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Sándor Békési, 23.1.2024

Der Karlsplatz um 1900

Rückblick auf eine urbane Gegend

Von der Terrasse des umgebauten Wien Museums eröffnet sich ein neuer und kostenloser Blick auf die Stadt. Für viele wird von hier aus die „unklare Gegend“ namens Karlsplatz erstmals visuell halbwegs erfahrbar. Ein Anlaß, historisch nachzuzeichnen, wie diese Raumfigur einst Gestalt anzunehmen begann.

Die Frage, wo der Karlsplatz beginnt, und wo er endet, ist auch heute nicht ganz einfach zu beantworten. Praktisch haben wir es hier mit mehreren Plätzen zu tun: Die offizielle Bezeichnung Karlsplatz wird zwar für das Areal zwischen Kunsthalle und Karlskirche verwendet, Hausnummern am Karlsplatz gibt es aber nur im Bereich östlich der Wiedner Hauptstraße, endend mit Nr. 14 Evangelische Schule. Während der Platz im Osten mit dem Gebäude des Wien Museums klar seinen Abschluss zu haben scheint, franst er nach Westen aus: Die Kunsthalle Wien Karlsplatz befindet sich adressmäßig genau genommen nicht mehr am Karlsplatz, sondern in der Treitlstraße, die vermutlich nur wenige in Wien kennen werden. Seine westliche Platzwand oder bauliche Abgrenzung hat der Karlsplatz eigentlich an der Friedrichstraße und beim Gebäude des Verkehrsbüros bzw. der Secession.

Auch seine Dimension und langgestreckte Form wirft die Frage auf, ob der Karlsplatz stadtmorphologisch eher ein Platz oder doch eine breite Straße sei. Jedenfalls zählt er neben dem Praterstern und dem Rathausplatz zu den größten Plätzen Wiens. Und er existiert im Wesentlichen, sowohl vom Namen als auch von seiner physischen Struktur her, erst seit etwa 120 Jahren – selbst wenn er in mancher Hinsicht bis heute noch nicht „fertig“ ist.

Wie wird Fläche zum Platz?

Eine größere geschlossene Stadtfläche entstand hier zunächst mit der Eindeckung der Wien Ende der 1890er Jahre. Der bis dahin weitgehend unregulierte Fluß, der den Stadtraum hier zerschnitt und nur über wenige Brücken zu passieren war, stellte zunehmend ein Hindernis für die Weiterführung der Ringstraßenzone dar. Die Regulierung des Wienflusses in dieser Form war somit die infrastrukturelle Voraussetzung für die Entstehung einer großzügigen Platzanlage. Die zweite infrastrukturelle Neuerung, die großen Einfluß auf die Nutzung und Gestaltung des Platzes hatte, war die Stadtbahn. Mit der 1899 eröffneten Wientallinie hielt eine neue Stufe der Mobilisierung und Beschleunigung des Verkehrs am Karlsplatz Einzug, ergänzt durch mehrere oberirdische, neu elektrifizierte Straßenbahnlinien.

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Doch die dampfbetriebene Stadtbahn schränkte gleichzeitig die Platzfunktionen und die Durchlässigkeit des Raumes ein. Die beiden hintereinander angelegten Stadtbahnstationen mit ihren offenen Einschnitten schufen eine neue Barriere von insgesamt rund 200 Metern Länge. Physisch blieb auf diese Weise etwas von der Raumfigur und von der trennenden Wirkung des Flusstales erhalten; metaphorisch trugen die an- und abfahrenden Züge der Stadtbahn das Moment des Fließens anstelle des in den Untergrund verbannten Wassers weiter. Der Karlsplatz war also auch nach Einwölbung des Wienflusses keineswegs zur Gänze geschlossen. Hinzu kam die Problematik der Platzwände und der unklaren baulichen Abgrenzung. Nichtsdestotrotz sprach man schon länger vom „Platz vor der Karlskirche“ oder gar „Karlskirchenplatz“, selbst wenn man das Areal erst 1899 auch offiziell „Karlsplatz“ taufte.

