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Elke Wikidal, 4.9.2020

Die Jugendkunstklasse des Franz Čižek

Freude am schöpferischen Gestalten

Selbständiges Erarbeiten des Lernstoffes erfordert nicht nur Geduld, sondern auch Kreativität und Experimentierfreudigkeit. Vor etwa hundert Jahren waren individuelles, aber auch gemeinschaftliches kreatives Arbeiten und schöpferisches Gestalten zentrale Anliegen des Wiener Kunstpädagogen Franz Čižek (1865-1946).

Das Wien Museum verfügt über einen umfangreichen Bestand an Arbeiten der Schüler_innen und Student_innen von Franz Čižek. Vor allem die große Zahl an Kinderzeichnungen und Fotografien belegen seine jahrzehntelange engagierte Tätigkeit im Bereich der Kunsterziehung.

Bereits um 1900 entwickelte der aus dem böhmischen Leitmeritz stammende Wiener Maler und Kunsterzieher Franz Čižek neue pädagogische Methoden. Er setzte sich im Kunstunterricht für freie Pinselübungen der Kinder ein, was im diametralen Gegensatz zu den herkömmlichen Unterrichtsprinzipien stand, deren primäres Ziel das Erlernen des exakten Kopierens und Abzeichnens von Vorlagen war.  Viele Zeichenlehrer sahen in der „Pinselmethode“ Čižeks nicht mehr als unordentliche Klecksereien. Dennoch fanden die Arbeitsmethoden Čižeks bald allgemeine Anerkennung. Mehrere Hundert Briefe belegen die zahlreichen Kontakte zu in- und ausländischen pädagogischen Vereinen und Kunsterzieher_innen.

1906 wurde Čižeks private Mal- und Zeichenschule für Kinder in die Wiener Kunstgewerbeschule eingegliedert und erreichte unter dem Namen Jugendkunstklasse große Bekanntheit. Gleichzeitig lehrte er als Professor der Kunstgewerbeschule „Ornamentale Formenlehre“. In diesem Übungskurs für erwachsene Studierende erwies er sich als Vermittler avantgardistischer Kunst, indem er die aktuellsten Kunstrichtungen des Expressionismus und Kubismus aktiv aufgriff und durch seine Schüler_innen weiterentwickeln ließ. Deren experimentelle Studien waren entscheidend für die Entstehung des Kinetismus, einer Kunstrichtung, in der die Rhythmik von Bewegungsabläufen künstlerisch umgesetzt wurde.

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Insgesamt besuchten an die 1.500 Kinder im Alter von fünf bis 14 Jahren die Jugendkunstklassen, die bis 1937 von Franz Čižek persönlich geleitet wurden, und sorgten für ein sich ständig änderndes Klassengefüge. Manche Kinder blieben jahrelang, andere wieder nur wenige Wochen, viele Schüler_innen kamen aus dem kunstinteressierten Bildungsbürgertum, andere wiederum aus der Arbeiterschicht der Vororte. Künstlerische Begabung galt durchaus als wichtige Voraussetzung für die Aufnahme in die Jugendkunstklasse, aber keineswegs suchte Čižek nach Wunderkindern, sondern entscheidend war ein spontaner und kindgemäßer Ausdruck.

Schöpferische und glückliche Menschen

Čižek verstand seine Lehrtätigkeit als „schöpferischen Arbeitsunterricht“. „Menschen, die schöpferisch gestalten, sind auch glückliche Menschen, so wie die Kinder hier in der Jugendkunstklasse Stunden ungetrübten Glücks erleben“, beschrieb er seine Aufgabe als Kunstpädagoge. In jedem Kind stecke eine künstlerische Persönlichkeit, die ermutigt werden sollte, möglichst individuell und eigenständig zu arbeiten. Die Kinder experimentierten mit unterschiedlichsten Materialien und Techniken, was der Jugendkunstklasse den Charakter eines Laboratoriums verlieh. Ob Zeichnen, Malen, Papierschneide-, Holz- und Gipsarbeiten, Modellieren mit Ton, Emaillieren oder Stickarbeiten - alles konnte erprobt werden. „Ich gehe gern in die Jugendkunstklasse. Da darf man mit Holz arbeiten und Gips schneiden, und zeichnen, mit Farben malen. Und der Herr Professor läßt das Grammophon spielen und wir arbeiten lustig drauf los“, schwärmte ein siebenjähriger Schüler. 

