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Georg Vasold, 30.8.2022

Der Architekt Franz Schuster

Funktionalist im Wandel der Zeit

Franz Schuster nimmt in der österreichischen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts einen höchst bedeutsamen Rang ein. Anders als seine Generationskolleg:innen Margarete Schütte -Lihotzky oder Clemens Holzmeister ist er heute jedoch kaum noch bekannt. Das hat nichts mit mangelnder Qualität seines Werks zu tun, sondern mit seiner Nähe zum NS-Regime.

Franz Schuster war hochinnovativ, und seine mit „weihevoller Zurückhaltung“ (Friedrich Achleitner) errichteten Bauten beeindrucken in ihrer stringenten Funktionalität bis heute. In politischer Hinsicht hatte der schon in jungen Jahren angesehene Architekt jedoch offenbar keinerlei Berührungsängste. Er arbeitete anfangs in Wien für die Sozialdemokraten, wirkte in Frankfurt am Main unter einer linksliberalen Stadtregierung, wurde im Austrofaschismus zum Nachfolger von Josef Hoffmann an der Wiener Kunstgewerbeschule (heute: Universität für angewandte Kunst) ernannt und arbeitete nach dem „Anschluss“ für die Nationalsozialisten. Für deren Plan, zwischen Schwedenplatz und Praterstern ein gigantomanisches Aufmarschfeld mit Prachtstraßen und Festplätzen zu errichten, lieferte er 1938 einen Entwurf, der den Abbruch weiter Teile der Leopoldstadt vorsah – also just jenes Bezirks, in dem der Großteil der jüdischen Bevölkerung Wiens lebte.

Schusters Verstrickungen in das NS-Regime, über die in Österreich offiziell lange geschwiegen wurde, taten seiner Karriere jedoch keinen Abbruch. Problemlos behielt er nach dem Krieg seine Stelle als Professor, 1946 wurde er zum einflussreichen Berater des Wohnbauamts ernannt, und 1951 erhielt er als Würdigung seines bisherigen Lebenswerks sogar den Architekturpreis der Stadt Wien. Seine unrühmliche Rolle in der NS-Zeit war den heimischen Politiker:innen zwar bekannt, aber sie sahen darüber hinweg und versuchten, öffentliche Diskussionen über ihn gar nicht erst aufkommen zu lassen. Das ist im Übrigen ganz wörtlich zu verstehen. Folgt man den Zeitungsberichten, so wurde Schuster während der Grundsteinlegung der Siedlung Siemensstraße mit keinem Wort erwähnt.

Auf seine Expertise indes wollte man im Wiener Rathaus nicht verzichten, und das mit gutem Grund. Immerhin galt Schuster als Koryphäe des Siedlungsbaus, als ein ausgewiesener Fachmann, der auf eine reiche Erfahrung zurückblicken konnte, der sich schon in den 1920er Jahren mit den Problemen des Wohnens auf kleinstem Raum beschäftigt hatte, der international gut vernetzt war und der seine Ideen wortgewandt und überzeugend zu vermitteln wusste. Als Absolvent der Wiener Kunstgewerbeschule, an der er unter Heinrich Tessenow studiert hatte, kam er schon früh mit den Herausforderungen des sozialen Wohnbaus in Berührung. Nach seinem Studium wirkte er ab 1916 zunächst als Assistent, später als Mitarbeiter seines Lehrers in Hellerau bei Dresden. Dort wurde er mit lebensreformatorischen Ideen konfrontiert und lernte, die Prinzipien der Gartenstadtbewegung umzusetzen. Das Ziel dieser Bewegung bestand darin, durch den Bau weiträumiger Siedlungen am Rand oder im Umland der Ballungszentren die schlechten Wohn- und Lebensverhältnisse einkommensschwacher Bevölkerungsschichten zu verbessern. Es galt, diesen Menschen nicht nur eine angenehme und moderne Wohnatmosphäre zu bieten, sondern auch die infrastrukturelle Voraussetzung für die Entfaltung kulturellen Lebens zu schaffen. Von zentraler Bedeutung war dabei die Auseinandersetzung mit der Natur, die als gesundheitsfördernder Lebensraum sowie als Korrektiv gegen städtebauliche Fehlentwicklungen verstanden wurde.