Der imaginierte Karlsplatz

Der Karlsplatz um 1900 war nicht das Ergebnis einer umfassenden Planung, er entstand aber auch nicht als bloßes Nebenprodukt von Flussregulierung und Stadtbahnbau. Städtebauliche Überlegungen spielten bei seiner Entstehung von Anfang an eine wichtige Rolle. Im genehmigten Plan für die Stadterweiterung im Rahmen des Ringstraßenwettbewerbs war das Gebiet noch als Teil einer weitläufigen Parkzone vorgesehen, die bis zum Hauptzollamt reichte. Doch bereits 1882 skizzierte das Stadtbauamt den künftigen Karlsplatz als „formidablen Abschluß“ der Ringstraßenzone durch „Schaffung eines großen freien, den Verhältnissen der Kirche und des polytechnischen Institutes (heute TU Wien, Anm. SB) angepaßten Platzes“. All dies blieb auch im Generalregulierungsplan von 1892 ein wichtiges Anliegen.

Die Entstehung des Karlsplatzes ist nicht zuletzt eng mit einem lange gehegten, aber letztlich nicht realisierten Großprojekt verbunden: dem einer repräsentativen Wientalstraße. Die Idee einer Prachtstraße entlang der Wien war seit den 1870er Jahren unter den Bezeichnungen „Schönbrunner oder Wien-Boulevard“, „Kaiserin Elisabeth-Avenue“ oder „Wienzeile“ lanciert worden. Otto Wagner, von Anfang an ein Proponent dieses neuen Straßenzuges, verglich in seinem Wettbewerbsentwurf für den Generalregulierungsplan die künftige Wienzeile mit den „Linden“ in Berlin und erwartete hier „einen grossen Corso“ mit Laubengängen und „eine der schönsten und kurzweiligsten Promenaden der Residenz“.

In der Folge plante Karl Mayreder, Leiter des Generalregulierungsbüros, eine „Wienzeile von Schönbrunn bis zum Stadtpark“, die lediglich im Bereich des Karlsplatzes durch zwei Plätze erweitert werden sollte. Ihm schwebte hier die Einheit einer „großartigen Straßen- und Parkanlage“ vor. So sah auch Otto Wagner in seinem ersten Entwurf zum Generalregulierungsplan – ähnlich wie einige andere Preisträger – noch neue Häuserblöcke vor dem Künstlerhaus sowie die Ausweisung eines eigenen „Karlskirchenplatzes“ vor. Der restliche Karlsplatz wäre dadurch wohl um einiges kleiner bzw. schmaler ausgefallen und hätte noch mehr den Charakter einer breiten Straße angenommen. Doch der Wien-Boulevard blieb eine Chimäre, aus den hochfliegenden Plänen wurde, wie wir wissen, nichts. Und die Strecke zwischen Karlsplatz und Stadtpark ist gewissermaßen ein Torso davon.

In seiner letzten Variante bezog Wagner bereits auch das Gebiet westlich der Wiedner Hauptstraße in den Karlsplatz mit ein und versuchte, hier einen modernen Großstadtplatz zu realisieren. Tatsächlich blieb der Platzbereich vor dem Freihaus bis nach dem Ersten Weltkrieg unverändert, sieht man von der sukzessiven Absiedlung des Naschmarkts ab. Der „Platzabschluß“ zur Wienzeile entstand mit dem (provisorisch gedachten) Gebäude des Österreichischen Verkehrsbüros. In östlicher Richtung errichtete man ab 1903 den Häuserblock an der Lothringerstraße zwischen Maderstraße und Schwarzenbergplatz und damit erst einen Platzabschluß. Zuvor war der Karlsplatz zum Stadtpark hin offen, auch das Konzerthaus gab es noch nicht, und so glich er eher einer breiten Straße denn einem Platz. Stadtseitig hingegen entstand die Platzwand bis zur Secession (1898) bereits im Jahrzehnt 1860-70, hier begann praktisch die Ringstraßenverbauung. Um 1902 wurde schließlich die Parkanlage beim Ressel-Denkmal erweitert und der Vorplatz der Karlskirche neu gestaltet. Im Hinblick auf die stadträumliche Gliederung des Areals blieb die visuelle Anbindung der Karlskirche an die Ringstraße weiterhin ein Desiderat.

Wagners „Karlsplatz-Gegend“ als Urban Legend?