Begeistert berichteten ehemalige Kursteilnehmer_innen von der fröhlichen und unbeschwerten Arbeitsatmosphäre. Den Kindern war es gestattet, sich während des Unterrichts auszutauschen, herumzugehen, und lebendiger Arbeitslärm, Klopfen, Hämmern und Sägen füllten den Raum. Musikbegleitung und Gesang trugen zum oft zitierten „guten Geist“ der Čižek - Schule bei. Čižeks Jugendkunstklasse galt als faszinierender, geheimnisvoller und überraschender Ort, der ganz vom Geist der charismatischen Persönlichkeit des beliebten und bewunderten Professors durchdrungen war.

Insbesondere Kunsterzieher_innen aus dem angloamerikanischen Raum bekundeten großes Interesse an Čižeks Kinderkunst. Unzählige Briefe und Anfragen bezeugen das enorme internationale Echo, das Čižeks innovative Kunsterziehung hervorrief. Gefördert wurde die weltweite Bekanntheit auch durch eine intensive Ausstellungstätigkeit der Kunstklassen. Vor allem die Wanderausstellungen in bedeutenden Museen der USA (1923 bis 1928) erfreuten sich eines regelrechten Publikumsansturms und ließen den Namen Čižek zum Programm werden.

„Das Kind wird entdeckt!“

Dass Kinder nicht mehr nach den Prinzipien der „alten Schule" auswendig gelernte Inhalte wiedergeben, sondern auf Basis eigenen Erfahrens und Erkennens einen kindgerechten Unterricht erleben sollten, bildete die Grundlage einer umfassenden Schulreform des Roten Wien nach dem Ersten Weltkrieg. Diese ist eng verbunden mit den Reformplänen des Sozialdemokraten Otto Glöckel (1874-1935), der fast zwölf Jahre lang, von 1922 bis 1934, als Geschäftsführender Präsident des Wiener Stadtschulrats daran arbeitete. Ausgangspunkt für eine kindgemäße Lebens- und Arbeitsschule war der Alltag der Kinder, deren Freude am Lernen geweckt und Kreativität angeregt werden sollten. Fragen, Forschen, Probieren und selbstständiges Erarbeiten von Lerninhalten wurden zu zentralen Elementen des Unterrichts.

In seiner Schrift „Die österreichische Schulreform“ (1923) formulierte Otto Glöckel im Kapitel „Das Kind wird entdeckt!“ Gedanken zur schulischen Kunsterziehung. Sie lassen deutliche Anregungen von Čižeks Pädagogik erkennen: „Das Kind wird von einem unstillbaren Tätigkeitsdrang beherrscht […]. Der moderne Unterricht gibt den Kindern die Gelegenheit, in möglichst vielfältiger Weise den Tätigkeitstrieb zu zeigen […], daher Zeichnen in Form von Illustrationen des Gesehenen, daher Modellieren, Holz- und Papierarbeiten.“ Im Experimentieren mit unterschiedlichen Materialien fand die handwerkliche Betätigung verstärkt Eingang in den Schulunterricht.

„Wie sieht die Schule aus, in die unsere Kinder gehen?“, fragte Glöckel in seiner 1928 veröffentlichten Schrift „Drillschule-Arbeitsschule-Lernschule“: „Betritt man die moderne Schulklasse, dann bietet sich nicht ein kahler Raum dar, die Wände sind mit Bildern, mit Schülerarbeiten geschmückt, Blumen stehen am Fenster. […] Alles ist getan, um den Kindern den Aufenthalt heimisch zu gestalten.“ Auch hier war es Franz Čižek, der vorbildhaft demonstrierte, wie sich ein Klassenraum in einen Ort des Wohlfühlens und der Gemeinschaft verwandeln ließ. „Wenn man die Klasse betritt und sich umsieht, leuchten einem ihre Wände in prächtigen Farben entgegen. Sie sind von unten bis oben geschmückt mit Arbeiten aller Art. Da sind Bilder, Buntpapierarbeiten, Stickereien, Holzschnitte […] und oft sind auch Blumen da, die die Kinder gebracht haben. Der ganze Raum sieht festlich aus wie in einem Märchenkönigschloß“, erinnerte sich die Schülerin Ilse Breit. Die buntfarbigen Kinderbilder an den Wänden fügten sich gleichsam zu kleinen Ausstellungen, die gemeinsam betrachtet und besprochen wurden. Čižeks Kommentare sollen, so die Erinnerung der Kinder, stets humorvoll, heiter, verständnisvoll und freundlich gewesen sein. 