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Siedlung Siemensstraße, 2020, Foto: Klaus Pichler/Wien Museum

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Siedlung Siemensstraße, 2020, Foto: Klaus Pichler/Wien Museum

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An dieser Ansicht hielt Schuster zeitlebens fest. Gerade nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs, als sich die Architekt:innen aufgefordert sahen, einen Beitrag zur „Sanierung von Gesellschaft und Stadt“ zu leisten, forderte Schuster mit Nachdruck eine Rückbesinnung auf die Natur, die ihm als „Lehrmeisterin“ galt. „Durch sie wird das Sinnvolle und Organische des Aufbaues im Ganzen und das Zusammenwirken der einzelnen Teile in besonderer Weise sichtbar gemacht.“ Wie sehr diese Überzeugung auch noch in die Planungen für die Siedlung Siemensstraße einfloss, zeigt sich an dem subtil abgestimmten Zusammenklang von Architektur und Natur, von gebauter und gewachsener Umwelt, und es verwundert nicht, dass just in dieser Symbiose das bestimmende Merkmal und die herausragende Qualität der Siedlung gesehen wird.

Im Zentrum der heimischen Avantgarde

1923 kehrte Schuster aus Dresden nach Wien zurück und war zunächst als Chefarchitekt des Österreichischen Verbands für Siedlungs- und Kleingartenwesen tätig. Dies war eine für ihn überaus prägende Zeit. Zum einen lernte er dort die progressivsten Kräfte der heimischen Architekturszene kennen, unter anderem Adolf Loos, Margarete (Schütte-)Lihotzky, Josef Frank und Oskar Wlach. Mit einigen von ihnen arbeitete er in der Folge eng zusammen, so etwa bei dem von der Stadt Wien in Auftrag gegebenen Winarskyhof in Wien-Brigittenau. Zum anderen trat er erstmals als Architekt großer Siedlungen in Erscheinung. Gemeinsam mit seinem langjährigen Weggefährten Franz Schacherl baute er etwa in Wien-Favoriten die Siedlung am Wasserturm, die in vielerlei Hinsicht auf die Siemensstraße vorauswies.

Errichtet in etwas randständiger Lage in der Nähe eines großen Industrieareals – der Wienerberger Ziegelfabrik –, entstanden ab 1923 auf einem sehr schmalen und lang gestreckten Gelände knapp 200 Reihenhäuser, die nach klar definierten Grundrisstypen ausgeführt wurden. Die Nutzfläche der Häuser war bescheiden, doch durch die für Schuster typische „Präzision im Detail“ entstand eine Siedlung von ungewöhnlich hoher Wohnqualität, die durch großzügig angelegte Grünflächen sogar noch eine Steigerung erfuhr.

1927 verließ Schuster Wien und ging wieder nach Deutschland, diesmal nach Frankfurt am Main, damals ein Zentrum der europäischen Moderne. Als Mitarbeiter von Ernst May, dem ebenso charismatischen wie durchsetzungsstarken Baudezernenten und Spiritus Rector des „Neuen Frankfurt“, war Schuster in die Ausführung sowohl der Siedlung Römerstadt als auch der Siedlung Westhausen involviert.

Das Prinzip der Duplexwohnungen

Besonders diese Anlage war für Schusters weitere Entwicklung relevant, weil im Zuge ihrer Planungen lange Diskussionen über die Mindestgröße von Wohneinheiten geführt wurden. Angesichts der sich in den späten 1920er Jahren verschärfenden Wirtschaftskrise und der daraus resultierenden Wohnungsnot beschloss Ernst May, fortan sogenannte „Übergangskleinstwohnungen“ mit jeweils nur 40 Quadratmetern zu errichten, die bei verbesserter Wirtschaftslage – so Mays Hoffnung – auf eine normale Größe zusammengelegt werden sollten. Hier, in diesen Diskussionen, liegt der Ursprung des Duplexsystems, das Schuster nach 1945 in der Anlage „Am Schöpfwerk“ sowie v. a. in der Siedlung Siemensstraße zur Anwendung brachte. Die Grundidee des Duplex-Systems bestand darin, Wohnungen so zu planen, dass sie im Bedarfsfall mit geringem technischem Aufwand zusammengelegt werden konnten. Aus zwei Kleinwohnungen sollte auf diese Weise eine sogenannte Normalwohnung entstehen. Voraussetzung hierfür freilich war, dass die nebenliegende Wohneinheit leer stand, die Nachbarn also auszogen. Das aber geschah im Wien der unmittelbaren Nachkriegszeit nur selten, weshalb es tatsächlich oft Jahre dauerte, bis es zur versprochenen Wohnraumvergrößerung kam. 