Zahlreiche Architekt:innen haben sich im Laufe der Zeit – mehr oder weniger erfolgreich – mit der Neugestaltung dieses städtischen Raumes beschäftigt, doch vor allem ist der Name Otto Wagner mit dem Karlsplatz verbunden. Wohlbekannt sind seine Entwürfe für ein neues Stadtmuseum und das Scheitern dieses Projekts. So ist es nicht verwunderlich, wenn ihm der Ausspruch „Der Karlsplatz ist kein Platz, sondern eine Gegend“ zugeschrieben wird bzw. der meistzitierte Satz über den Karlsplatz ist, der heute in kaum einem Zeitungsartikel über diesen Stadtraum fehlen darf. In der Tat hat sich Wagner wiederholt kritisch zum städtebaulichen Zustand dieses Stadtraums geäußert: So könne „der Karlsplatz in seinem heutigen Bestande gar nicht als Platz bezeichnet werden“, meinte er etwa 1910. Ob er die Analogie mit einer „Gegend“ allerdings wörtlich und im negativen Sinn verwendet hat, ist fraglich.

Belegt ist sie dafür beim Architekten Josef Hudetz, der in seinem Regulierungsvorschlag für die Umgebung der Karlskirche aus dem Jahr 1903 schrieb: „Der Karlsplatz, wie er nach dem städtischen Projekte geplant ist, trägt gar nicht das Zeichen eines Platzes an sich, er muß schon mehr als ‚Gegend‘ bezeichnet werden, auf welcher sich die Karlskirche entschieden verliert.“ Bis um 1910 verselbständigte sich der Spruch in der uns bekannten Kurzform, entweder anonym zitiert oder einem namentlich nicht genannten „Mäzen“ und „Kunstfreund“ zugeschrieben oder gar explizit auf den einschlägig bekannten Graf Lanckoronski zurückgeführt…

Jedenfalls hätte ein repräsentatives Stadtmuseum an der Südostflanke des Karlsplatzes diesen Platz schon um 1910 ein Stück mehr vollendet. Bekanntlich dauerte es – abgesehen von einer provisorischen Kaufhalle in der Zwischenkriegszeit – noch ein halbes Jahrhundert, ehe das von Oswald Haerdtl entworfene Museum an dieser Stelle Ende der 1950er Jahre errichtet wurde.

Straße oder Platz?

Die Ambivalenz der Raumfigur Karlsplatz war geblieben. Der Schriftsteller Rudolf Oertel bemerkte 1947 in seinem utopischen Zukunftsbild für Wien „Die schönste Stadt der Welt“, dass der Karlsplatz eigentlich eine Fiktion sei. „Die Kirche steht auf keinem Platz, sondern an der Biegung einer Straße. Weil man diese Tatsache übersehen hat, sind alle Lösungen gescheitert.“

Plätze entstehen häufig an der Schnittstelle von Straßen und Verkehrswegen. Dergestalt entsteht zwangsläufig auch eine Konkurrenz zwischen den stadträumlichen Funktionen ‚Straße‘ und ‚Platz‘, oder mit anderen Worten, zwischen Durchfahrt und Aufenthalt. In unserem Fall tritt dies besonders deutlich zutage. Die Straßenfunktion war ja neben dem Kirchenvorplatz ausschlaggebend für die Entstehung des Karlsplatzes und bestimmt seither seine Gestaltung, Nutzung und Wahrnehmung wesentlich mit. Hier treffen bis heute zentrale Verkehrsströme der Stadt aufeinander. Traditionell dominierte die wichtige Achse Kärntner Straße und Wiedner Hauptstraße, bis nach dem Ersten Weltkrieg die West-Ost-Achse bzw. jene Tangentialstraße, die hier durch das Zusammentreffen von Lastenstraße (Zweierlinie) und Wientalstraße gebildet wird, immer mehr an Bedeutung gewann.