Dass die Schulklasse zu einem „Ort freudigen Erlebens und Schaffens“ werden konnte, liege, so Glöckel, maßgeblich an der neuen Rolle des Lehrers. Er thront nun nicht mehr auf dem Podium über den Schüler_innen, sondern wirkt mitten unter ihnen: „Nicht der Lehrer gibt den Kindern das Wissen, er leitet seine Schüler an, das Wissensgut selbst zu finden, zu ‚entdecken‘, zu ‚erarbeiten‘“. Das erinnert deutlich an Čižeks Auffassung von der Aufgabe des Lehrers „als unsichtbarer Lenker und Beschützer“. Der Unterricht ist geprägt von einer freundschaftlichen Atmosphäre und von Lehrenden, die unterstützend agieren, aber dabei die Selbsttätigkeit der Kinder möglichst wenig beeinflussen. 

Wien als „pädagogisches Mekka“

Franz Čižek lehnte es ab, sich enger ins Konzept der Wiener Schulreform einbinden zu lassen. Er wollte seine künstlerische Unabhängigkeit nicht aufgeben und sich weder auf eine Methodik festlegen noch in ein größeres Organisationssystem einfügen lassen. Aufgabenstellungen müssten immer individuell gelöst werden, wie es Čižek in späteren Jahren zugespitzt formulierte: „Ich bin Künstler und aus meiner ‚Pflegestätte für das triebhaft Bildende Schaffen der Jugend‘ darf keine Schule werden! Dagegen wehre ich mich sehr! Ich bin kein Pädagog’, sondern: Wecker, Hervorrufer, Anreger und Förderer!“

Trotz mancher Vorbehalte brachte sich Franz Čižek vielfach in die pädagogischen Reformen seiner Zeit ein. Die Kurse standen interessierten Kunsterzieher_innen für Anregungen offen, Volkshochschulen boten Exkursionen in seine Kunstklassen an, und in Lichtbildvorträgen und Publikationen kommunizierte Čižek seine Ideen oder arbeitete aktiv an der Illustration neuer Kinderbücher mit. Entscheidend waren dabei auch die Schüler_innen, die als Kunsterzieher_innen, Illustrator_innen und Pädagog_innen in seinem Sinne wirkten und sein Gedankengut weitervermittelten.

Sowohl die Wiener Schulreform als auch Čižeks Kunstpädagogik erreichten in den 1920er Jahren große internationale Aufmerksamkeit. Wien galt damals für viele Expert_innen als „pädagogisches Mekka“, das an Fortschrittlichkeit die meisten anderen europäischen Städte übertreffen würde.

Der Text ist eine überarbeitete Passage aus: Elke Wikidal: „Aus dem Leben des Kindes für das Leben!“ Franz Cizeks Jugendkunstklasse und die Kunstpädagogik der Wiener Schulreform, in: Ausstellungskatalog Das Rote Wien. 1919 - 1934. Ideen, Debatten, Praxis, hrsg. v. Werner Michael Schwarz, Georg Spitaler und Elke Wikidal, Wien Museum 2019. Erhältlich im Online Shop des Wien Museums.

Elke Wikidal studierte Kunstgeschichte und Geschichte an der Universität Wien. Sie ist seit 2005 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Wien Museum und vorwiegend im Bereich Objektinventarisierung und Recherche in der Grafik- und Fotosammlung tätig.

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