Die 1920er- und frühen 1930er Jahre weisen Schuster aber nicht nur als Architekten von Siedlungen und großen Wohnhausanlagen aus. Er war auch Mitherausgeber und Schriftleiter der einflussreichen Zeitschrift „Der Aufbau“; er unterrichtete als Lehrer an der Frankfurter Kunstgewerbeschule („Städelschule“); er war als Designer tätig und entwickelte die sogenannten Aufbaumöbel, die durch die Kombination von nur vier Grundelementen die Zusammenstellung von über 100 Möbeln zuließen; er war als Planer zahlreicher Kultur- und Freizeiteinrichtungen tätig; und nicht zuletzt legte er seinen Arbeitsschwerpunkt zunehmend auch auf den Bereich des Kindergarten- und Schulbaus.

„Eine eigene kleine Welt der Kinder“

Als ein frühes Hauptwerk gilt der 1929 bis 1931 errichtete Kindergarten am Rudolfsplatz in Wien Innere Stadt („Haus der Kinder“). Mit diesem Gebäude, das gemäß den Grundsätzen der Montessori-Pädagogik ausgeführt wurde, sollte nach Schusters Bekunden ein „einfacher, anspruchsloser Rahmen für eine eigene kleine Welt der Kinder“ geschaffen werden. So bescheiden dieser Anspruch klingt, so revolutionär war die Durchführung. Denn mit äußerster Konsequenz passte Schuster die Architektur des Hauses sowie dessen Einrichtung ganz den geistigen und körperlichen Bedürfnissen der Kindergartenkinder an. Noch bevor der Bau vollendet war, berichtete die Presse schon ausführlich darüber, feierte ihn als „neues Kinderparadies“ („Der Abend“, 11. August 1930) und hob insbesondere den Einfall hervor, die Türschnallen und Klingeln, die Toiletten und Stufen, ja sogar die Räume entsprechend der Körpergröße der Kinder zu gestalten.

Das kindgerechte Bauen blieb auch weiterhin eine der Kernaufgaben Schusters. Immer wieder wurde er in der Folge als Architekt von Kindergärten und Schulen engagiert, und immer ging es ihm darum, für die kindlichen Lebenswelten angemessene bauliche Lösungen zu finden. Deutlich wurde dies etwa in der Volksschule Frankfurt-Niederursel, in der jede Klasse Licht von zwei Seiten erhielt (ein Gedanke, der später auch in das Planungskonzept des Kindergartens in der Siemensstraße einfloss) und wo offene Laubengänge mit breiter Überdachung dafür sorgten, dass sich die Schüler:innen auch bei schlechtem Wetter im Freien bewegen konnten.

Wie sehr solche Konzepte die Arbeit Schusters auch noch in der Nachkriegszeit bestimmten, zeigt sich an mehreren Bauten in Deutschland, mit denen er seinen Ruf als europaweit anerkannter Experte für Bildungs- und Betreuungseinrichtungen festigte. Zu nennen ist insbesondere die Kinderwelt in Darmstadt (1951–1960), bei der die Presse Schusters Fähigkeit lobte, sich in die kindliche Psyche einzufühlen.