So entwickelte sich der Karlsplatz nach 1945 zunächst zu einem monofunktionalen Verkehrsplatz, den man zunehmend (im Auto) durchquerte oder als Abstellplatz (für Autos, so etwa auch unmittelbar vor der Karlskirche) verwendete. Und diese Entwicklung war keineswegs von innovativen verkehrsplanerischen Maßnahmen begleitet. Während in anderen Großstädten wie Paris oder Berlin schon kurz nach 1900 große Kreisverkehrssysteme und Fußgängerunterführungen angedacht und zum Teil auch realisiert worden waren, dauerte es am Karlsplatz bis in die 1970er Jahre. Damals nutzte man den U-Bahn-Bau als Gelegenheit für eine (zweite) großflächige Umgestaltung und Neuordnung des Areals, wenn wir von den umgebenden Gebäuden absehen. Im Sinne einer funktionalistischen und autogerechten Stadtplanung wurde der Karlsplatz in zwei getrennte und homogene Bereiche aufgeteilt, in eine Verkehrszone und in eine neu konzipierte, vergrößerte Parkanlage. Damit begann hier – trotz der sechsspurigen Straße – gleichzeitig und für Wiener Verhältnisse recht früh der Rückbau von Straßen und die Rückeroberung des öffentlichen Raums. Die Mobilität prägt zwar bis heute die kollektive Wahrnehmung dieses Stadtraums („Verkehrshölle Karlsplatz“), doch in Wirklichkeit ist dieser multifunktional und vielschichtig wie kaum ein anderer in Wien.

Wie wir gesehen haben, war der Karlsplatz schon ursprünglich als ein Nebeneinander mehrerer Plätze bzw. als eine Verbindung von Platz und Straße konzipiert. Formal entspricht er am ehesten dem Typus einer Platzfolge/Platzkette (Knisch) oder einem Gelenkplatz zwischen großen Straßen (Curdes). Seine Bespielung und seine Funktionen, die sich räumlich und zeitlich überlagern können, waren und sind vielfältig: Verkehrsplatz, Kirchplatz, Grünanlage, Kulturplatz, Marktplatz, Aktions- und Veranstaltungsort, Spielplatz und so weiter. Dabei mögen sich die sozio-ökonomischen Verhältnisse und die Beziehung von Öffentlichkeit und Privatheit und damit der jeweilige Kontext der Platznutzung durchaus verändert haben.

Der Karlsplatz spiegelt in seiner Gesamtheit die Architekturformen vom Barock bis zur Postmoderne (Bibliothek der TU ab 1987) sowie die jeweiligen städtebaulichen Leitbilder anschaulich wider. Er mag bis heute in einem gewissen Sinn nicht vollendet sein, hat nicht überall klare Grenzen und beherbergt so manches (Langzeit)Provisorium. Aber gerade sein unfertiger, oder anders formuliert, relativ offener Platzcharakter ist eines seiner Potenziale: So ermöglicht der Karlsplatz – zumal in zentraler Lage – immer wieder Neues und lädt zum Experimentieren ein.

 

Literatur und Quellen:

Gerhard Curdes: Stadtstruktur und Stadtgestaltung, 2. Aufl., Stuttgart – Berlin – Köln 1997.

Elke Doppler, Christian Rapp, Sándor Békési (Hg.): Am Puls der Stadt: 2000 Jahre Karlsplatz (Ausstellungskatalog Wien Museum), Wien 2008

Josef Hudetz: Neue Lösung für die Regulirung der Umgebung der Karlskirche mit Bezug auf Verlegung der Technischen Hochschule; mit Situations-Plan und Erläuterungs-Skizze, Wien 1903

Jürgen Knirsch: Stadtplätze. Architektur und Freiraumplanung, Leinfelden 2004.

Karl Mayreder: Das Project der „Wienzeile“ von Schönbrunn bis zum Stadtparke als Theil des Generalregulirungsplanes von Wien, in: Zeitschrift des Österreichischen Ingenieur­ und Architekten­Vereines, XLVII (1895) 26.

Maik Novotny: Das neue Wien-Museum am Karlsplatz: Muskelspiel im zarten Kleid, in: Der Standard, online, 2. Dezember 2023

Stadtbauamt Wien: Projekt für die Wienfluß-­Regulirung in Verbindung mit der Stadtbahnfrage, Wien 1882

Otto Wagner:  Erläuterungs­Bericht  zum Entwurfe für den General-­Regulirungs-­Plan über das gesammte Gemeindegebiet von Wien, Wien 1894

Otto Wagner: Epilog zur Karlsplatzfrage, in: Neue Freie Presse, 9. 2. 1910, S. 1-3

Sándor Békési studierte Geschichte, Geographie sowie Wissenschaftstheorie und -forschung in Wien und ist seit 2004 Kurator am Wien Museum im Sammlungsbereich Stadtentwicklung und Topografie. Zahlreiche Publikationen und Forschungsarbeiten zum Thema Stadt-, Umwelt- und Verkehrsgeschichte.

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