. Zur Geschichte des 1. Mai, Frankfurt/Main, Wien 1990, S. 170-188.

Harald Troch: Rebellensonntag. Der 1. Mai zwischen Politik, Arbeiterkultur und Volksfest in Österreich (1890–1918), Wien/Zürich 1991.

Josef Vass (Hg.): 100 Jahre 1. Mai, Wien 1990.

Kathrin Raminger ist Romanistin und Zeithistorikerin mit einem Schwerpunkt auf Diktaturforschung, Visuelle Zeit- und Kulturgeschichte, kulturelle und soziale Praktiken der Repräsentation und Cultural Diplomacy. Derzeit ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im FWF-PEEK-Projekt „Interactive Music Mapping Vienna“ unter der Leitung von Univ.-Prof. in Dr.in Susana Zapke an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien (MUK) tätig.

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Kommentare

Redaktion

Sehr geehrte Herr Bittner, vielen Dank für Ihre Rückmeldung! Ihr Hinweis auf den Zeitpunkt der ORF-Berichterstattung ist korrekt und wir haben die Stelle im Text entsprechend korrigiert. Dass beim Maiaufmarsch 2016 die Reihenfolge der Reden aus parteitaktischen Gründen geändert wurde, war für uns nicht Grund genug, dieses Jahr in eine Reihe mit Corona, Tschernobyl oder einem politischen Attentat zu stellen. Mit besten Grüßen, Peter Stuiber (Redaktion/Wien Museum Magazin)

Hans Michael Bittner

Ein sehr einseitiger Artikel, kein Wunder, wenn man sich die Quellen ansieht. Zum 1. Mai 1986: Natürlich wussten wir, dass die Wolke über Wien ist (warum wäre Franz Kreuzer sonst zurückgetreten?), vor allem, weil wir deutsches Fernsehen geschaut hatten und dem ORF nicht vertrauten. Die Deutschen sagten Ostwind an, der ORF Westwind. Übrigens brachte die ZiB schon zwei Tage vor dem 1.Mai eine ausführliche Sendung über Tschernobyl (https://www.youtube.com/watch?v=ha47OV-vrLU, https://www.youtube.com/watch?v=9n977DCuNF0, https://orf.at/v2/stories/2334075/2334076/), nicht erst am Tag davor.
Und was mich noch stört: wieso findet sich kein Wort über den 1. Mai 2016?