Ähnliches gilt für das Schulzentrum Nordweststadt (heute: Ernst-Reuter-Schule, 1963–1967) in Frankfurt am Main, wo ein reformpädagogisches Konzept verfolgt wurde und Schuster nicht nur einen Lehrweg mit heimischen und exotischen Pflanzen anlegte, sondern auch Spiel- und Pausenplätze, einen Fahrradraum, einen Sportbereich, ein Lehrschwimmbecken und sogar eine Sternbeobachtungsstation plante. Viele dieser Ideen, die Schuster oft auch schriftlich niederlegte und unter anderem 1960 auf der Triennale in Mailand (Motto: „La Casa e la Scuola“) öffentlich präsentierte, wurden in den Nachkriegsjahren als neu und revolutionär wahrgenommen. Ihre Anfänge liegen jedoch in der Vorkriegszeit, namentlich im „Roten Wien“, womit deutlich wird, dass zumindest in diesem Bereich eine eindeutige Kontinuität von der Ersten in die Zweite Republik gegeben ist.

In den Jahren des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus lag Schusters Haupttätigkeit im Bereich der Lehre. Bis 1945 unterrichtete er in Wien rund 100 Studierende, darunter viele Frauen. Zu erinnern ist etwa an Maria Tölzer, die den Kindergarten in der Per-Albin-Hansson-Siedlung (1951) plante, oder auch an Eugenie Pippal-Kottnig, die einige Jahre als Schusters Assistentin tätig war und 1959 bis 1963 am Bau des Schrödingerhofs nahe der Siedlung am Wasserturm mitwirkte.

Schusters Verhältnis zur politischen Führung in der Zeit von 1933 bis 1945 ist nicht restlos geklärt. Von Margarete Schütte-Lihotzky wurde er als ein im Grunde unpolitischer Mensch beschrieben, doch unzweifelhaft wusste er sich mit den jeweiligen Machthabern zu arrangieren. Dadurch war es ihm möglich, seinen beruflichen Weg auch in Kriegstagen unbeirrt fortzusetzen. 1941 baute er Arbeiterwohnhäuser in Ödenburg/Sopron und im Jahr darauf die sogenannte Volkswohnanlage am Harthof im Norden Münchens, in der Arbeiter:innen der deutschen Rüstungsindustrie untergebracht waren. In Wien entstanden nach seinen Plänen ab 1943 Ersatzwohnungen für Bombengeschädigte. Diese Behelfsheime trugen den Namen „Wiener Type“ und waren so konstruiert, dass sie später zusammengelegt werden konnten.

Nach dem Krieg, als Wien ganz im Zeichen des Wiederaufbaus stand, war die tatkräftige Unterstützung Schusters sehr willkommen. In seiner Funktion als Mitglied des Technischen Beirats für den Wiederaufbau (ab Februar 1946) bzw. als Konsulent für städtebauliche und architektonische Fragen (ab August 1946) stand er dem Stadtbauamt mit Rat und Tat zur Seite. Seine Aufgabe bestand unter anderem darin, am Konzept eines Generalbebauungsplans mitzuwirken sowie „den Weg für eine neue und zeitgemäße Baukultur zu ebnen“ („Der Aufbau“ 1, August 1946). Neben seiner beratenden Tätigkeit war er aber auch wieder als ausführender Architekt aktiv. „Wegen seiner reichen Erfahrung, seines fachlichen Könnens und seiner ernsten Arbeitsweise“ wurde er in Wien mit einigen der anspruchsvollsten Bauaufgaben betraut.

Bauen für besondere Bedürfnisse

Das betraf zunächst den Sonderkindergarten „Schweizer Spende“ (1948/49) in Wien-Penzing, der als gesundheitspolitisches Vorzeigeprojekt der Nachkriegszeit gilt und international große Beachtung fand. Einmal mehr stellte Schuster dort seine Fähigkeit unter Beweis, mit neuen und oft überraschenden Ideen auf die besonderen Bedürfnisse von Kindern einzugehen.

Deutlich wurde dies etwa an seinem Entwurf eines Therapiebeckens mit Glaswand und Unterwasserbeleuchtung, das die Möglichkeit bot, Kinder mit eingeschränkter Mobilität genauer zu beobachten und medizinisch somit besser zu betreuen. Besonders innovativ war aber auch das Gebäude selbst, das eine auffallende Krümmung der Baulinie aufweist. Durch diese wurde in den jeweiligen Gruppenräumen die bestmögliche Lichtsituation erzielt, und da beim Ausblick in den sogenannten Spielgarten das Nebengebäude nicht sichtbar ist, entstand bei jedem Kind das Gefühl, „in seinem kleinen Heim zu sein und nicht in einer großen Anstalt zu wohnen“ („Der Aufbau“, Bd. 23, 1954). Das Ausschwenken der Fassade, das der gesamten Anlage eine kontrolliert-dynamische Note verleiht, war ursprünglich auch für den Kindergarten in der Siemensstraße vorgesehen. Im Zuge mehrerer Planänderungen hat Schuster die Krümmung jedoch deutlich reduziert, sodass sie heute kaum noch erkennbar ist.

Projekt Per-Albin-Hansson-Siedlung

Ähnlich ambitioniert wie der Sonderkindergarten war auch die Per-Albin-Hansson-Siedlung in Wien-Favoriten, die Schuster von 1947 bis 1951 und 1954/55 gemeinsam mit Friedrich Pangratz, Stephan Simony und Eugen Wörle errichtete. Sowohl in bautechnischer Hinsicht (die Herausforderung bestand darin, mit kaum vorhandenem bzw. nur minderwertigem Baumaterial das Auskommen zu finden) als auch in puncto Größe und Ausstattung (die Siedlung verfügte über einen Kaufladen, eine Arztpraxis, eine Volksschule, einen Kindergarten sowie ein Volksheim) wurde ein städtebauliches Experiment gewagt, das derart erfolgreich verlief, dass es schon bald eine Fortsetzung fand.

Noch während die Per-Albin-Hansson-Siedlung in Bau war, beschloss die Gemeinde, auf das Großprojekt im Süden Wiens mit einem ebensolchen im Norden zu antworten. Im Mai 1950 präsentierte Schuster der Öffentlichkeit die ersten Entwürfe seiner neuen Siedlung „Wohnanlage Siemensstraße-Justgasse (Wankläcker)“, im Juni desselben Jahres begannen die Aushubarbeiten, und am 4. August erfolgte die Grundsteinlegung.

Entsprechend dem Namen des Programms wurde die Siedlung tatsächlich schnell gebaut. Bereits Ende Oktober 1950 war der Rohbau der Häuser fertig gestellt, und weil auf dem Gelände zwischen Brünner Straße und Ruthnergasse ausreichend Platz vorhanden war, fiel sehr bald die Entscheidung, das Wohnprojekt zu erweitern. In insgesamt vier Bauabschnitten wurden mehr als 1.700 Wohnungen errichtet. Dabei kam es zu kleineren Planänderungen. Von einer ursprünglich vorgesehenen Mutterberatungsstelle nahm man ebenso Abstand wie vom Bau einer Schule, die neben dem Kindergarten geplant war. Stattdessen wurde die Wien-weit erste „Heimstätte für alte Menschen“ errichtet – eine völlig neue Aufgabe, die Schuster gewohnt souverän erledigte und somit den Beweis erbrachte, dass er auf den ehemaligen Wankläckern nicht nur an das Wohl der Jungfamilien und Kinder gedacht hatte, sondern auch an die ältere Generation.

Was indes nicht geändert wurde, woran Schuster vom ersten Entwurf an festhielt und was ihm offenbar überaus wichtig war, das war der Standort des Kindergartens. Dieser befindet sich genau in der Mitte der Siedlung, er ist ihr pulsierendes Zentrum und buchstäblich das Herz der Anlage.  

Als am Vormittag des 27. April 1957 der Kindergarten im Beisein zahlreicher Bezirkspolitiker:innen, führender Mitglieder der Wiener Stadtregierung sowie Abgeordneter des österreichischen Parlaments feierlich eröffnet wurde, bedeutete dies den Abschluss der Bauarbeiten an der Siedlung Siemensstraße. Die Anlage war nun fertig. Sie sollte Franz Schusters letzte große Arbeit auf Wiener Boden bleiben.

Dieser Text ist die gekürzte Fassung eines Beitrags aus dem Buch „Wohngeschichten aus den 1950er/60er Jahren. Die Siedlung Siemensstraße in Wien- Floridsdorf“, das anlässlich der Ausstellung „Terra Nova. 70 Jahre Siedlung Siemensstraße in Floridsdorf“ 2020 erschienen ist. Die Publikation ist im Online Shop des Wien Museums erhältlich. Zur Ausstellung gibt´s einen eigenen Magazin-Beitrag.

 

Literatur und Quellen

Friedrich Achleitner: Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert, Bd. 3.1: Wien 1.–12. Bezirk, Salzburg/ Wien 1990

Dietrich Andernacht: Fordistische Aspekte im Wohnungsbau des Neuen Frankfurt, in: Stiftung Bauhaus Dessau (Hg.): Zukunft aus Amerika. Fordismus in der Zwischenkriegszeit, Dessau 1995

Rudolf J. Boeck: Sanierung der Gesellschaft und Stadt durch soziales Bauen, in: Stadtbauamt der Stadt Wien (Hg.): Der soziale Wohnungsbau der Stadt Wien (Der Aufbau, Bd. 39), Wien 1960

Das neue Frankfurt: internationale Monatsschrift für die Probleme kultureller Neugestaltung 3 (1929) 3

Bärbel Herbig: Die Darmstädter Meisterbauten. Ein Beitrag zur Architektur der 50er Jahre, Darmstadt 2000

Hochschule für angewandte Kunst (Hg.): Franz Schuster 1892–1972, Wien 1976

Ingrid Holzschuh: Wiener Stadtplanung im Nationalsozialismus von 1938 bis 1942. Das Neugestaltungsprojekt von Architekt Hanns Dustmann, Wien/Köln/Weimar 2011

Astrid Mair: Die Siedlung am Wasserturm, Dipl.-Arb. Techn. Univ. Wien 2015

Ernst May: Fünf Jahre Wohnungsbautätigkeit in Frankfurt am Main, in: Das neue Frankfurt: internationale Monatsschrift für die Probleme kultureller Neugestaltung 4 (1930) 2/3

Ines Perlinger: Franz Schuster. Siedlungsbau der Nachkriegszeit in Wien 1945–1960, Dipl.-Arb. Univ. Wien 2016

Gottfried Pirhofer, Kurt Stimmer: Pläne für Wien. Theorie und Praxis der Wiener Stadtplanung von 1945 bis 2005, Wien 2007

Friedrich Schlossberg: Architekt Professor Franz Schuster Konsulent der Stadt Wien, in: Der Aufbau 1 (August 1946)

Franz Schuster: Das soziale Schnellbauprogramm, in: Der Aufbau 5 (Mai 1950)

Franz Schuster: Der Stil unserer Zeit, Wien 1948

Franz Schuster: Eine eingerichtete Kleinstwohnung, Frankfurt a. M. 1927

Stadtbauamt der Stadt Wien (Hg.): Neue Kindergärten der Stadt Wien (Der Aufbau, Bd. 23), Wien 1954

Harald Sterk: Wohnbau zwischen Ideologie, Politik und Wirtschaft, in: Liesbeth Waechter-Böhm (Hg.): Wien 1945 davor/danach, Wien 1985

Andreas Suttner: Das schwarze Wien. Bautätigkeit im Ständestaat 1934–1938, Wien/Köln/ Weimar 2017

Ingeburg Weinberger: NS-Siedlungen in Wien. Projekte, Realisierungen, Ideologietransfer, Wien/Berlin 2015

Walter Zschokke: Wohnhausanlage Siemensstraße in Wien-Floridsdorf. Gutachten im Auftrag der Magistratsabteilung 19, Wien 1995 (unveröffentlicht)

Georg Vasold, Kunsthistoriker; Studium in Wien und Utrecht; Forschungen zur Kunsttheorie in der Wiener Moderne sowie zur Kunst der 1950er Jahre; Lehrtätigkeit an der Universität Wien, der Freien Universität Berlin, der Universität Innsbruck sowie der Universität für angewandte Kunst Wien; Co-Kurator u.a. der Ausstellungen „1848 – Die vergessene Revolution“ (Wien 2018), sowie zuletzt „Terra Nova – 70 Jahre Siedlung Siemensstraße in Floridsdorf“ (Wien 2020)

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